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In einem Hefte der »Neuen deutschen Rundschau« beschrieb ich, wie ich 1846 nach Amerika gehen wollte und das Zimmerhandwerk erlernte, und im »Neue Welt-Kalender« für das Jahr 1899 erzählte ich einiges aus meiner Flucht- und Flüchtlingszeit in dem Jahre 1849/50.* Heute will ich nun ein paar Erinnerungen herausgreifen, die zwischen jenen und diesen liegen.
Doch vorher eine kleine Auseinandersetzung, betreffend eine Stelle in meinem vorjährigen Kalenderartikel. Es ist da die Rede von Moritz Hartmann, und ich spreche von einer »denunziatorischen« Äußerung, die er gegen mich gemacht habe, einer Äußerung, die mit dem Murtener Bundesratsattentat* in Verbindung gebracht werden könnte. Durch das Wort »denunziatorisch« fühlt sich der von mir hochgeachtete Sohn Hartmanns unangenehm berührt; er schrieb mir, daß sein inzwischen längst verstorbener Vater einer Denunziation unfähig gewesen sei, und bat mich, das Wort entweder zurückzunehmen oder[59] zu begründen. Ich schrieb Dr. Hartmann sofort, daß es mir vollkommen ferngelegen habe, seinen Vater einer ehrenrührigen Denk- oder Handlungsweise zu beschuldigen, und daß ich dies im »Vorwärts« und später auch im »Neue Welt-Kalender« erklären werde. Jenes habe ich getan, und dieses tue ich hiermit. Ich habe Hartmann, den Parlamentarier, scharf bekämpft und habe an dem, was ich in dem fraglichen Artikel (»Anno 1849«) gesagt habe, nichts zu ändern, allein Hartmann denunziatorische Absichten zuzutrauen ist mir nicht im Traume eingefallen.
Die Sache ist: Moritz Hartmann war eng befreundet mit Karl Vogt, und Karl Vogt, den ich in meinem Leben nie gesehen habe – obgleich wir aus ein und derselben Stadt gebürtig sind –, hatte auf mich, ich weiß wahrhaftig nicht weshalb, eine ganz besondere Wut. Wie ich genau weiß, hatte er mich in Bern bei Bundesratsmitgliedern, mit denen er bekannt war, als einen höchst gefährlichen Menschen, von dem man des Schlimmsten gewärtig sein müsse und der die Schweizer Neutralität kompromittiere, geschildert. Und unter dem Einfluß dieser denunziatorischen Hetzereien Vogts stand damals Moritz Hartmann, der mich ja gar nicht kannte und keinen Grund hatte, seinem Freunde nicht zu glauben. Vogt, mit dem ich elf Jahre nachher, während des österreichisch-italienischen Krieges von 1859, öffentlich aneinander geriet – siehe »Herr Vogt« von Karl Marx –, verbreitete die albernsten und gemeinsten Verleumdungen über mich und hatte sogar, nach meiner Ausweisung aus der Schweiz, die Schamlosigkeit, mich als agent[60] provocateur (Lockspitzel) der preußischen und der österreichischen Regierung hinzustellen. Und dieses Zeug muß er auch in seiner Familie herumerzählt haben, denn sein Sohn, der ihm eine französische Biographie (in Paris erschienen) widmete, tischt da gar merkwürdiges Zeug über mich auf. Ich war – und das knüpft an die Genfer Periode an – im Solde Österreichs und Preußens; dann, als Bismarck obenauf kam, Söldner Österreichs und der Welfen; und schließlich als sozialistischer Agitator habe ich meinen Geschäftssinn dadurch bewiesen, daß ich mir in Borsdorf bei Leipzig ein großes Landgut mit Schloß angeschafft habe, in dessen Besitz, nebst dem verschiedener Häuser (wohl in Berlin), ich gegenwärtig noch bin.* Ach, wie froh wäre ich, wenn Herr Vogt nicht gelogen hätte und wenn diese Häuser und Schlösser nicht in Spanien oder auf dem Monde lägen. Das Komische dabei ist – und eine drastische Bestätigung des Sprichwortes »Niemand sucht einen hinter dem Ofen, der nicht selber dahinter gesessen hat« –: Der Mann, der mich leichten reichsregentlichen Herzens angeklagt hat, von Regierungen Gelder zu beziehen, hat selber von dem Lumpazius und Kaiser Napoleon III. sich für »der Wissenschaft geleistete Dienste« bezahlen lassen, wie durch eine Quittung, die nach dem Sturze Napoleons nebst anderen »Bettelpatrioten«-Papieren in den Tuilerien gefunden ward, dokumentarisch nachgewiesen ist. Daß ich also Herrn Vogt in meinen 1849er Erinnerungen Unrecht getan habe, wird unter diesen Umständen wohl niemand mir nachsagen können. Daß von dem rechtmäßig verabreichten Rutenstreich auch ein[61] anderer, dem er nicht zugedacht war und der ihn nicht verdiente, wenigstens anscheinend berührt wurde, das tut mir leid. Und hiermit wäre das erledigt.
Aber mein »Schloß« in Borsdorf! Ach, vielleicht schreibe ich einmal seine Geschichte – es war eine Ruine, als ich hinkam, und diese Ruine war das Grab eines gebrochenen Glücks und eines gebrochenen Frauenherzens –, eine Geschichte, so romantisch und mittelalterlich, daß mir manchmal unwillkürlich der Gedanke kam, in irgendeinem weltverlassenen Winkel der Erde zu sein, statt zwei Stunden von Klein-Paris und unter dem Strahlenglanz Bismarckscher Reichsherrlichkeit mit Sozialistengesetz und Kleinem Belagerungszustande. Die unglückliche Erbauerin und Eigentümerin – Eigentümerin, wie neun Zehntel der »freien Bauern« es sind, nämlich Schuld- und Hypothekensklaven – ist in ihrem Eigentum buchstäblich verhungert, während ich auf dem Landtage in Dresden war. Eines Morgens fand man sie tot auf den Lumpen, die ihr als »Bett« dienten, in der krampfhaft geschlossenen rechten Hand einen Pfennig haltend, das Zehrgeld für die Reise ins Jenseits, ein altheidnischer Brauch, den weder das Christentum noch die Kultur, die angeblich alles beleckt, hat beseitigen können. Ich habe die Unglückliche, und in dem Gedanken an den romantischen Jugendtraum doch Glückliche, begraben helfen. Das Ende des Lebens war ihr das Ende des Leidens. Doch nein! Sie hat nicht gelitten. In der bittersten Gegenwart weilte ihr Geist in der hoffnungsreichen Vergangenheit, und bis zum letzten Augenblick hörte sie nicht auf zu hoffen.[62] Denn außer dem Pfennig in der rechten Hand hatte sie in der krampfhaft geschlossenen Linken ein Lotterielos. Und wenn die Ärmste buchstäblich verhungert ist, so nicht, weil sie ganz von Mitteln entblößt gewesen wäre, sondern weil ihr jeder Heller vom Spielteufel abgenommen wurde, dem sie in ihrer Jugend durch einen beträchtlichen Lotteriegewinn in die Klauen geraten war. Was nun aber mein verzaubertes Schloß in Borsdorf angeht, das mir – zum Glück – nicht über dem Kopf zusammengestürzt ist und seit neuerer Zeit ein etwas »respektableres« Äußeres empfangen hat, so kann die freundliche Leserin und auch der Leser, falls sie sich dafür interessieren, es eigenäugig sich ansehen – in dem »Arbeiterführer für Leipzig und Umgegend«, den der Leipziger Genosse Lipinski in eigenem Verlage herausgegeben hat und der viel des Interessanten bietet und seines Titels sich nicht zu schämen hat.
Nun zur Sache.
Mit zwanzig Jahren war ich also »europamüde«. Der »Auszug« auf den (nicht heiligen) Staufenberg hatte mir den Boden meiner Vaterstadt etwas zu heiß gemacht, und trotz meines Abscheues vor Diplomaten und Ministern war ich doch diplomatisch genug, lieber zu gehen als gegangen zu werden. Ich ging im Herbst 1846 nach Marburg, der mir von frühester Jugend an lieben und vertrauten Schwesteruniversität von Gießen.
Wie alle Leute, die den Entschluß gefaßt haben, mit ihrer ganzen Existenz zu brechen und sich aus dem Boden, in dem sie aufgewachsen sind, herauszureißen,[63] war ich ruhelos und voller Galgenhumor. Der Galgenhumor des armen Teufels, der sich auf den Sprung ins Jenseits, oder des Patienten, der sich auf eine schwere chirurgische Operation vorbereitet. Und kann es denn auch eine schwerere Operation geben? Ist das Auswandern nicht eine gewaltige und gewaltsame Operation, die unsere innersten Lebensquellen angreift? Ist das Auswandern nicht wie das Versetzen eines Baumes, und werden bei der Operation nicht tausend Wurzelfasern zerrissen, von denen jede bis in das Herz hineinreicht?
In Marburg ließ ich mich immatrikulieren und studierte anfangs tüchtig. Jedoch der Gedanke, daß mir in Deutschland kein Wirkungskreis offenstehe, verhinderte mich an methodischem Arbeiten, und ich studierte bald nicht mehr für einen bestimmten äußeren Zweck, sondern nur noch für mich selbst. In Berlin war ich bewußter Sozialist geworden, und die sozialen und politischen Probleme beschäftigten mich immer lebhafter.
Von der Erregtheit und Gärung in der Jugend von damals macht man sich heute nicht leicht eine Vorstellung. Die »Akademiker« von heute kommen fast allesamt aus Familien, in denen sie, wie in der Schule, gehört haben, daß Deutschland das freieste, größte und ruhmreichste aller Länder, der Deutsche der gebildetste, ehrlichste, treueste und tapferste aller Menschen, die deutschen Fürsten und Staatsmänner die weisesten, klügsten, besten aller Fürsten und Staatsmänner sind; und die meisten dieser jungen Leute, die außerdem noch meistens der zivilisatorischen[64] Dressur des Kasernenhofs teilhaftig werden, verlieren auf der Universität nicht die Scheuklappen, mit denen sie zu Hause fürsorglich behängt wurden. Und die Scheuklappen – das ist noch das Geringste. Wie sieht's innen aus in Kopf und in Herz? Alle Wahrheit und Mannhaftigkeit planmäßig ausgetrieben, alle Moralbegriffe umgedreht, und statt ehrlicher Geschichte und eines treuen Bildes der politischen Verhältnisse und Einrichtungen ein wüstes Durcheinander schamloser Lügen und Schönklecksereien. Ein Byzantinismus, so hysterisch übertrieben, daß die servilsten Höflinge des alten Byzanz sich zerknirscht für Stümper erklären müßten, die niederträchtigste Bedientenhaftigkeit als höchste Betätigung staatsbürgerlichen Sinnes und wahrer Männlichkeit hingestellt – sogar das Denunziantentum zur Bürgertugend gestempelt, so daß wohlerzogene Söhne gebildeter Familien es für Pflicht der Offiziers- und Studentenehre erachten, im Familienkreis gefallene Äußerungen, die nicht mit dem »Ehrenkodex« der herrschenden Servilität im Einklange sind, der Staatsanwaltschaft anzuzeigen.
Pfui!
Die äußeren Spuren des Blut- und Eisenregiments werden in nicht allzuferner Zeit weggefegt sein, allein die Demoralisation und Korruption der Ära Bismarck, die Verheerung, welche sie durch jesuitischraffinierten Mißbrauch der Schule in den Geistern und Gemütern der heranwachsenden Jugend angerichtet hat, werden noch jahrzehntelang, nachdem die letzten äußeren Spuren verschwunden sind, im Organismus der Nation zu verspüren sein. Und wenn nicht[65] unsere Arbeiterklasse durch ihre instinktive Abneigung und von bitterer Erfahrung gelehrtes Mißtrauen gegen alles, was von oben kommt, ihre Gesundheit bewahrt hätte, dann wäre an eine vollständige Ausscheidung des Giftes überhaupt nicht zu denken. Ich bin gewiß kein laudator temporis acti [Lobredner der Vergangenheit], keiner, der die Vergangenheit auf Kosten der Gegenwart lobt – hat doch wohl niemand mehr Grund als ich, der Gegenwart sich zu freuen und mit Befriedigung zu schauen, was die deutsche Arbeiterklasse zur Ehre des deutschen Namens und zur Herbeiführung würdigerer Zustände getan hat und täglich tut –, aber die Tatsache, daß die bürgerliche Welt heute verderbter ist und gemeiner als vor einem halben Jahrhundert, sie unterliegt keinem Zweifel. In Wirklichkeit ist dieser scheinbare Rückschritt ein Fortschritt – die Tatsache aber bleibt bestehen. Und nirgends tritt sie so hell und grell in die Erscheinung als auf unseren Universitäten. Heute die Mehrheit der akademischen Jugend streberhaft, »verständig«, »praktisch«, des Ideals sich schämend – schwärmend für alles, das ist.
Vor anno 1848 war das anders. Das Bürgertum war noch nicht dem Kapitalismus verfallen, es haßte und verachtete den deutschen Bund und die einzelstaatlichen Regierungen, namentlich die preußische und die österreichische. Und die Universitätsjugend, die in ihrer Mehrheit aus diesen bürgerlichen Kreisen hervorging, war naturgemäß »staats- und regierungsfeindlich«.
In Marburg hatte ich bald einen Kreis von Gesinnungsverwandten,unter denen ich namentlich den Studenten Fuhrmann – wenn ich nicht irre, aus Kassel – hier nennen will. Fuhrmann wurde mir, mit der Begeisterung und Neidlosigkeit der Jugend, als ein Genie gepriesen, und in der Tat nicht mit Unrecht. Er hatte einen außerordentlichen Scharfsinn, eine glänzende Dialektik und eine nie versiegende, blitzschnell schlagfertige Beredtheit. Wie haben wir zusammen disputiert! Einmal, weiß ich, dauerte unser Redekampf – der übrigens nicht trocken verlief – die ganze Nacht hindurch und noch den folgenden Tag bis zum Morgen der nächsten Nacht.
Der arme Fuhrmann hat leider den Satz bewahrheitet, daß das Genie an Wahnsinn grenzt – er verfiel geistiger Umnachtung und hat im Irrenhause geendet. Als ich das tragische Geschick Nietzsches erfuhr, fühlte ich mich an Fuhrmann erinnert.
Worüber wir stritten? Über alle Probleme des Himmels und der Erde. Denn hatte ich damals auch schon mit dem Himmel meine Rechnung gemacht, so doch nicht meine Umgebung. Und Strauß, Feuerbach, Bruno Bauer spielten in unseren Turnieren noch eine bedeutende Rolle. Doch in erster Linie waren es soziale und politische Fragen, die uns beschäftigten und erhitzten.
Doch beschäftigte ich mich kaum weniger eifrig mit mehr materiellen Dingen. Ich geriet – die notwendige Folge einer etwas zu strengen und von den Vergnügungen der Jugend zu weit entfernten Erziehung – in die tollsten Tollheiten des Studentenlebens und kann ehrlich von mir sagen: Keine Tollheit ist mir fremd[69] geblieben. Ich versank aber niemals in dem Strudel, weil ich ein guter Schwimmer war (was wörtlich gemeint ist) und keinen Moment die Notwendigkeit körperlicher Kräftigung aus den Augen verlor. Brachte ich auch sicherlich viel zuviel Zeit auf der Korpskneipe zu, so versäumte ich doch nicht Leibesübungen jeder Art: Turnen, Laufen, Hämmern, Schmieden – ich arbeitete sehr fleißig bei einem Büchsenschmied – und Schießen, nach der Scheibe und auf der Jagd. Damit man sich von meiner Jägerei keine falschen Vorstellungen macht, will ich gleich sagen, daß Marburg eine Studentenjagd hatte (und wohl noch hat), auf der jeder Student, der sich einen Jagdschein verschaffen konnte, das Recht hatte, nach Herzenslust zu schießen. Und das Recht wurde so fleißig ausgeübt, daß alles, was jagdbar war, von den Rehen an bis hinunter zu den Krammetsvögeln, entweder das Revier mit bewundernswürdiger Pünktlichkeit mied oder allem, was einem Studenten und einer Flinte nur entfernt ähnlich sah, mit verzweifelter Um-und Vorsicht auf Hunderte von Schritten aus dem Wege ging. Desto besser war das ringsum angrenzende, dem Kurfürsten gehörige Jagdrevier; da gab's Hasen und Rehe in Fülle und manchmal sogar einen Hirsch, der aus dem Waldeckschen herübergewechselt. Bei dem Versuch, einen solchen Eindringling für seinen Frevel zu bestrafen, geschah es mir eines Nachmittags, daß ein unhöflicher Förster mir eine Ladung Rehposten hart am Ohre vorbeischoß, wofür ich ihm flugs Quittung erteilt hätte, wenn ich nicht zu seinem und meinem Glück in einen vom Schnee verdeckten Hohlweg[70] hinabgerollt wäre, wodurch ich die Flinte so voller Schnee bekam, daß ich sie für den Augenblick nicht gebrauchen konnte.
Wenn's nicht auf die Jagd ging, war ich fast jeden Tag auf dem Schießstand, wobei mein treuer Begleiter, ein »Mitkneipant« der Hasso-Nassoven [Hessen-Nassauer] (meines Corps), ein Nassauischer Student namens Schapper war – ein Neffe des bekannten Kommunisten Schapper, mit dem ich mich später in London im »Kommunistenbund« zusammenfand. Dieser Studiosus war ein Original in jeder Beziehung – er hatte sich drei Lebensziele gesteckt, wenigstens für sein akademisches Leben: erstens, kein wissenschaftliches Buch anzurühren; zweitens, den höchsten Rekord – das Wort freilich war den Engländern noch nicht gestohlen – im Trinken zu erreichen; drittens, ein Schütze zu werden wie Otto der Schütz, dessen Ruhm Gottfried Kinkel gesungen hat. »Otto der Schütz« war das einzige Buch, das ich ihn je lesen gesehen, und so begeistert war er für Otto den Schütz, daß er 1848 ein eingefleischter Republikaner wurde, bloß weil der Dichter des »Otto der Schütz« einer war. Die Zeit, welche »der Onkel« – das war sein Spitzname – nicht in der Kneipe verbrachte, verbrachte er auf dem Schießplatze oder in der Werkstatt eines Büchsenschmieds, mit dem er befreundet war und bei dem er mich einführte, um mich in die Geheimnisse der edlen Büchsenmacherkunst einweihen zu lassen oder selbst einzuweihen. Denn er verstand es, ein Gewehr herzurichten und ein Flintenschloß zu schmieden wie der beste Büchsenschmied.[71] Ich brachte es zu einer ziemlichen Fertigkeit im Schießen, so daß ich zu hoffen begann, auf den Prärien und in den Urwäldern Wisconsins ein nicht allzu unwürdiger Nacheiferer Lederstrumpfs* zu werden.
Mit den Hinterwäldern Amerikas in Sicht, härtete ich mich planmäßig ab. Da es im Winter war, und also an Schwimmübungen nicht zu denken, benutzte ich die Zeit, die ich nicht für anderes brauchte, zu Dauermärschen und Dauerläufen – möglichst in Gesellschaft, denn das peripatetische Philosophieren und Disputieren gefiel mir noch viel besser als das sitzende in der Stubenluft. Die Stubenluft habe ich niemals geliebt, und dieser Abneigung glaube ich vor allem die gute Gesundheit zu verdanken, um die ich so oft von Freunden beneidet wurde. Ich habe mich nie in einem Zimmer aufhalten können, dessen Fenster nicht wenigstens teilweise geöffnet waren, und wenn ich abends nach einer schweren Sitzung die Kneipe verließ, ging ich niemals – geraden Wegs wollte ich schreiben, das wäre aber vielleicht nicht in jedem Sinne streng wahrheitsgetreu gewesen –, ging ich nie mals sofort nach Hause, sondern lief noch, mochte das Wetter sein, wie es wollte, hinaus aus der Stadt durch Wälder und Felder ein paar Stunden lang, bis der letzte Rest häßlicher Kneipluft aus der Lunge gepumpt war. Dann erst begab ich mich in meine prächtig gegen die »Spiegelslust«* hin gelegene »Bude«, schlief wie ein Murmeltier und wachte mit hellem Kopf und kräftigem Appetit auf. Was Katzenjammer ist, das wußte ich als Student nicht, und das hätte ich vermutlich mein Lebtag nicht erfahren, wenn ich mein unfehlbares[72] Rezept – das ich der Öffentlichkeit hiermit übergebe – stets hätte befolgen können.
Bei diesen Nachtmärschen, denen sich mitunter auch Freunde anschlossen, kam es allerdings manchmal zu rollenwidrigen Seitensprüngen. So verfielen wir zum Beispiel einst in einer finsteren, stürmischen Nacht auf den freventlichen Gedanken, sämtliche nach alter Väter Sitte über die Straße gespannten Laternen auszulöschen, was für uns ein halsbrechendes, für die Laternen ein glasbrechendes Kunststück war und uns einen kombinierten Angriff der Nachtwächter und Pedelle ganz Marburgs zuzog. Es gelang zwar, mit Verlust einiger Mützen, uns durchzuschlagen, allein wir wurden verfolgt und auf ein sehr ungünstiges Terrain gedrängt, zwischen zwei Arme der Lahn. Es war Februar und kein Eis, so daß wir vor die unangenehme Wahl gestellt waren, entweder uns abfangen zu lassen oder durch die Lahn zu schwimmen. Ich besann mich nicht, sprang ins eiskalte Wasser und schwamm hinüber. Die anderen scheuten das kalte Bad und wurden abgefaßt. Ich lief frierend noch eine halbe Stunde herum und kehrte auf Umwegen durch das entgegengesetzte Tor in die Stadt zurück, erreichte auch unbehelligt meine Wohnung. Obgleich meine Kameraden, die in den Karzer zu marschieren und für den angerichteten Schaden eine tüchtige Rechnung zu zahlen hatten, mich natürlich nicht verrieten, so kam ich doch in den Verdacht der Mittäterschaft, und ich wurde von den Universitätsbehörden, die ohnehin aus Gießen nicht die schmeichelhaftesten Berichte über mich erhalten haben mochten, mit argwöhnischen[73] Blicken betrachtet und einer sehr strengen Beobachtung unterworfen.
Dieses kleine Studentenabenteuer wurde – und nur deshalb habe ich es hier erwähnt – zum Faden, dem andere Fäden sich anfügten, bis schließlich ein Strick daraus wurde.
In Kurhessen herrschte damals die streng-, ja fanatisch-orthodoxe Kirchenrichtung, deren Hauptvertreter der hochbegabte Vilmar war, nebenbei Verfasser einer vortrefflichen deutschen Literaturgeschichte. Durch den Eifer, mit dem ich meine atheistischen Anschauungen bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit verfocht, lenkte ich die Aufmerksamkeit Vilmars auf mich, und eines schönen Sonntags hielt er in der Kirche eine donnernde Philippika gegen die Gottesleugner und Volksverführer und bezeichnete mich dabei, obgleich er meinen Namen nicht nannte, so deutlich, daß über meine Person kein Zweifel sein konnte. Das war der zweite Faden zum Strick.
Und ein dritter Faden sollte sich bald finden, viel stärker als die zwei ersten, für sich allein beinahe schon ein Strick.
Wir gelangen jetzt auf das politische Gebiet.
Kurhessen war durch schwere Verfassungskämpfe hindurchgegangen, und der Konflikt war noch nicht beendigt. Es gehörte zu den deutschen Bundesstaaten, die nach der Julirevolution sich eine Verfassung errangen, und zwar wohl die freieste und beste unter den deutschen Verfassungen. Gerade daß sie so gut war, war für den Kurfürsten ein Grund, sie zu verabscheuen.[74] Es kam zu Kämpfen, in denen Sylvester Jordan, ein geborener Tiroler, der Vater der »Verfassung«, in vorderster Reihe stand und den ganzen Haß der Regierung und des herrischen Kurfürsten auf sich lud. Er geriet in Untersuchung wegen »demagogischer Umtriebe«, und 1839 glaubten seine Verfolger, ihn, den Mann des Gesetzes, wie er im Buche steht, mit den von der Mainzer Untersuchungs-Kommission* ausgeschnüffelten und ausgeheckten »Hochverrätereien«, die zur Vernichtung des unglücklichen Weidig, meines Großonkels, benutzt worden waren, in Verbindung bringen zu können. Er wurde eingekerkert, und ein durch viele Jahre sich hinstreckender Prozeß folgte, während dessen Verlauf Jordan in Untersuchungshaft gehalten wurde. Und oben auf dem Marburger Schloß, in einem der inneren Höfe, war die Zelle oder das Burgverließ, in welchem der überall und namentlich im Hessenland, ganz besonders aber in Marburg, dem Schauplatz seiner Lehrtätigkeit – er war Universitätsprofessor der Rechte und der Staatswissenschaften –, hochangesehene, verehrte und geliebte Mann sein Leben zu vertrauern hatte.
Auf mich machte das Schicksal Jordans, dessen Schicksal ich mit dem Schicksal meines Großonkels in Verbindung bringen mußte, einen außerordentlichen Eindruck, und sooft ich als Gymnasiast und später als Student von Gießen nach Marburg »ausflog«, was sehr häufig geschah, wanderte ich in Marburg hinauf aufs Schloß und suchte hinter dem Gitter die bleichen Züge des Mannes, der nur selten sichtbar war, jedoch auch mitunter gedankenvoll und sehnsüchtig hinausschaute.[75] Einmal nickte er mir freundlich zu. Er muß in meinen Augen gelesen haben, daß es nicht eitle Neugier und Schaulust war, was mich hergelockt hatte.
Von diesen Spaziergängen nach Marburg und aufs Schloß kam ich allemal in großer Aufregung zurück, und der Groll über die in Deutschland herrschenden Zustände grub sich mir tiefer und tiefer ein.
Unvergessen und unvergeßlich ist mir ein Sonntag im Mai 1840. Ein Freund aus Marburg, Heinrich Maus, Kandidat der Theologie und ein Verwandter meines Vormundes, bei dem ich wohnte, war von Marburg zu Besuch gekommen und brachte ein Gedicht Dingelstedts mit, eines geborenen Hessen (aus einem Dorfe bei Marburg), dessen Ruf damals aufflackerte. Es war auf ein Doppelblatt des von Freiligrath in seiner »Schlacht am Birkenbaum« verewigten »Löschpapiers«* gedruckt, und nachdem Maus die ersten Verse gelesen, entriß ich es ihm, las das Gedicht, jedes Wort mich zorniger entflammend, bis zu Ende für mich und dann laut, vor Leidenschaft fast erstickend, der Tischgesellschaft vor. Die Anfangsverse sind mir bis heute im Gedächtnis geblieben. Das ganze Gedicht nach achtundfünfzig Jahren mir wieder zu verschaffen hat schwergefallen. Wer kennt heute noch den Freiheitsdichter Dingelstedt, den »kosmopolitischen Nachtwächter«, der aus einem kosmopolitischen ein politischer Nachtwächter geworden ist und dessen »lange Fortschrittsbeine«* sich mit den Jahren in lange Rückschrittsbeine verwandelt haben? Das Gedicht aber ist prachtvoll und obendrein ein Stück Geschichte, auch meiner eigenen.[76]
Es betitelt sich »Osterwort« von Franz Dingelstedt und fordert die Freilassung Jordans. Die fünf ersten Strophen will ich hier einfügen:
»Droben stand ich, wo inmitten eines Meers von Duft und Blüten
Grau und groß das Schloß emporsteigt, Philipps alte Stadt zu hüten;
Rings zu Füßen dehnte lachend sich das traute Tal der Lahn,
Und mit ersten Maienblicken schaute draus der Lenz mich an.
Geister einer frohen Jugend tauchten aus dem heitern Grunde:
War's nicht da? – Und hier! – Und drüben ... scholl's von der Genossen Munde.
Ein Erinnern, still und innig, ging wie Sonntagsglockenklang
Durch die Seelen lang Getrennter, die ein neues Band umschlang.
Plötzlich rührt an meine Schulter eines Freundes scheuer Finger;
›Dort am Gitter‹, spricht er leise, deutend auf den innern Zwinger; –
Und zwei Augen, groß und glühend, und ein Antlitz, bleich, entstellt,
Starrten dort aus dem Gemäuer nieder in die schöne Welt.
[77]
Herr des Himmels! – Stille, stille! Weck ihn nicht aus seinen Träumen!
Ach vielleicht, daß just dies Auge, schweifend ob den grünen Bäumen,
Ob der Berge blauen Häuptern seinen Weg zur Heimat fand,
Spottend jener Türm' und Quadern, in der Gletscher freies Land! –
Du erkennst ihn? – Ihn erkennen?! Kann ein Hesse sein vergessen?
Sah ich nicht, wie er gebietend an der Besten Tisch gesessen,
Wie er Blitze warf und Donner, wenn er zürnend sich erhob,
Wie vor seines Mundes Hauche List und Macht in Spreu zerstob? ...«
Dingelstedt ist im Dorfe Halsdorf bei Kirchheim, etwa zwei Stunden von Marburg, geboren – angesichts des gewaltigen Basaltrückens, auf dessen höchstem Punkt Winfried Bonifatius die Amöneburg gegründet hat, gedenkend des Wortes der Bibel: »Auf diesem Fels will ich meine Kirche bauen.« »Der Kasseler Poet«, wie er sich in seiner ersten Gedichtsammlung nannte, besuchte in Marburg das Gymnasium und die Universität und schwärmte für »Philipps alte Stadt«. Sie war freilich schon eine alte Stadt, lang ehe Philipp der Großmütige und Weitherzige (mit den zwei von den biederen Herren Reformatoren ihm neben-, nicht nacheinander angetrauten gesetzmäßigen[78] Ehegesponsen) auf die Welt gekommen ist; und lang ehe er aus heißer Liebe zu seinem Hessenland, dessen Souveränität er mit keinem anderen, namentlich nicht mit dem Kaiser teilen wollte, die Fahne der – Rebellion hätte ich fast gesagt – der Reformation aufpflanzte und so viele Bauern, die hochverräterische Gedanken von einem Himmelreich auf Erden gehabt hatten, erstechen, spießen, hängen und köpfen ließ, daß er dafür zum protestantischen Heiligen befördert werden konnte.
In Marburg lebte in meiner Studienzeit noch das Andenken Dingelstedts. Die sonderbarsten Dinge wurden von ihm erzählt, wie er die Nacht in Tag verkehrt – bei Studenten freilich nichts Seltenes! – und wie er sich den Kleinsten der Universität zum Freund ausgesucht, er, der Größte, mit seinen endlosen Beinen. Als ich auf die Universität Marburg ging, war er schon einige Jahre fort, doch hatte ich ihn früher bei meinen häufigen Besuchen gesehen und immer in Begleitung seines zwerghaften Freundes, neben dem er riesengroß erschien, um so größer, weil er spindeldürr war, so daß man im Scherz ihn »einen aufrechten Gedankenstrich« nannte.
Die ganze Liebe Dingelstedts für Marburg – und wer, der einmal diese Perle der Lahn gesehen, muß sie nicht lieben? – flutet uns aus diesem Gedichte entgegen. Und dieses Gedicht, das im Frühling 1840 einen solchen Sturm der Begeisterung und Leidenschaft in mir entfesselt hatte, fiel mir eines schönen Maitages im Jahre 1847 in die Augen und in den Sinn. Wieder »ein Meer von Duft und Blüten«, aus dem das Schloß[79] wie eine Klippeninsel aus weiß schäumender Brandung hervorragte. Das Bild des Mannes, der, nachdem er jahrelang dort oben geschmachtet, Tantalusqualen erduldend beim Anschauen des Paradieses, das zu betreten ihm versagt war, vor kurzem, vom obersten Gerichtshof für ganz unschuldig erklärt, den Kerker verlassen hatte – das bleiche Bild Sylvester Jordans stieg vor mir auf, neben ihm die blutige Gestalt Weidigs und die Engelsgestalt seines sechzehnjährigen Töchterchens, das daheim gestorben war, während er im Kerker sich härmte1 –, und es blitzte mir durch den Kopf: Du mußt etwas tun! Deinem Gefühl Luft machen. Wir müssen dem Opfer der Kabinetts-und Bundestags-Justiz ein Vivat bringen und seinen Henkern ein Pereat [Nieder mit ihm!].
Gedacht, getan! Ich sprach mit einigen Freunden; sie billigten den Plan, und nachts vor zwölf Uhr marschierten wir hinauf zum Schloß, in nächste Nähe des[80] Teiles, welcher Jordan als Kerker gedient hatte; und sobald von der Elisabetherkirche der erste Schlag erdröhnte, brachte ich, so laut ich konnte, mit einigen passenden oder auch unpassenden Worten das Vivat und das Pereat aus. Die Szene war schon zu Ende, ehe der Nachhall des letzten Glockenschlags im Luftraum erstorben war. Und sicherlich eine recht harmlose Kundgebung. Allein auch die Kundgebung beim Wartburgfest war sehr harmlos gewesen und hatte doch recht tragische Folgen. Für mich waren die Folgen zwar nicht tragisch, aber doch recht ernst. Wir hatten Zuhörer gehabt. Die Sache trug sich herum und wuchs wie ein rollender Schneeball. Und eines Tages wurde ich, der schon einige Warnungen empfangen hatte, von einem mir wohlwollenden Beamten in Kenntnis gesetzt, daß die Angelegenheit recht bedenklich sei. Ich erzählte den genauen Hergang, und das wirkte auch für den Moment beruhigend.
Es lebte aber damals in Marburg eine unheimliche Persönlichkeit, ein alter Militär, der in dem Rufe stand, der Kasseler Regierung Spionen- und Zuträgerdienste zu leisten. Und dieser Mann, der bereits in dem Jordan-Prozeß eine Denunziantenrolle gespielt hatte, wollte sich jetzt auch an mir einen roten Rock verdienen. Er schickte einen Bericht nach Kassel, daß unter den Marburger Studenten eine geheime politische Verbindung bestünde, so schlimm, wenn nicht schlimmer, wie weiland die der Schwarzen von Jena und Gießen, und daß ich der Urheber und Mittelpunkt der Verschwörung sei. Die Saat fiel auf guten Boden; man beschloß, gegen mich vorzugehen. Unter[81] der Hand wurde ich von dem, was mir drohte, unterrichtet. Ich lachte erst. Doch bald mußte ich mich überzeugen, daß meine Freiheit bedroht sei.
Que faire? [Was tun?]
Die Gießener Freunde, mit denen ich nach Wisconsin hatte auswandern wollen, um dort eine Kolonie zu gründen, waren schon abgefahren. Ich überlegte. Statt mich hier einsperren zu lassen und Jordansche Erfahrungen zu sammeln, war es nicht besser, gleich nach Amerika zu fahren? Die Vorbereitungen hatte ich schon seit langem getroffen. Ich brauchte nur noch einen Reisekontrakt, und da ich auch hierüber schon mit einem Agenten unterhandelt hatte, so war binnen achtundvierzig Stunden alles geordnet. Es war hohe Zeit. Der gute Freund, der mich früher bereits gewarnt hatte, kam am Abend des Tages, wo der Kontrakt mir zugestellt ward, mit sehr ernster Miene zu mir: »Sie müssen noch heute Nacht von Marburg weg. Ich weiß aus sicherster Quelle, daß Sie morgen früh in Untersuchungshaft genommen werden sollen!«
Mein Entschluß war rasch gefaßt. Freund Maus wollte mich begleiten – vielleicht bis Amerika, mindestens bis Rotterdam. Er besorgte sofort einen Wagen, und wir fuhren nach der Hasso-Nassoven-Kneipe, um uns zu verabschieden. In kurzen Worten teilte ich den Korpsbrüdern mit, was geschehen war und daß ich vor der Abreise ihnen noch die Hand habe drücken wollen. Ich hielt mich etwas auf, so daß Maus ungeduldig wurde. »Lebt wohl, Brüder!« »Bruder, leb wohl!« Und während ich mich nach der Tür wende, erschallt mein Lieblingslied, das ich so oft mitvielem Gefühl und falscher Stimme auf der Korpskneipe gesungen:
»Wohlauf, noch getrunken den funkelnden Wein!
Ade nun, ihr Brüder, geschieden muß sein!«
Ich blieb stehen und sang noch das Lied mit. Als die letzten Töne verklungen waren, noch ein hastiges Ade und hinaus in den Wagen, in die dunkle Nacht, in die weite, weite Welt.
Im Wagen sammelte ich meine Gedanken. Es war mir etwas weh- und schwermütig ums Herz. Es fiel mir ein, wie ich im Winter vorher mit Freund Maus eine weit im Lande berühmte Wahrsagerin auf der Amöneburg besucht und von ihr, nachdem sie nebst ihrem schwarzen Kater mich lange forschend betrachtet, die Auskunft erhalten hatte:
»Junges Herrchen! Sie werden viel Ungemach haben. Sie werden sehr Schlimmes durchmachen. Sie werden zweimal über das Meer fahren. Zuletzt aber werden Sie sehr reich und glücklich sein!« – Die schlaue Person hatte jedenfalls erfahren, daß ich nach Amerika gehen wollte. Nun, im ganzen hat sie richtig prophezeit. Nur, daß ich öfter als zweimal übers Meer gefahren bin und daß es mit dem Schluß der Prophezeiung arg hapert.
In die Prophezeiung der »Hexe« mischten sich die Klänge des Liedes, das ich gehört –
»Wohlauf, noch getrunken den funkelnden Wein!«
Noch zweimal nachher ist mir das gleiche Lied gesungen worden. Das erste Mal achtzehn Jahre später[85] im Grunewald bei Berlin, am Ufer des Schlachtensees. Weil ich mich nicht dazu hergeben wollte, die deutschen Arbeiter vor den Staatskarren des preußischen Junkers Bismarck zu spannen, und weil ich es nicht geduldet hatte, daß Herr v. Schweitzer dem Herrn v. Bismarck diesen Dienst leistete, war ich aus Berlin und Preußen ausgewiesen worden. Den folgenden Tag sollte ich abreisen und mir einen anderen Ankergrund suchen – wo? wußte ich selber noch nicht. Einige Mitglieder des Berliner Buchdruckervereins, in dem ich verschiedene Vorträge gehalten hatte, und einige Freunde aus dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein: Vogt, ein altes Mitglied des Kommunistenbundes, Sigmund Meyer*, ein Architekt, beide längst in Amerika gestorben, Theodor Metzner, einer der wenigen Lebenden, die dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein in Berlin von Anfang angehört haben, Schneider Reimann, auch tot, und andere wollten noch einmal mit mir zusammen sein, und da es ein schöner Sonntag war, zogen wir nach dem Grunewald. Dort lagerten wir uns am Schlachtensee, den ich zum ersten Mal sah – Gespräche flogen hin und her, lustig, trotzig, wehmütig, bis die Dunkelheit sich niedersenkte und uns mahnte: Geschieden muß sein! Ich richtete noch einige Worte an die Freunde, ihnen dankend für ihre Treue und meine Wiederkehr in nicht allzu ferner Zeit ankündend. Als ich geendet und alle mir die Hände gedrückt hatten, da stimmte einer an:
»Wohlauf, noch getrunken den funkelnden Wein!«
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Und alle sangen mit. Ich aber gedachte jenes Abends in der Hasso-Nassoven-Kneipe, wo die Klänge dieses Liedes mich hinausgeleitet hatten in eine unbestimmte Zukunft, in Abenteuer, Revolution, Kerker, Verbannung – und nun, nach der Rückkehr in die Heimat, von neuem in die Verbannung und eine Zukunft, ebenso ungewiß wie vor achtzehn Jahren.
Das andere Mal war im Jahre 1890. Fünfundzwanzig Jahre waren seit jenem Abschied im Grunewald und dreiundvierzig seit dem Abschied auf der Hasso-Nassoven-Kneipe in Marburg verstrichen. Nach der Ausweisung aus Preußen hatte ich einige Wochen bei Freund Schweichel in Hannover mich ausgeruht und dabei das Terrain untersucht. Das Resultat der Untersuchungen war, daß ich auf drei Städte mein Augenmerk richtete: Leipzig, Frankfurt a.M. und Hamburg. Zunächst Leipzig. Dorthin ging ich, sah und blieb. Blieb ein Vierteljahrhundert lang – die acht Jahre mitgerechnet, die ich, unter der Herrschaft des Kleinen Belagerungszustandes, in dem benachbarten Dorfe Borsdorf unfreiwillig zubringen mußte. Es war eine fruchtbare, bewegte Zeit, dieses Vierteljahrhundert, in welches sich viel Arbeit und viele Ereignisse zusammendrängten. Die Lehr- und Lernzeit im Arbeiterbildungsverein, das Werden der sozialdemokratischen Partei, der Hochverratsprozeß, die Festungszeit in Hubertusburg, die Kämpfe zwischen Eisenachern und Lassalleanern, die Versöhnung und Vereinigung der feindlichen Brüder, das Sozialistengesetz, der Fall des Sozialistengesetzes und des Fürsten Bismarck und, nach erfochtenem Sieg, die Notwendigkeit, das Hauptquartier[87] nach Berlin zu verlegen. Es war mir nicht leicht, dem Hauptquartier zu folgen. So vieles fesselte mich an Leipzig und so viele. Doch das Wohl der Partei ist dem Parteimann oberstes Gesetz. Ich unterwarf mich, im Einverständnis mit den Leipziger Freunden. Wir nahmen Abschied voneinander. Den Tag vor meiner Abfahrt nach Berlin kamen wir in Connewitz zusammen. Reden und Gegenreden. Aber wie anders als fünfundzwanzig Jahre vorher im Grunewald bei Berlin! Damals nur Partei-Embryo, nur eine Handvoll Pioniere, die dem Verfolgten das Geleite gaben. Jetzt eine siegreiche Partei, organisiert über ganz Deutschland, erprobt und gestählt in den zwölf Jahren des Sozialistengesetzes, trotz der Ächtung und Knebelung doch stärker als die Verfolger, siegreich und triumphierend über die Macht- und Gewalthaber. Doch so günstig auch die Lage, so beherrschend unsere Stellung, so glänzend der Ausblick in die Zukunft – wir wurden an jenem Abend in Connewitz nicht recht warm. Die Stimmung war gedrückt. Wenn man ein Vierteljahrhundert zusammen gearbeitet, Schulter an Schulter gekämpft und in der Gemeinsamkeit des Leidens und Ringens zusammengewachsen ist, dann tut das Scheiden weh. Allein die Räder der Zeit stehen nicht still den Menschen zu Gefallen. Mitternacht war schon längst vorüber, und es mußte geschieden sein. Wir erhoben uns, und in diesem Moment stimmte einer an, und die anderen fielen bewegt ein:
»Wohlauf, noch getrunken den funkelnden Wein!«
[88]
Das Lied ward zu Ende gesungen, und wir trennten uns. Das war das zweite Mal nach dem Abschied auf der Hasso-Nassoven-Kneipe in Marburg.
So hat mir das schöne Studentenlied, das Volkslied geworden ist, jedoch leider vielfach verhunzt durch eine neumodische Melodie, dreimal in für mich bedeutsamer Stunde zum Abschied geklungen. Und wenn immer ich es höre, schlägt mir das Herz höher, und meine innere Bewegung wird dadurch nicht gemindert, daß ich bei jenen drei Gelegenheiten nicht einen Tropfen »funkelnden Weins« getrunken habe, sondern nur mehr oder weniger schäumendes Bier, das aber von der Zauberin Phantasie für den Augenblick in funkelnden Wein verwandelt war.
Doch zurück in das Jahr 1847 und in die »Chaise« auf der Landstraße zwischen Marburg und Gießen!
Ich war also »auf der Flucht«! An Gefahr dachte ich nicht – in einer halben Stunde waren wir auf großherzoglich hessischem Gebiete, außer Bereich der kurhessischen Behörden und in Sicherheit. Allein auf dieser Fahrt wurde ich mir meiner Lage zum ersten Male klar bewußt – das heißt, es wurde mir klar, daß ich den Boden unter den Füßen verloren hatte und ins Nichts hineingeschleudert war – ohne Halt, in den unendlichen Raum, ein Spielball des Zufalls, von dem es abhing, ob ich auf irgendeinen Stern niederfiel oder im Nichts verlorenging.
Nun – die trüben Gedanken flogen so schnell fort, wie sie herangeflogen waren. In Gießen ordnete ich, was noch zu ordnen war. Von Gießen nach Frankfurt, wo ich einige Einkäufe zu machen und einen Abschied[89] zu nehmen hatte. Und von Frankfurt nach Mainz, wo wir uns auf einem Rheindampfer einschiffen wollten.
Wie freute ich mich auf das Schiff und auf den Rhein und auf das Meer!
Es war Sommer – des Kalendertages entsinne ich mich nicht mehr, obgleich er von großem, ja von entscheidendem Einfluß auf meine Lebensgestaltung war. Wir – Freund Maus und ich – fuhren auf der Taunusbahn, einer der wenigen Bahnen, die in Deutschland schon gebaut waren und folglich noch eine Seltenheit.
Unser Wagenraum war ziemlich leer. Außer uns nur noch zwei Personen, eine ältere Dame und ein Mann, anscheinend Ende der zwanziger Jahre, mit einem breitkrempigen Filzhut, der ein auffallend scharf geschnittenes Gesicht überschattete. Wider meine Gewohnheit – ich kann noch heute tagelang fahren, ohne daß ein Wort über den Zaun der Zähne springt – sprach ich mit meinem Freund über unseren Reiseplan und muß auch eine Bemerkung gemacht haben, die meine Absicht, nach Amerika zu gehen, er raten ließ. Genug – der Herr mit dem scharf geschnittenen Gesicht wandte sich plötzlich, seinen breitkrempigen Hut lüftend, an mich:
»Entschuldigen Sie, habe ich recht gehört – Sie wollen auswandern?«
Es lag etwas Eigentümliches im Ton der Stimme, etwas wie Verachtung, so daß ich es fast wie Stichelei empfand. Mit nicht gerade sehr freundlichem Blick antwortete ich kurz:
»Ist das etwas so Merkwürdiges! Kann ein Mensch,[90] der keine Hundeseele hat, noch in diesem Lande bleiben?«
»Ah! Also Sie sind europamüde? Die Zustände in Deutschland sind Ihnen zum Ekel? Aber warum dann auswandern? Da sollten Sie erst recht im Lande bleiben, wenigstens in Europa.«
Und nun horchte ich auf. Eine Fülle von Gedanken und Gefühlen stürmte auf mich ein. Bei Heine hatte ich schon gelesen, daß der Franzose, wenn er mit seiner Regierung unzufrieden ist, eine Revolution macht, der Deutsche aber, wenn unzufrieden mit der Regierung, die Regierung in Deutschland läßt und selber nach Amerika läuft; und der Stachel des bitteren Spotts war mir tief in das Fleisch gedrungen.
»Was soll ich denn hier tun? Was kann ich hier tun?« platzte ich los (natürlich gebe ich das Gespräch nur sinngetreu). »In einem deutschen Gefängnis meine Jugend verlieren, ermordet werden wie Weidig, flügellahm werden im Käfig wie der arme Jordan – dazu habe ich keine Lust. Besser drüben im freien Lande, wo ich ein freier Mann bin und meine Kraft übe. Geht dann endlich der Tanz los in Frankreich, so ist Amerika nicht aus der Welt, und ich werde am Posten sein.«
»In Frankreich! In Frankreich! Warum muß es denn immer Frankreich sein? Warum nicht in Deutschland? Warum nicht irgendwo anders? Regt es sich nicht überall? In Polen, in Genf, in Italien und in der Schweiz? In der Schweiz bereitet sich eine Revolution vor. Der Kampf gegen den Sonderbund beginnt, und das ist ein Kampf gegen das alte verrottete[91] Despoten-Europa, ein Kampf gegen Louis-Philippe, gegen Metternich und dessen Handlanger in Berlin und gegen das Gewürm der Bundesnacht in Frankfurt! Dort ist Ihr Platz, nicht in Amerika.«
Das fuhr mir ins Herz wie eine Offenbarung. Ich wurde immer leidenschaftlicher und beichtete mit dem Vertrauensbedürfnis der Jugend dem Fremdling, der mir in wenigen Minuten so nah gekommen war, alle meine Seelenkämpfe. Wir tauschten unsere Karten. Er war ein Dr. Ludolf, Oberlehrer am Fröbelschen Institut in Zürich – das jetzt dem ehemaligen preußischen Hauptmann von Beust gehört – und bekannt mit Herwegh, Treichler, Arnold Ruge, Julius Fröbel und so manchen anderen, deren Name allein schon wie mit Zauberkraft auf mich wirkte. Und er gab mir eine so verlockende Schilderung von der Schweiz im allgemeinen und von Zürich im besonderen, daß ich, als er plötzlich mit der Frage hervorplatzte: Ich bin nach Deutschland geschickt worden, um für unsere Muster-Lehranstalt einen Lehrer zu holen, ich glaube, Sie sind der geeignete Mann, wollen Sie annehmen oder wenigstens probieren? – ohne mich zu besinnen Ja sagte.
In Mainz kehrten wir in demselben Wirtshause ein. Je mehr ich mit ihm verkehrte, desto besser gefiel mir mein Reisegefährte. In der Nacht ließ ich die Ereignisse des Tages an meinem Geiste vorüberziehen. Nun war ich mir klar. Nun hatte ich ein Ziel. Nun hatte ich wieder Boden unter den Füßen. Ich entschloß mich, sofort nach Zürich zu fahren. Freund Maus war bereit, mich zu begleiten. Den anderen Morgen suchte[92] ich den Auswanderungsagenten auf, mit dem ich den Reisekontrakt gemacht hatte. Ich erklärte mich bereit, die Hälfte des eingezahlten Geldes zu opfern. Das genügte nicht, und schließlich erhielt ich nur ein Viertel zurück. Indes, was scherten mich solche Kleinigkeiten?
Wir blieben noch einen Tag in Mainz, verabschiedeten uns dann von Dr. Ludolf, der noch einige Wochen in seiner Heimat – ich glaube Hannover – verweilen wollte, und reisten in die Schweiz statt nach Amerika.
Als ich vor elf Jahren durch Wisconsin fuhr* und die deutschen Farmen dort sah mit den deutschen Farmern, Farmerweibern und zahllosen Farmerkindern vor der Tür – da gedachte ich jener Eisenbahnfahrt von Frankfurt nach Mainz, ohne die ich jetzt vielleicht auch vor einer Farm stehen und mit Frau und Kind dem vorbeisausenden Eisenbahnzuge nachsehen würde. Habe ich das bessere Teil erwählt oder das schlechtere?
Wie oft habe ich mir gewünscht, ein Farmer zu sein!
Und wenn ich Farmer geworden wäre, wie oft hätte ich gewünscht, nicht Farmer zu sein?
Keiner hat gründlicher als ich am eigenen Leibe erfahren, daß das Leben nicht eine Eisenstange ist, die jeder in jede ihm beliebige Gestalt schmieden kann.
Nach einer sehr vergnüglichen Reise, auf der ich mit allerhand Exemplaren des badischen Liberalismus und schon ins Republikanische schillernden Radikalismus in Berührung kam, langten wir an einem wonnigen[93] Spätsommerabend in Zürich an. Nach den Alpen wie nach dem Meer hatte es mich von frühester Jugend magnetisch hingezogen. Mein Vormund war mit meinem sehr früh verstorbenen Vater, seinem Studienfreund, in der Schweiz gewesen – eine Schweizerreise war vor achtzig Jahren kein so alltägliches Ding wie heutzutage – und hatte mir viel davon erzählt. Bei Schaffhausen, das uns durch seinen Rheinfall und das wunderbar helle Kristallwasser des Rheins einen Vorgeschmack der zu erwartenden wunderbaren Naturschönheiten gab, betraten wir das Schweizer Gebiet. Nach einiger Zeit rief ein Mitreisender – es war noch die Ära der Postkutschen –: »Die Alpen! Die Alpen! Seht dort den Berg!« Alles sah hinaus. Ich wandte die Augen ab. Ich wußte, es war nur ein Bruchteil der Alpen zu sehen, und ich wollte das Herrliche ganz sehen, es das erste Mal voll genießen. Man hatte mir gesagt, von der Brücke in Zürich hätte ich ein großartiges Breitbild der ostschweizerischen Alpen. Und ich war entschlossen, vorher keinen Blick nach den Alpen zu werfen.
Wir sind in Zürich. Rasch ausgestiegen, im Hotel du Lac – damals ein ziemlich bescheidener Bau – das Gepäck abgegeben und hinaus auf die Brücke. Und nun schaute ich. Meine Enthaltsamkeit wurde reich belohnt. Der Smaragdsee mit dem lufthell durchsichtigen Wasser, zur Rechten der mächtige Ütli und vor uns im Goldglanze der Abendsonne, so hell und klar, daß man glaubte, sie mit Händen greifen zu können, die breite, himmelragende Kette der Alpen. Ich stand lautlos da. Und als dann das Gold der Abendsonne[94] sich rot färbte und die gewaltige Bergmasse in Flammen aufloderte, rief ich, überwältigt, dem Freunde zu: »Hier bleibe ich!«
Und ich blieb in Zürich.
Im Fröbelschen Institut war alles nach Wunsch. An der Schiffslände im Locherschen Haus, bei den Eltern des später bekannt gewordenen Radau-Reformators Locher, fand ich eine Wohnung mit Aussicht auf den unteren Teil des Sees und den Ütliberg. Hintennach erfuhr ich, daß in meinem Zimmer der berüchtigte preußische Lockspitzel Lessing gehaust hatte – ein Student, den die deutsche Polizei gekauft hatte, um die Flüchtlinge der dreißiger Jahre in der Schweiz zu überwachen, und der genau nach demselben Rezepte handelte, welches für die Lockspitzel, nationale und internationale, noch heute in Kraft ist. Das Sprichwort vom »nichts lernen und nichts vergessen« gilt von der Polizei fast noch mehr als von den »Staatsmännern«. Letztere, soweit sie zur Zunft gehören, lernen doch mitunter ein paar neue Formen und Formeln; die Polizei aber ist auch in den Formen und Formeln heute genau dieselbe, arbeitet genau mit denselben Mitteln und Kniffen wie zuzeiten Fouchés, ja sogar zuzeiten Ludwigs des Vierzehnten, unter dem das Institut der Lockspitzel bereits eingeführt war. Als Lessings Verräterei entdeckt wurde, hielten die von ihm Verratenen an einer abgelegenen Stelle des Sihlhölzli bei Zürich Femegericht über ihn; er wurde, nachdem er einem Verhör war unterworfen worden, zum Tode verurteilt und von zwei im voraus zu dem Nachrichteramt bestimmten Genossen erdolcht. Die[95] Leiche ward erst am anderen Morgen gefunden, erkannt und in die Wohnung gebracht – in das Zimmer, welches ich nun bewohnte. Meine Aufwärterin, die schon damals im Hause gewesen war, erzählte mir, wie den Tag nach der Tat, als die Leiche auf dem Bett lag, die »Freunde«, mit denen der Ermordete Umgang gehabt, einer nach dem anderen gekommen seien und wie bei dem Eintritt des letzten die Wunden wieder zu bluten begonnen hätten – gleich den Wunden Siegfrieds beim Nahen Hagens. Von Siegfried erzählte die Wirtschafterin mir freilich nicht, aber in ihr lebte noch der alte heidnische Aberglaube so lebendig wie in den alten Burgundern zu Siegfrieds oder Nibelungenlieds Zeiten – und wie in meiner Wirtin zu Borsdorf. Das Volk ist so konservativ, am konservativsten in Demokratien, was ich übrigens erst viel später gelernt habe. Der Hagen des Lessing wurde mir genannt; er hatte ein hohes Staatsamt im Kanton; nach dem Mord war er allerdings in Untersuchung gewesen und von der Volksstimme einmütig als der – nicht Mörder, sondern Rächer bezeichnet worden, der den tödlichen Stoß geführt. Ich habe ihn oft gesehen, auch verschiedentlich mit ihm gesprochen. Lachen sah ich ihn niemals.
Meiner Lehrtätigkeit widmete ich mich mit großem Eifer. Der »Chef« des Instituts, folglich auch »mein Chef«, Karl Fröbel, ein Neffe des »Kindergarten-Fröbel« und Bruder von Julius Fröbel, den ich nebst seiner Frau, einer geborenen Haller, in unserem Schulhause – einem großen, scheunenartigen Gebäude in Seefeld, unmittelbar am See – kennenlernte, war[96] ein ausgezeichneter Pädagoge, dem ich viel zu verdanken habe. Treichler, Ruge, Follenius und andere der aus der Ferne von mir bewunderten Männer, die Dr. Ludolf mir als Lockvögel vorgehalten hatte, sah und betrachtete ich mir nun in der Nähe – und nicht alle waren in der Nähe so groß wie aus der Ferne.
Herwegh war nicht mehr in Zürich – er war mit seiner Frau nach Paris übergesiedelt, wo er mit der verlassenen Ariadne des Theseus-Liszt, der Gräfin d'Agoult, allerlei nicht gerade löbliche und rühmliche Allotria trieb. Ich traf erst ein halbes Jahr später, nach der Februarrevolution mit ihm zusammen.
Die Zeiten waren bewegt und wurden bewegter von Tag zu Tag. Die Sonderbundsfrage verwickelte sich zum Knoten, der mit dem Schwerte durchhauen werden mußte. Ermuntert von Frankreich, Österreich und Preußen, verweigerten die katholischen Kantone, die Jesuiten auszutreiben und den Sonderbund aufzulösen. Man rechnete darauf, die nötige Stimmenzahl auf der Tagsatzung (dem Bundestag) werde nicht zusammenzubringen und, wenn zusammengebracht, nicht in Bewegung und Aktion zu bringen sein. Indes, das war die Rechnung ohne den Wirt, das heißt ohne das Schweizer Volk, gemacht. Die nötige Stimmenmehrheit wurde zusammen- und die Bundesregierung in Bewegung gebracht. Der Sonderbundskrieg ging los. Ich wollte als Freiwilliger mitziehen, wurde jedoch mit meinem Gesuch abgewiesen. So sah ich mir denn, als im Hochland der erste Schuß fiel, der die Revolutionslawine loslöste, so daß sie ins Rollen kam, die entscheidende Schlacht bei Giesliken[97] (am 23. November 1847) von den Albishöhen par distance [aus der Ferne] an und freute mich des glänzenden und gründlichen Sieges.
Ich war inzwischen unter die Journalisten geraten. Mit Ausnahme von ein paar Zeitungsartikeln, die ich auf Drängen meines Gießener Universitätsfreundes Rudolf Fendt, eines eifrigen Mitarbeiters des »Zuschauer« von Gustav Struve, an diesen geschrieben hatte, war ich auf journalistischem Gebiete noch ganz unschuldig – literarisch freilich nicht, denn in verborgenen und zum Glück verborgen gebliebenen Schubladen hatte ich etliche Dutzend Pfund Gedichte, darunter auch herzzerreißende Trauerspiele, aufgespeichert. Die Rüstungen zum Sonderbundskrieg hatten mir nun die Feder in die Hand gedrückt; ich fand bei der »Mannheimer Abendzeitung«, dem radikalsten Tageblatt jener Zeit, um so bereitwilliger Auf- und Abnahme, als ich von vornherein nicht bloß auf jedes Honorar verzichtet, sondern sogar das Arbeiten für Honorar als eine Entweihung des heiligen Berufs eines Zeitungsschreibers erklärt hatte.
Meine Artikel trugen mir viel Lob und viel Tadel, viel Feindschaft, aber auch viel Freundschaft ein. In Zürich lenkten sie die Aufmerksamkeit einflußreicher Kreise auf mich, und man beehrte mich mit dem Anerbieten, die Redaktion der früher Bluntschlischen »Eidgenossischen Zeitung«, die nach dem Falle des Sonderbundes herrenloses Gut geworden war, zu übernehmen. In die Unterhandlungen brach die Februarrevolution herein, die mich nach Paris rief. Vorher hatte ich aber doch die vorbereitenden[98] Schritte zur Erwerbung des Schweizer Bürgerrechts getan.
Von der Pariser Fahrt kam ich erst im April 1848 wieder nach Zürich zurück. Die Verhandlungen wurden fortgesetzt, und alles war im besten Gange, als im September der Struve-Putsch einen Strich durch alle Rechnungen machte. Ich wurde gefangen, saß erst in Säckingen, dann in Freiburg, bis der Mai 1849 das Gefängnis öffnete, mich in die Reichsverfassungskampagne stürzte und schließlich ans Ufer des blauen Genfersees verschlug. Über mein Leben dort habe ich voriges Jahr einiges berichtet. Nächstes Jahr vielleicht Weiteres.
1 In dem schönen Gedichte »Eine Seele« hat Freiligrath die Himmelfahrt des Kindes besungen, das »oben« von Schiller, Seume, Schubart, drei Opfern der Tyrannei – und Seume insbesondere auch kurhessischer Tyrannei –, empfangen ward. Das Gedicht schließt mit den Seume in den Mund gelegten Versen:
»Ihn ins Enge, mich vordem ins Weite
Trieb derselbe finstre Herrscherstamm.
Sagten dir nicht eher schon die Leute,
Daß der Seume nach Neuschottland schwamm?
Drum so fleh, daß bald mit grünen Spitzen
Gras der Lahn um seinen Hügel kost.
Neben Hutten soll dein Vater sitzen,
Tochter Jordans, bet und sei getrost.«
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Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«
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Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
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