|
Nichts Symbolisches. Nichts »Höhersinnliches«. Nichts Übersinnliches. Der Leser braucht nicht zu erschrecken. Die »Lehre«, von der ich schreiben will, ist nicht die große Lehre des Lebens, die mit der Geburt anfängt und mit dem Tode aufhört – ich meine die einfache, gemeine Lehre des einfachen, gemeinen »Lehrlings«, der von einem wirklichen »Gesellen« unter einem wirklichen »Meister« in die Geheimnisse irgendeines ehrlichen, gemeinen und nichts weniger als übersinnlichen Handwerks eingeweiht wird und im Schweiß seines Angesichts mit schwieliger Faust »schuften« muß, bis die Geheimnisse der »Kunst« sich ihm erschlossen haben. Daß ich zu den Männern des »verfehlten Berufs« gehöre, das wissen meine Gegner, und oft genug ist es mir gesagt worden – leider mit Recht, wie ich zerknirscht gestehen muß; habe ich doch so viele Berufe verfehlt, daß ich sie gar nicht alle zählen kann, eines aber dürfen meine[32] Gegner mir nicht nachsagen: daß ich ein »Pfuscher« sei. Ich habe wirklich ein Handwerk gelernt, und zwar ganz kunst-und sogar zunftgerecht. Und wenn unsere Zunftzöpfe im Reichstag* jedem, der nicht ein Handwerk ordnungsgemäß erlernt hat, die Befähigung, über unsere wirtschaftlichen Verhältnisse zu urteilen, absprechen, dann kann ich ihnen getrost zurufen: Mich trefft ihr damit nicht. Oder vielmehr: Mir stellt ihr den Befähigungsnachweis aus. Auch ich! – Auch ich bin in Arkadien geboren, auch ich habe im Tempel des heiligen Zunfthandwerks geweilt und bin in ihm geweiht worden. Und auch ich habe darum ein wohlverdientes, unantastbares Recht, als Sachverständiger und Eingeweihter von dem goldbodenlosen Handwerk und der edlen langohrigen, mitunter sogar langfingrigen Göttin Zunftzopfia zu reden. Verzeihung. Das Ding betitelt sich jetzt »Innung«.
Ja, ich bin in der Lehre gewesen bei einem ehrsamen Zunftmeister, und das Handwerk, welches ich erlernt habe, ist der ehrsamsten und ehrwürdigsten eins: das Zimmererhandwerk.
Es ist kein Spaß, ich bin ganz ernst, und es war mir auch dazumal verteufelt ernst. Anno dazumal, das will in diesem Falle heißen: anno 1846, also vor zweiundfünfzig Jahren. Mit mir selbst uneinig und zerfahren, war ich das Jahr vorher nach Berlin auf die Universität gegangen, mit mir selbst uneinig und zerfahrener war ich in die Vaterstadt und in die heimische Universität zurückgekehrt. Ich war zwanzig Jahre alt, und da ich als Sechzehnjähriger das Maturitätsexamen gemacht, also frühreif das Reifezeugnis[33] erhalten hatte, bereits in den höheren Semestern; trotz aller Frühreife jedoch ratloser als am Tage, wo ich die Universität bezogen, stand ich vor der Frage: Que faire? Was tun? Was werden? Einer Familie entsprungen, aus der, mit Ausnahme eines einzigen »Hochverräters« und »Demagogen«, nur Gelehrte, Beamte und Offiziere, hervorgegangen waren, hatte ich mich dem sogenannten »Staatsdienst« widmen sollen, allein der Gedanke der Dienstbarkeit, sei es in welcher Gestalt, war mir von Jugend auf verhaßt. Und was war »der Staat«, dem ich dienen sollte? Das kleine Großherzogtum Hessen bot keinen Wirkungskreis – nach Österreich mich zu wenden, wie verschiedene meiner Verwandten, dazu hatte ich keine Lust. Herrschte doch dort der Mann, dessen Name von frühester Jugend an mir der Inbegriff alles Schlechten, alles Hassenswerten: Metternich, der Generalissimus in dem schmachvollen Feldzug gegen das deutsche Volk und gegen alles, was die Größe und Freiheit Deutschlands erstrebte – Metternich, der Oberanführer in der schmachvollen Demagogenhetze*! Herrschte er ja nicht bloß in Österreich, sondern auch in dem übrigen Deutschland und über die Grenzen Deutschlands hinaus. Und war nicht diese schmachvolle und verbrecherische Demagogenhetze noch weit schmachvoller und verbrecherischer als weiland die Hexenprozesse, die im Geiste der Zeit lagen, weil damals alle Welt an Zauberei und Hexerei glaubte, während Metternich und seine Büttel sich am Geiste der Zeit versündigten und ihnen wohl bekannt war, daß alle aufgeklärten Menschen die Grundanschauungen[34] der Verfolgten teilten? Und hatte nicht diese Demagogenhetze eins ihrer edelsten Opfer in meiner eigenen Familie geholt?
Ich sprach oben von einer Ausnahme in der Beamten- und Militärfamilie, aus der ich hervorgegangen. Diese eine Ausnahme war Pfarrer Weidig, der im Frühling 1835 wegen »demagogischer Umtriebe« verhaftet wurde und nach fast zweijähriger raffiniert grausamer Untersuchungshaft am 23. Februar 1837 in seiner Gefängniszelle im Blut schwimmend aufgefunden wurde, unter Umständen, die keinen Zweifel darüber lassen, daß er körperlich aufs roheste mißhandelt worden war, und die es fast als sicher erscheinen lassen, daß er, durch die erlittenen Folterqualen zu einem erfolglosen Selbstmordversuch getrieben, von seinem Todfeind, den man ihm zum Untersuchungsrichter gegeben hatte, entweder direkt oder in dessen Auftrag ermordet worden war. Ich war zu jener Zeit elf Jahre alt. Obgleich man in meiner Gegenwart gar nicht oder nur andeutungsweise von dem Schrecklichen sprach, so kam ich doch hinter die Wahrheit; und hatte ich auch meinen Großonkel (Weidigs Mutter war eine geborene Liebknecht) persönlich nicht gekannt, so machte diese entsetzliche Familientragödie, in der sich mir unsere politischen Zustände enthüllten, einen tiefen, vielleicht für mein Leben bestimmenden Ein druck auf mich. Einen Eindruck, der sehr oft wieder aufgefrischt wurde, wennschon es einer Wiederauffrischung nicht bedurft hätte, um ihn unauslöschlich mir einzubrennen. Meine Vaterstadt Gießen, damals noch eine halbländliche Stadt[35] – ich erinnere mich noch, daß das Vieh ausgetrieben wurde – von etwa achttausend Einwohnern, war nämlich an der Burschenschaftsbewegung, die in Deutschland nach dem schnöden Volksbetrug der Freiheitskriege entsprang, stärker beteiligt als irgendeine andere Universitätsstadt in Deutschland. »Die Schwarzen von Gießen«*, so genannt nach den schwarzen, hochzugeknöpften altdeutschen Röcken – Jahn trug noch einen im Frankfurter Parlament –, vertraten in der Burschenschaft Jena gegenüber die schärfere Tonart: die Brüder Follenius, Professor Vogt (der Vater des Reichsregenten), Weidig und so viele andere waren aus Gießen und der nächsten Umgegend, und in der dortigen Bevölkerung, die sich allezeit durch einen kräftigen, unabhängigen Geist ausgezeichnet hat und noch heute auf ihr urwüchsiges, grob und gerades Wesen stolz ist, fand der demagogische Geist – heute heißt es: der Geist des Umsturzes – einen vortrefflichen Nährboden. In keinem Teile Deutschlands haben die Demagogenverfolgungen auch verhältnismäßig so viele Opfer gefordert wie in unserem Oberhessen – überhaupt im Großherzogtum Hessen. Keine Familie, die nicht in irgendeinem ihrer Angehörigen das deutsche Elend und die »väterliche Liebe« der angestammten Fürsten zu empfinden gehabt hätte. Das alles prägte sich in meine Seele – um so tiefer, je mehr meine Umgebung mit Rücksicht auf meine Erregbarkeit (sobald mich etwas innerlich bewegte, schoß mir das Blut so heftig in den Kopf, daß mein Herz in Verdacht geraten war, nicht ganz auf dem rechten Fleck zu sitzen) bemüht war, das[36] alles vor mir verborgen zu halten. Das hatte nur zu Folge, daß die Empörung und der Zorn sich tiefer in mich hineinfraßen, und weil ich – meine Eltern waren gestorben, als ich noch ein Kind war – niemand hatte, dem ich meine Gefühle und Gedanken ausschütten konnte, so gewöhnte ich mich an das Alleinsein mit mir selbst, eine Gewohnheit oder Eigenschaft, die mich in meinem späteren Leben zwar um manche Freude gebracht, mir auf der anderen Seite aber auch sehr große Dienste geleistet hat.
Schon ehe ich nach Berlin ging, stand es für mich fest, daß ich dem herrschenden politischen System nur als Feind gegenübertreten konnte. In bezug auf die Religion hatte ich in meinem Innern früh reinen Tisch gemacht. War ich auch ziemlich frei erzogen worden, so hatte mich doch der sehr orthodoxe Religionsunterricht des Gymnasiums in allerhand Zweifel gestürzt, die mich zu gründlichem Forschen und Abwägen zwangen. Ich warf mich neben meinem ursprünglichen Hauptstudium: der Philologie, auf die Theologie, die mich ihrerseits durch das »Leben Jesu« von Strauß in die Philosophie trieb und mitten hinein in die Junghegelei. Und da ich inzwischen der Schriften Saint-Simons und anderer französischer Sozialisten habhaft geworden war, so kam ich sehr bald aus dem Himmel der Theologie und Philosophie auf den harten Boden der Erde und Wirklichkeit. Die mir angeborene, aufs Praktische gerichtete »unverwüstliche Bauernnatur Luthers«, die Dr. Franz Mehring mit dem ihm eigenen Scharfsinn so blitzschnell entdeckt hat, gelangte mir selber nur sehr langsam zum Bewußtsein.[37] Im lebendigen Menschenherz und Menschenhirn zu lesen ist schwieriger als in Büchern und Zeitungen. Die Luthersche Bauernnatur hatte manch Jährchen in mir mit der spekulativ grübelnden Stubenhockernatur zu kämpfen. Und niemand hat über meine Entpuppung als politischer Schmetterling aus stubenhockerischer Raupe sich mehr gewundert als meine Gymnasial- und ersten Universitätslehrer, die mir sämtlich eine ruhige Gelehrtenlaufbahn voraussagten. So kann der Mensch sich irren. Und hintennach prophezeien soll eine vergleichsweise leichte Arbeit sein und ist jedenfalls sehr sicher. Daß jene Voraussagung sich nicht erfüllt hat und ich unverantwortlich aus der Art geschlagen bin, daran sind die bösen Verhältnisse schuld, die auch in der übertragenen Bedeutung des Wortes die schönsten Lebenspläne durchkreuzen können. Geschweige denn, wenn ein Plan gar nicht da ist. Mein Aufenthalt in Berlin beschleunigte den Gärungsprozeß, von dem ich erfaßt worden war; er brachte mich nicht zur Entscheidung, allein doch auf den Weg zu ihr. Ich will mich nicht in Einzelheiten verlieren. Wie sich vor 1848 die Welt in einem zwanzigjährigen Schwarmhirn ausnahm, was alles in ihm herumrumorte, welche unvermittelten Gegensätze aneinanderstießen – das läßt sich nicht mit ein paar Federstrichen hinzeichnen. Und da sprudeln und fluten die Erinnerungen so massenhaft, daß ich das Leitungsrohr für heute abdrehen muß.
Genug – in Berlin, dessen relativ großstädtisches Leben an sich mir eine neue Welt von Ideen und Vorstellungen eröffnete, widmete ich die Zeit, die[38] nicht mit Kollegien ausgefüllt war – ich hörte Schelling (»den Vater«), Michelet, Trendelenburg und Böckh, die beiden Grimm, Lachmann usw. –, dem Sozialismus und der Politik. Es gelang mir, einige gleichgesinnte Studenten zu finden; wir lasen zusammen, diskutierten manche Nacht hindurch und hatten das Glück, in die Vor- und Kneiphallen der »Heiligen Familie« (der Brüder Bauer) nebst journalistischem Anhängsel schauen zu dürfen. Und ein Zufall warf mich in die praktische Politik.
Es war damals die Zeit der Polkakneipen, in denen Mädchen in polnischer Tracht bedienten. Für die Polen hegte ich von frühester Jugend warme Sympathien, die in einem jener Lokale, das wir öfters besuchten, zu begeistertem Ausdruck kamen. Dies lenkte die Aufmerksamkeit der polnischen Kellnerin, die in ihrer Konfederatka* bildsauber aussah, auf mich, und eines Abends, als ich allein dort war, auf meine Freunde wartend, setzte sie sich zu mir, und nach herzlichen Dankesworten, daß ich noch an die Zukunft Polens glaube, vertraute sie mir an, daß die Auferstehung nah sei. Kurz, ich erfuhr, daß sie als glühende polnische Patriotin in das Geheimnis der polnischen Aktionspartei, die einen großen Schlag in Preußisch-, Russisch- und Österreichisch-Polen sowie Krakau vorbereitete, eingeweiht war.* Das Gespräch wurde gelegentlich fortgesetzt; ich trat zu einigen jungen Polen in Beziehungen, und wäre damals nicht durch vorzeitige Entdeckung des Anschlags der Ausbruch und Aufstand in Preußen im Keim erstickt worden, so hätte ich möglicherweise die Feinde meines[39] deutschen Vaterlands zuerst als polnischer Freischärler bekämpft. Denn das an Polen begangene Verbrechen brannte mir in die Seele, und in die Seele brannten mir auch die Augen der schönen Dana Jaroszyńska, die mir das »Noch ist Polen nicht verloren« im Urtext vorsang und mir in meinen politischen Irr-, Lehr- und Wanderjahren den ersten praktischen Beweis lieferte, daß die Frauen unwiderstehliche Agitatoren sind, eine Wahrheit, deren Erkenntnis und Nutzanwendung die katholische Kirche zum wesentlichen Teil ihre Macht verdankt. Nun – eines Tages erfolgten Massenverhaftungen in Berlin und in den preußisch-polnischen Provinzen, und meine Polen waren plötzlich verschwunden – einer tauchte später in dem großen Polenprozeß auf der Anklagebank auf –, auch Dana Jaroszyńska war verschwunden. Ich selbst – als neunzehnjähriges und noch beträchtlich jünger und harmloser aussehendes Bürschchen, dem gewiß niemand etwas Böses zutraute – wurde nicht belästigt. Nur als ich im nächsten Frühjahr – im März 1846 – auf der Heimreise von Berlin einen Abstecher durch die Sächsische Schweiz nach Böhmen machte, wurde ich, trotzdem mein Paß vollständig in Ordnung war, von österreichischen Gendarmen angehalten, vor die Polizei geführt und nach kurzem Verhör als der Teilnahme an der polnischen Verschwörung verdächtig aus den österreichischen Staaten ausgewiesen und auch pünktlich – Gendarme rechts, Gendarme links, der Sünder in der Mitte* – über die Grenze geschafft.
Das war meine erste Ausweisung. Und bei der Schlacht, die meine theoretische und meine praktische[40] Natur sich in mir lieferten, war dieses Abenteuer sicherlich nicht geeignet, der theoretischen Natur den Sieg zu erleichtern. Entschieden war aber noch nichts. Ich hatte mich in den Gedanken verbissen, Lehrer an einer Hochschule zu werden. Nach vollendetem Studium der Jugend zu verkünden, was mich bewegte und sich doch hoffentlich aus gärendem Most mit der Zeit zu klarem Weine entwickeln würde, das war ein Gedanke, der mich fesselte. Überhaupt Lehrer zu sein, das schwebte mir mein ganzes Leben lang als das schönste Ziel vor; und ich glaube auch nach den Erfahrungen meiner Lehrtätigkeit, die ich in der Verbannung und später gut ein Vierteljahrhundert lang zu üben genötigt war: als Lehrer von Fach hätte ich meinen Beruf nicht verfehlt.
Es ist anders gekommen, ich bin nicht geworden, was ich am liebsten geworden wäre; ich tröste mich indes mit den Unzähligen, denen es ebenso ergangen ist und bei denen ich in guter Gesellschaft bin. Eigentlich kenne ich gar keinen, dem es anders ergangen, ich meine, dem es gelungen wäre, sein Leben nach seinem Willen zu gestalten. Wer kennt einen?
Also Privatdozent wollte ich werden. Wohl wußte ich, wie in Preußen Bruno Bauer und andere gemaßregelt worden. Doch in irgendeinem anderen der vielen Vaterländer würde es sich vielleicht machen, und an guten Verbindungen – »Konnexionen« heißt es auf deutsch – fehlte es mir nicht. Aber gerade an diesen guten Verbindungen haperte es. Sie waren sämtlich politisch wie religiös streng rechtgläubig, und unerläßliche Vorbedingung war, daß ich mich zu[41] gleich strenger Rechtgläubigkeit bekehrte und bekannte. Und das war's eben, was nicht möglich, war. Es gab Auseinandersetzungen, Reibungen, Zusammenstöße – schließlich unheilbaren Bruch. Mit der Privatdozentschaft war's nichts. Doch etwas mußte ich tun. Etwas! Gewiß. Aber was, was? Als ich mir mit dieser Frage den Kopf zermarterte, wurde das deutsche Elend mir so recht klar. Ein junger Franzose, ein junger Engländer hatte tausend Felder ehrenvoller, fruchtbarster Tätigkeit. Ich, der junge Deutsche – nichts, wenn ich nicht zum Lump werden, nicht meine Individualität preisgeben, nicht zum felo da me – zum Verbrecher an mir selbst, zum moralischen Selbstmörder werden wollte. Ich dachte noch an Jurisprudenz – nicht, um Richter oder Verwaltungsbeamter zu werden, sondern Rechtsanwalt, Anwalt des Rechts. Ein edler, erhabener Beruf. Allein für mich in Deutschland verderbt, verkrüppelt. Unser Gerichtsverfahren war geheim – und wie kann es ein gesundes Recht geben außer im Sonnenschein und der frischen Luft der Öffentlichkeit? In Rheinhessen herrschte zwar das französische Verfahren mit Öffentlichkeit und Mündlichkeit – aber als Oberhesse konnte ich nicht Rechtsanwalt jenseits des Rheins werden, ohne gewisse Förmlichkeiten zu erfüllen, die für mich zum kaudinischen Joch geworden wären.
Die Welt war mir in Deutschland mit Brettern zugenagelt. Oder vielmehr ich war im Gefängnis, und so ingrimmig ich an dem eisernen Gitter rüttelte, ich war ein Gefangener in Deutschland – schlimmer als ein Gefangener –, ein Knecht, ein Sklave. Oderich mußte Gefangenenwärter, Sklavenaufseher werden. Und das konnte ich nicht sein. Drum, hinaus aus dem Gefängnis! Nur hinaus!
In solcher Stimmung mußte der Gedanke kommen, mich ins Ausland zu flüchten. Auswandern? Davor graute mir, obgleich ich seit meiner frühesten Jugend viel vom Auswandern gehört hatte und obgleich ein Onkel von mir wenige Jahre vorher nach Amerika gegangen war. Ich konnte mich von der Hoffnung nicht trennen, daß in Deutschland oder doch irgendwo sonst in Europa eine rettende Tat dem herrschenden System ein Ende bereiten werde. Ich spähte nach Wetterzeichen wie der Matrose im Mastkorb, wenn unter den Tropen ein Wölkchen am Himmel sichtbar wird. Mit Polen war's nichts gewesen. In der Schweiz verdichtete sich die Streitigkeit zwischen den liberalen und katholischen Kantonen. In Frankreich wuchs die Opposition gegen das korrupte Regiment des »Bürgerkönigs«.
Das alles war jedoch nichts Bestimmtes. Und in Deutschland fand ich keinen festen Punkt, an den ich mich anlehnen oder auf dem gar ich einen Hebel hätte ansetzen können. Sehnsüchtiger als der damals freilich noch nicht geborene Mr. Micawber* bei Dickens schaute ich aus und um, ob nicht »etwas auftauchen« würde. Es tauchte aber nichts auf.
Und im Gefängnis duldete es mich nicht länger. Die Familienverhältnisse und die politischen Verhältnisse steigerten mein Unbehagen von Tag zu Tag.
In Gießen hatte sich eine größere Gesellschaft von Studenten zusammengefunden, die in bezug auf die[45] deutschen Verhältnisse ähnlich dachten wie ich, für den Sozialismus freilich nur wenig Verständnis hatten. Auch der Sohn und ein Brudersohn des Pfarrers Weidig waren in diesem Semester auf der Universität. Und der bloße Name Weidig war mir ein Stachel des Zorns und der Empörung, eine Mahnung an mein Gewissen. Der Sohn, erdrückt und gebrochen durch das Schicksal des Vaters, ließ in seinem verschüchterten Wesen, das ihn an Geltendmachung seiner Fähigkeiten und seiner Persönlichkeit hinderte, damals schon ahnen, daß die Mörder des Vaters auch dessen Söhnchen ins Lebensmark getroffen und einen Doppelmord begangen hatten. Das langsame Verkommen dieses jungen Menschen, der nicht die Kraft hatte, das ungeheure Verbrechen, das an dem Haupt der Familie verübt worden, zu tragen, noch weniger die Kraft, es zu rächen, und der – ein Hamlet im Kleinen – an der Größe der vom Schicksal ihm gestellten Aufgabe zollweise zugrunde ging, ohne auch nur für einen kurzen Augenblick sich zur Tat aufraffen zu können – das bildet ein blutloses Trauerspiel, kaum minder ergreifend als die blutige Tragödie, deren unschuldiges Opfer er geworden.
Heute, wo Deutschland gleich einem Vivisektionstier zur Erduldung aller möglichen Experimente rückständiger Geschäftspolitiker und phantastischer Stümper verurteilt ist und wo wir in jene Zeiten der Ächtung und Verfolgung von leider sehr mächtigen Männern des Vergangenheitsstaats, der tausendmal gefährlicher ist als der »Zukunftsstaat«* scheint, zurückgeführt werden sollen – jetzt ist es zwiefach notwendig[46] und Pflicht, an jene Schandtaten des christlich väterlichen Regiments zu erinnern.
Einige meiner Kameraden hatten sich, noch während ich in Berlin war, einem Auswanderungsverein angeschlossen, der im folgenden Jahre – 1847 – Deutschland zu verlassen beabsichtigte, und so wurde ich abermals auf den Weg der Flucht aus den unerträglich gewordenen Verhältnissen sozusagen mit der Nase gestoßen. War es denn Flucht? Konnte ich nicht, wenn in Europa sich ein Wirkungsfeld bot, nach Europa heimkehren? Wirken wollte ich, mußte ich. Es lag in meinem Blut, das bei dem bloßen Anblick der herrschenden Zustände in Wallung geriet. Und bin ich, falls oder sobald – denn daß sie einst kommen würde, das bezweifelte ich nicht – die Gelegenheit kommt, wo ich wirken kann, für die Betätigung und Verfechtung meiner Ideale besser geeignet, wenn ich in dem heimischen Käfig flügellahm geworden bin, in ohnmächtiger Wut meine Kraft verzehrt habe oder wenn ich, gestählt und frisch von der Luft der Freiheit, aus der Neuen Welt in die Alte zurückeile? Die Antwort lag auf der Hand. Und meine Abneigung gegen das Auswandern nahm ab, bis sie allmählich so weit überwunden war, daß ich den Entschluß faßte, nach anderthalb Jahren: im Herbst 1847, jedoch unter dem »geistlichen Vorbehalt« der Rückkehr, über das große Wasser zu fahren, wenn bis dahin nicht Änderungen, die mir das Bleiben im Lande ermöglichten, eingetreten oder in Sicht seien.
Ich habe bei diesem Punkt länger verweilt, als ich eigentlich wollte, aber es handelte sich hier nicht um[47] persönliche oder vereinzelte Stimmungen und Konflikte, sondern um solche, die damals innerhalb der reg- und strebsamen Jugend Deutschlands allgemein waren. Es war die Übergangszeit zwischen der Europamüdigkeit, die noch nicht zum Bewußtsein ihres Ursprungs und Wesens fortgeschritten war, und zwischen der die Massen bewegenden Einsicht, daß die Ursachen, welche die Europamüdigkeit erzeugt hatten, im Vaterland durch mannhaften Kampf gegen das herrschende politische System zu beseitigen waren.
Das Auswanderungsfieber hatte die weitesten Kreise erfaßt, und ich sagte schon vorhin, daß es namentlich in unserem Hessenland sehr verbreitet war – selbst in den höchsten Gesellschaftskreisen. Hatte sich doch wenige Jahre vorher ein Adelsverein gebildet, der drüben in Amerika im Staate Texas ein Adelsparadies gründen wollte. Der Plan war auch zur Ausführung gekommen, und anfangs liefen überaus günstige und verlockende Berichte aus Texas ein, wo dem an der Spitze des Unternehmens stehenden Fürsten von Solms-Braunfels zu Ehren ein Neu-Braunfels gegründet ward. Allein bald stellte sich heraus, daß die Herren Adligen nicht arbeiten wollten, und sintemalen die bürgerliche und bäuerliche Kanaille, die für die angestammten Herren Adligen arbeiten sollte, keine Lust hatte, ein Adelsparadies zu gründen, so kam es zu Zerwürfnissen und schließlich zur Auflösung der Kolonie. Die Herren Junker, die heute unter der Firma »Kolonialpolitik« von überseeischen Adelsparadiesen träumen, weil sie merken, daß es in der »Alten Welt« mit ihrer Herrlichkeit zu Ende geht,[48] scheinen das Schicksal jener sowie verschiedener anderer später eingerichteter Adelskolonien, die sämtlich ein elendes Ende hatten, ganz vergessen zu haben. Für Junkerideale, das sollte den Herren Adligen und Edelsten doch einleuchten, begeistert sich außerhalb der Junkerkreise kein Mensch; und der Deutsche, der sein Mutterland verläßt, schüttelt dessen Staub von seinen Pantoffeln, weil er der Junkerwirtschaft und allen Unbilden, die drum- und dranhängen, entfliehen will. Und wer ihm, nachdem er glücklich entflohen ist, draußen in der Freiheit das Junker- und Polizeijoch wieder aufhalsen will, den lacht er ob seiner Donquichotterie aus oder – wird handgreiflich. Es ist wirklich ein Rätsel, daß es Menschen gibt, die dies nicht einsehen. Und doch ist es Tatsache, daß sie vor dem Hirngespinst der sogenannten Weltpolitik, die auf die aus dem Vaterland ausgewanderten Deutschen ein »deutsches Weltreich« gründen wollte, diese einfache, dem einfachsten gesunden Menschenverstand sich aufdrängende Wahrheit nicht eingesehen haben.
Von dem Moment an, wo ich mich zur bedingten Auswanderung entschlossen hatte, begann ich auch Vorbereitungen zu treffen. Die Kameraden hatten ihr Augenmerk auf den Staat Wisconsin gerichtet, der damals noch sehr schwach bewohnt und klimatisch wie in bezug auf Bodenbeschaffenheit und Verbindungsmittel unzweifelhaft für unsere Zwecke geeignet war. Alle Teilhaber waren in der Lage, sich Land zu kaufen und die sonst erforderlichen Anschaffungen zu machen. Wir wollten eine Art Ackerbaugenossenschaft[49] bilden, die, ohne das Privateigentum prinzipiell aufzuheben, alle Vorteile der Gemeinwirtschaft uns sichern sollte. Indes waren wir klug genug, uns nicht von vornherein fest zu binden. Das Fiasko der kommunistischen Kolonie Robert Owens war mir bekannt, und außerdem hielt ich darauf, mir jederzeit den Austritt und die Rückkehr in die Heimat offenzuhalten.
Da es in die Hinterwälder ging – heute gibt's keine mehr –, so mußten wir auf große Strapazen gefaßt und für jede Arbeit, auch die schwerste, geschickt sein. So galt es denn, sich körperlich zu kräftigen, sich abzuhärten und allerhand Verrichtungen zu lernen. Bisher hatte ich außer Gehen, Laufen, Schlittschuhlaufen und Fechten keinen Sport getrieben. Nun lernte ich leidenschaftlich Schwimmen und Schießen. Auch das Turnen, welches mir früher zu langweilig gewesen war, übte ich mit Feuereifer. Kurz, ich trainierte meinen Körper methodisch – und in meinem späteren Leben ist mir das sehr nützlich geworden, wenn auch nicht in der Weise, wie ich berechnet hatte. Das reichte aber nicht aus. Die ersten Arbeiten drüben in Amerika würden das Fällen von Bäumen und der Bau von Blockhäusern sein – in landwirtschaftlichen Arbeiten war ich beiläufig nicht ganz unbewandert –, da war es vonnöten, daß man mit der Axt umgehen konnte. Als Knabe hatte ich viel bei einem in der Nähe wohnenden Tischler gehobelt, gesägt und gefügt; und als Gymnasiast und Student hatte ich sowohl zu Haus als für befreundete Familien gern das Brennholz gesägt und gespalten. Ich war also kein[50] völliger Neuling im Gebrauch der Werkzeuge. Allein zum Bau eines Blockhauses genügte mein Können nicht.
So beschloß ich denn mit einem der Zukunfts-Reisegefährten, bei einem Zimmermann in die Lehre zu gehen. Es bot sich eine treffliche Gelegenheit. Die alte Lahnbrücke mit einem Buckel wie ein Dromedarhöcker war längst ein abscheuliches Verkehrshindernis geworden, und nach zehnjährigem Besinnen und Wiederbesinnen hatte man sich endlich zum Bau einer neuen Brücke entschlossen, der bereits seit einiger Zeit im Gang war. Das für die Brückenbogen erforderliche Zimmerwerk, auf dem – heute wird vielleicht anders gebaut – die Pfeiler bis zur Vollendung zu ruhen hatten, war zum Teil einem mit meiner Familie und auch mit mir selbst wohl bekannten Zimmermeister, dem Ratsschöffen Balthasar Herbert, übertragen worden, und an diesen wandte ich mich denn. Er war es sofort zufrieden, daß ich und mein Kamerad als Freiwillige auf seinem Zimmerplatz antraten – und wir wurden einem Gesellen Johannes Rohm anvertraut, der nebst seinem mir ziemlich gleichaltrigen Sohn, Johannes Rohm jun., denn auch sehr gewissenhaft seines Amts waltete. Abgesehen davon, daß wir des Tages nur sechs Stunden arbeiteten – wir hatten doch noch viel anderes zu tun –, arbeiteten wir genau so wie die übrigen Lehrburschen und konnten nach anderthalb Monaten in den Gesellenstand erhoben werden, was natürlich nicht ohne eine kleine feuchtfröhliche Festlichkeit abging. Ich zimmerte mit solchem Eifer und solcher Ausdauer,[51] daß ich von dem braven Ratsschöffen wiederholt den übrigen Gesellen als Muster hingestellt ward.
Nur im Monat August kam es zu einer Unterbrechung von mehreren Tagen. Aus dem einen oder andern Anlaß – einem Studenten war irgendein Unrecht geschehen; in der für die Zeitgeschichte hochinteressanten Selbstbiographie meines Freundes Rudolf Fendt aus den sechziger Jahren ist das Nähere berichtet – gerieten wir Studenten in einen heftigen Konflikt mit dem akademischen Senat. Der Konflikt, in dem die Polizei eine Rolle spielte, nahm, so unpolitisch er an sich war, doch einen Hauch politischer Färbung an; es wurden Versammlungen und feurige Reden gehalten – wobei sich namentlich ein später sehr zahm gewordener Student Welcker hervortat, ein Neffe des aus Gießen stammenden badischen Volksmannes Welcker und um dieser Verwandtschaft willen von uns fast wie ein höheres Wesen betrachtet. Die Behörden wollten nicht nachgeben, sie drohten, aus dem benachbarten Butzbach Kavallerie kommen zu lassen, worüber wir lachten. Und als aus der Drohung Ernst wurde, zogen wir, zum Entsetzen der Herren Professoren und »Philister«, feierlich aus der Stadt aus nach dem heiligen Berg – dem wunderbar schön zwischen Gießen und Marburg im lieblichen Lahntal gelegenen Staufenberg. Das war der berühmte, seinerzeit im Bild, in Prosa und in Versen verherrlichte »Auszug auf den Staufenberg«.
Am 7. August – wenn ich nicht irre; auf meinem Bild steht dieses Datum, ich weiß indes nicht, ob das der Tag des Auszuges oder der dargestellten obligaten[52] Kommersszene ist –, am fraglichen Augusttag zogen wir zum einen Tor hinaus, während die »Chevauxlegers« [leichte Kavallerie] durchs entgegengesetzte Tor einzogen. Das Wetter war herrlich. Die gute Gießener Bürgerschaft, die nun jetzt erst recht merkte, wie lieb sie uns hatte, versorgte uns mit allen möglichen guten Dingen. Das Bier floß in Strömen, und die drei Tage dieses lustigen Studentenstreiks waren ein einziger fortdauernder Kommers, für jeden der Teilnehmer eine unauslöschliche Erinnerung: die Natur in vollster Pracht, der weite Fernblick, die romantische Ruine – die mit der Rudelsburg wohl den Vergleich aushalten kann – und der jugendliche Trotz, dem das Bewußtsein, für ein Recht, für das Recht zu kämpfen, ideale Flügel gab.
Inzwischen hatte ich meine Schüchternheit so weit abgestreift, daß ich mich auch zum Redner aufschwang und in kurzen Worten, die sehr drastisch gewesen sein sollen, den Kommilitonen das Ehrenwort abnahm, sich in keine Verhandlungen einzulassen – unter der Hand hatte der Senat auf dringenden Wunsch der Bürger Vertuschungsfühler ausgestreckt – und, komme was da wolle, nicht zurückzukehren, ehe uns volle Genugtuung geworden.
Das Ehrenwort ward gegeben und ein unseren Entschluß ausdrückendes Schriftstück unterzeichnet (das sich noch im Nachlaß Fendts finden muß; der oben erwähnten Schrift ist ein Faksimile beigefügt). Nun wurde es den Herren Senatoren doch schwül zumut. Man forderte uns auf, eine Deputation zu schicken und dem hohen Senat unsere Wünsche vorzutragen.[53] Die Deputation ward gewählt, und als wir uns Gießen näherten, wurden wir schon von zärtlichen Bürgern und Bürgerinnen empfangen, die uns nach dem Universitätsgebäude geleiteten, mit flehentlichen Bitten, doch ja dafür zu sorgen, daß Gießen seine Studenten bald wiederbekomme. Und mich insbesondere erinnerte man, daß ich doch selbst »ein Stadtkind« sei. Was ich übrigens bis auf den heutigen Tag nicht vergessen habe. Und »mein Gießen lob' ich mir«; es ist zwar kein Klein-Paris, aber es ist Gießen, und wenn immer ich einmal daran denke, fern vom Kampfgewühl, in Ruhe und Freiheit – nicht im Gefängnis, wo allein ich bis jetzt »Ruhe« gehabt, Einkehr und Selbstschau zu halten –, dann denke ich an mein liebes Gießen mit der schönen Umgegend, in welcher weit und breit kein Stein ist, den ich nicht in der Kindheit und Jugend betreten.
Vor dem Senat verliefen die Dinge nicht ganz programmäßig. Ein anderer, Nicht-Gießner, legte kurz vor dem gestrengen, sehr ernst dreinschauenden Kollegium unsere Wünsche dar. Die Antwort des Herrn Rector magnificus lautete kurz und schroff: »Von Verhandlungen kann in diesem Falle nicht die Rede sein, solange die akademischen Bürger in ihrer Widersetzlichkeit verharren. Sie haben ihren Herren Kommilitonen mitzuteilen, daß die Vorbedingung für alles Weitere die Rückkehr in die Universität ist. Dann wird der allezeit zur Milde geneigte Senat jedem berechtigten Wunsch gerne willfahren.« Bei diesen Worten stieg mir das Blut in den Kopf, und da der Sprecher stumm blieb, so trat ich vor und erklärte,[54] mühsam meine Leidenschaft bemeisternd, der Senat verkenne die Sachlage, er habe uns keine Bedingungen aufzuerlegen, sondern unsere Bedingungen entweder anzunehmen oder abzulehnen.
Die Herren Senatoren sahen einander an, und der Rektor, mit nicht sehr freundlichen Blicken mich musternd, erklärte höchst ungnädig, wir seien entlassen. Hintennach wurden mir wegen meines hitzigen Draufgehens Vorwürfe gemacht, obgleich ich nur zum Ausdruck brachte, was wir auf unserem »heiligen Berg« uns gelobt hatten. Ein genialer Karikaturenzeichner, der aber als Studiosus der Theologie und dann bis zum Lebensende als Landpfarrer seinen Beruf verfehlte, das Genie Preuschens – so hieß er; er ist in einem Nachruf der »Frankfurter Zeitung« vor etwa zehn Jahren gewürdigt worden –, illustrierte den Auszug und auch jene Szene; mich stellte er als Liktor dar, der mit dem Richtbeile den erschreckten Herren Senatoren auf den Leib rückt.
Vielleicht war mein undiplomatisches und wohl auch unparlamentarisches Vorgehen doch gar nicht so übel angebracht – Tatsache ist, daß der Senat die Schwadron Chevauxlegers aus der Stadt hinausschickte und uns, selbstverständlich mit einigen Klauseln, in allem nachgab, so daß wir stolz als Sieger in die frohe, uns festlich empfangende Stadt zurückkehrten. »Aber Willemchen, so grob hättest du doch nicht zu sein brauchen!« sagte mir auf dem Marsch durch die Straßen einer meiner Lehrer, der mich sehr gern hatte und mich noch nach dreißig Jahren, als ich längst ein ausgewachsener Hochverräter geworden[55] war, mit dem vertraulichen Du anredete. Und was das Diminutivum betrifft, so erklärt es sich daraus, daß ich auf dem Gymnasium – wir sagten in Gießen schlechtweg: die Klasse –, das ich fünfzehn Jahre alt verließ, körperlich sehr wenig entwickelt war und wegen meiner knabenhaften Kleinheit viel verspottet und gehänselt. Mein Geist hatte, wie man so zu sagen pflegt, sich auf Kosten des Körpers seine Frühreife erworben. Ich fing erst in den Jahren zu wachsen an, wo für die meisten Menschen das Wachsen schon aufgehört hat.
Die acht Tage ausgenommen, welche der Auszug nebst Vor- und Nachspiel beanspruchte, war ich jeden Werktag auf dem Zimmerplatz des Ratsschöffen Herbert, bis das Semester und die Herbstferien zu Ende waren.
Meines Bleibens in Gießen war nicht mehr. Für den »Auszug« war zwar Amnestie versprochen worden, allein mehreren, die hervorragend tätig gewesen waren, wurde mit dem Scheuertor gewinkt, daß sie besser täten, auf einer anderen Universität ihre Studien fortzusetzen; und ich selber empfing unter der Hand einen ähnlichen Rat – ein halbamtliches, der amtlichen Schärfe entkleidetes Consilium abeundi [Rat zu verschwinden]. Bevor ich Gießen verließ, um nach dem fünf Wegstunden entfernten Marburg überzusiedeln, wo ich Stadt und Universität seit frühester Jugend genau kannte und von wo aus ich im engsten, auch persönlichen Verkehr mit den Gießener Freunden sein konnte, brachte ich meine Zimmermannslehrlings- und Gesellenschaft zum[56] regelrechten Abschluß – nur daß ich nicht Meister wurde. Ich bekam in Form Rechtens das Zeugnis ausgestellt, daß ich das edle Zimmererhandwerk mit Fleiß, Geschick und Erfolg mir zu eigen gemacht habe. Auch die gebräuchlichen Zeremonien fehlten nicht: ein zünftiger Schmaus mit noch zünftigerem Trunk. So bin ich denn schon seit dem Herbst 1846 ein rechtschaffener »Genosse« oder, wie es auf gut Nieder- und Hansadeutsch heißt, »Genote«, was in schlechtem Studentendeutsch zum »Knoten« verhunzt worden ist. Im eigentlichsten Sinne des Wortes bin ich also ein »Knote« und glaube damit meiner Lutherschen Bauernnatur keine Schande gemacht zu haben.
Achtundzwanzig Jahre später hatte ich in Wieseck bei Gießen eine sozialistische Kandidatenrede zu halten. Als ich auf der Rednerbühne stand, hörte ich plötzlich eine Stimme: »Jo, dos is er!« Und ein Mann, ungefähr in meinem Alter, drängte sich halb verlegen durch die erstaunte Menge. »Kennen Sie mich nicht? Ich bin der Hannes.« »Nein, ich kenne Sie nicht!« »Aber Sie sind es. Erinnern Sie sich, wie Sie nach Amerika wollten und das Zimmern lernten? Ich mit meinem Vater, der jetzt tot ist, hab Sie's gelehrt!«
Mit den Erinnerungen ist's wie mit gewissen Lebewesen, die Jahrzehnte vertrocknet wie tot daliegen können und dann, sobald ein Tropfen Wasser sie berührt, ins Leben zurückkehren und lustig sich herumtummeln. Ich war über ein Vierteljahrhundert lang so vollständig von der Heimat getrennt und dabei[57] stets mit dem Kampf ums Dasein und andern Kämpfen so ausschließlich beschäftigt gewesen, daß ich gar vieles von der Heimat vergessen hatte. Und auch diese Zimmerplatzidylle. Doch nun stand auf einmal alles lebendig vor mir.
»Ach, der Hannes!« Und ich sprang von der Rednerbühne und schüttelte dem vergnügt lachenden Hannes die Bärentatzen. Es war der jüngere meiner zwei Lehrer vom Zimmerplatz: Johannes Rohm jun.
Daß das Zusammentreffen mit Jubel gefeiert ward, brauche ich ebensowenig zu versichern, als daß es mir eine tüchtige Zahl Stimmen einbrachte. Die beiden Hannes waren begeisterte Parteigenossen. Waren. Denn auch Hannes der Sohn lebt nicht mehr; wie Freund Orbig mir aus Gießen schreibt, ist er vor zwölf Jahren, 1886, in der Lahn ertrunken. Ich vergesse euch nicht, ihr braven zwei Hannes!
Doch ich bin vorausgeeilt. Im Spätsommer 1847, nach zwei etwas stürmisch verlebten Semestern und etlichen ans Politische streifenden Abenteuern wollte ich die Reise über das große Wasser antreten. Oder vielmehr: Ich trat sie an und kam auf dem Wege nach Rotterdam auch bis Mainz. Statt nach Amerika geriet ich aber in die Schweiz, wo der Sonderbundskrieg zurechtgebraut ward; von der Schweiz im Februar 1848 – gerade vor fünfzig Jahren – nach Paris, dann zu Herwegh in die Pariser Legion, dann wieder in die Schweiz, dann nach Baden, dann ins Gefängnis und so weiter.
Buchempfehlung
Im Dreißigjährigen Krieg bejubeln die deutschen Protestanten den Schwedenkönig Gustav Adolf. Leubelfing schwärmt geradezu für ihn und schafft es endlich, als Page in seine persönlichen Dienste zu treten. Was niemand ahnt: sie ist ein Mädchen.
42 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro