Erstes Kapitel

Am 20. September 1738 ward ich zu Kolberg geboren und bekam dann den Taufnamen Joachim. Mein Vater, Johann David Nettelbeck, war hier Brauer und Branntweinbrenner und stand bei der Bürgerschaft in besonderer Liebe und Anhänglichkeit. Dies Glück ist mir von ihm übererbt und genieße es noch jetzt in meinem Alter bei meinen lieben Mitbürgern. Meine Mutter war aus des Schiffers Blanken Geschlecht. Auch meiner beiden Paten – nämlich der Kaufleute Herren Lorenz Runge und Grüneberg – muß ich hier dankbar erwähnen, weil so manche ihrer väterlich gemeinten Vorstellungen, und was sie mir sonst Gutes eingeprägt, bei mir einen Eindruck gemacht, der mich durch mein ganzes Leben begleitet hat.

Der gütige Leser wolle sich's gefallen lassen, etwas von meinen ersten Jugendjahren zu hören. Seit ich kaum das Alter von drei viertel Jahren erreicht, bin ich bei meinen Großeltern väterlicherseits erzogen worden; aber sobald ich habe lallen können, stand auch mein Sinn darauf, ein Schiffer zu werden. Dies mag wohl daher kommen, daß mir dergleichen oftmals vorgeplaudert worden. Mein Hang dazu trieb mich so gewaltig, daß ich aus jedem Holzspan, aus jedem Stückchen Baumrinde, was mir in die Hände fiel, kleine Schiffchen schnitzelte, sie mit Segeln von Federn oder Papier ausrüstete und damit auf Rinnsteinen und Teichen oder auf der Persante hantierte.

Meines Vaters Bruder war Schiffer, und keine größere Freude gab es für mich, als wenn er mit seinem Schiffe hier im Hafen lag. Denn da hatte ich zu Hause keine Ruhe, sondern bat, man möchte mich nach der Münde lassen. O welch ein vergnügtes Leben, wenn ich auf dem Schiffe war und mit den Schiffsleuten in ihrer Arbeit herumsprang.

Nicht viel geringer war meine Liebe und Freude am Gartenwesen; denn auch mein Großvater war ein sonderlicher Gartenfreund, nahm mich beständig mit dahin, gab mir sogar ein klein Fleckchen Land zum Eigentum und ließ mich sehen und lernen, was zur Gartenarbeit gehörte. Hier legte ich Obstkerne, ich verpflanzte, ich pfropfte und okulierte, ich begoß und pflegte meine Gewächse. Meine Kernstämmchen wuchsen heran, und sieben von diesen selbstgezogenen Bäumen sind noch (wie sehr es mir auch um sie leid tat, da ich jetzt der Besitzer des nämlichen Gartens bin) in der letzten französischen Belagerung umgehauen worden.[1]

An dieses kleine, aber für mich unschätzbare Grundstück, dessen Pflege noch in diesem Augenblick die Freude meines Alters ausmacht, heften sich zugleich auch ein paar meiner frühesten und lebendigsten Erinnerungen, die ich darum nicht ganz mit Stillschweigen übergehen darf.

Ich mochte wohl ein Bürschchen von fünf oder sechs Jahren sein und noch in meinen ersten Höschen stecken (also etwa um das Jahr 1743 oder 44), als es hier bei uns und im Lande weit umher eine so schrecklich knappe und teure Zeit gab, daß viele Menschen vor Hunger starben; denn der Scheffel Roggen galt den damals beinahe für unerschwinglich gehaltenen Preis von einem Taler acht Groschen. Es kamen von landeinwärts her viele arme Leute nach Kolberg, die ihre kleinen, hungrigen Würmer auf Schiebkarren mit sich brachten, um Korn von hier zu holen, weil man Getreideschiffe in unserm Hafen erwartete, die der grausamen Not steuern sollten. Alle Straßen bei uns lagen voll von diesen unglücklichen, ausgehungerten Menschen. Meine Großmutter, bei der ich, wie schon gesagt, erzogen ward, ließ täglich mehrere Körbe voll Grünkohl in unserm Garten pflücken, kochte einen Kessel voll nach dem andern für unsre verschmachtenden Gäste, und mir ward das gern übernommene Ehrenämtchen zuteil, ihnen diese Speise in kleinen Schüsselchen nebst einer Brotschnitte zuzutragen. Da rissen mir denn Alte und Junge meinen Napf begierig aus der Hand oder auch wohl untereinander selbst vor dem Munde weg. Ich kann nicht aussprechen, welch einen schauderhaften Eindruck diese Szene auf meine kindliche Seele machte!

Endlich langte ein Schiff mit Roggen auf der Reede an, dem sich tausend sehnsüchtige Augen und Herzen entgegenrichteten. Aber o Jammer! beim Einlaufen in den Hafen stieß es gegen eine Steinkiste des Hafendammes und nahm so beträchtlichen Schaden, daß es im Strome selbst nur wenige hundert Schritte weiter der Münder Vogtei gegenüber in den Grund sank. Sollte die kostbare Ladung nicht ganz verloren sein, so mußten schleunige Anstalten getroffen werden, das verunglückte Fahrzeug wieder über Wasser zu bringen. Dazu wurden denn zwei Schiffe benutzt, die eben auch im Hafen lagen, und wovon das eine von meines Vaters Bruder geführt wurde. So war ich denn auch bei diesem Emporwinden, an welchem ich eine kindische Freude hatte, beständig zugegen, ward mitunter auch wohl als unnütz und hinderlich über Seite geschoben und habe darüber alle diese einzelnen Umstände nur um so besser im Gedächtnis behalten.

Ging nun gleich das Wiederflottmachen des Schiffes glücklich vonstatten, so war doch das Korn durchnäßt, zum Vermahlen untüchtig und die Hoffnung all der darauf vertrösteten Menschen vereitelt. Die Kolberger Bürger kauften den beschädigten Roggen um ein Viertel des geltenden Marktpreises; und da mein Vater damals königlicher Kornmesser im Orte war, so ging auf diese Weise die[2] ganze geborgene Ladung durch seine Hände. Jeder suchte mit seinem Kaufe so gut als möglich zurechtzukommen und ihn aufs schnellste zu trocknen. Alle Straßen waren auf diese Weise mit Laken und Schürzen überdeckt, auf welchen das Getreide der Luft und Sonne ausgesetzt wurde. Kurze Zeit darauf erschien ein zweites großes Kornschiff, und nun ward es endlich möglich, die fremde Armut zu befriedigen.

Im nächstfolgenden Jahre erhielt Kolberg aus des großen Friedrichs vorsorgender Güte ein Geschenk, das damals hierzulande noch völlig unbekannt war. Ein großer Frachtwagen nämlich voll Kartoffeln langte auf dem Markte an, und durch Trommelschlag in der Stadt und in den Vorstädten erging die Bekanntmachung, daß jeder Gartenbesitzer sich zu einer bestimmten Stunde vor dem Rathause einzufinden habe, indem des Königs Majestät ihnen eine besondere Wohltat zugedacht habe. Man ermißt leicht, wie alles und jedes in eine stürmische Bewegung geriet, und das nur um so mehr, je weniger man wußte, was es mit diesem Geschenke zu bedeuten habe.

Die Herren vom Rate zeigten nunmehr der versammelten Menge die neue Frucht vor, die hier noch nie ein menschliches Auge erblickt hatte. Daneben ward eine umständliche Anweisung verlesen, wie diese Kartoffeln gepflanzt und bewirtschaftet, desgleichen wie sie gekocht und zubereitet werden sollten. Besser freilich wäre es gewesen, wenn man eine solche geschriebene oder gedruckte Instruktion gleich mit verteilt hätte; denn nun achteten in dem Getümmel die wenigsten auf jene Vorlesung. Dagegen nahmen die guten Leute die hochgepriesenen Knollen verwundert in die Hände, rochen, schmeckten und leckten daran; kopfschüttelnd bot sie ein Nachbar dem andern; man brach sie voneinander und warf sie den gegenwärtigen Hunden vor, die daran herum schnupperten und sie gleichmäßig verschmähten. Nun war ihnen das Urteil gesprochen! »Die Dinger«, hieß es, »riechen nicht und schmecken nicht, und nicht einmal die Hunde mögen sie fressen. Was wäre uns damit geholfen?« Am allgemeinsten war dabei der Glaube, daß sie zu Bäumen heranwüchsen, von welchen man zu seiner Zeit ähnliche Früchte herabschüttle. Alles dies ward auf dem Markte dicht vor meiner Eltern Tür verhandelt, gab auch mir genug zu denken und zu verwundern und hat sich darum auch bis aufs Jota in meinem Gedächtnis erhalten.

Inzwischen ward des Königs Wille vollzogen und seine Segensgabe unter die anwesenden Garteneigentümer ausgeteilt nach Verhältnis ihrer Besitzungen, jedoch so, daß auch die Geringeren nicht unter einigen Metzen ausgingen. Kaum irgend jemand hatte die erteilte Anweisung zu ihrem Anbau recht begriffen. Wer sie also nicht geradezu in seiner getäuschten Erwartung auf den Kehrichthaufen warf, ging doch bei der Auspflanzung so verkehrt als möglich zu Werke. Einige steckten sie hie und da einzeln in die Erde, ohne sich weiter um sie zu kümmern;[3] andere (und darunter war auch meine liebe Großmutter mit ihrem ihr zugefallenen Viert) glaubten das Ding noch klüger anzugreifen, wenn sie diese Kartoffeln beisammen auf einen Haufen schütteten und mit etwas Erde bedeckten. Da wuchsen sie nun zu einem dichten Filz ineinander, und ich sehe noch oft in meinem Garten nachdenklich den Fleck drauf an, wo solchergestalt die gute Frau hierin ihr erstes Lehrgeld gab.

Nun mochten aber wohl die Herren vom Rat gar bald in Erfahrung gebracht haben, daß es unter den Empfängern viele lose Verächter gegeben, die ihren Schatz gar nicht einmal der Erde anvertraut hätten. Darum ward in den Sommermonaten durch den Ratsdiener und Feldwächter eine allgemeine und strenge Kartoffelschau veranstaltet und den widerspenstig Befundenen eine kleine Geldbuße aufgelegt. Das gab wiederum ein großes Geschrei und diente auch eben nicht dazu, der neuen Frucht an den Bestraften bessere Gönner und Freunde zu erwecken.

Das Jahr nachher erneuerte der König seine wohltätige Spende durch eine ähnliche Ladung. Allein diesmal verfuhr man dabei höheren Orts auch zweckmäßiger, indem zugleich ein Landreiter mitgeschickt wurde, der, als ein geborner Schwabe (sein Name war Eilert, und seine Nachkommen dauern noch in Treptow fort), des Kartoffelbaues kundig und den Leuten bei der Auspflanzung behilflich war und ihre weitere Pflege besorgte. So kam also diese neue Frucht zuerst ins Land und hat seitdem durch immer vermehrten Anbau kräftig gewehrt, daß nie wieder eine Hungersnot so allgemein und drückend bei uns hat um sich greifen können. Dennoch erinnere ich mich gar wohl, daß ich erst volle vierzig Jahre später (1785) bei Stargard zu meiner angenehmen Verwunderung die ersten Kartoffeln im freien Felde ausgesetzt gefunden habe.

Doch es ist wohl Zeit, daß ich von diesen langen Abschweifungen wieder in meine goldnen Jugendjahre und zu meinen damaligen Lieblingsbeschäftigungen zurückkehre!

Bei manchen andern Kindereien war ich auch ein großer Liebhaber von Tauben. Von meinem Fxühstücksgelde sparte ich mir so viel am Munde ab, daß ich mir ein Paar kaufen konnte. Das war nun eine Herrlichkeit! Da aber meine Großeltern unter dem Posthause bei Herrn Frauendorf wohnten, so gab es hier keine Gelegenheit, die Tauben ausfliegen zu lassen. Ich machte daher mit dem sogenannten »Postjungen«, Johann Witte (nachherigem Post- und Bankodirektor in Memel), einen Akkord, daß er meine Tauben zu sich nehmen, ich aber täglich eine gewisse Portion Erbsen zum Füttern hergeben sollte, die ich meinen Großeltern leider heimlich in den Taschen wegtrug. Die Tauben vermehrten sich, hinfolglich auch die Futtererbsen.

Bei all diesen Spielereien ward (wiederum leider!) die Schule versäumt: ich[4] hatte weder Luft noch Zeit dazu. Wenn meine Großmutter meinte, ich säße fleißig auf der Schulbank, so schiffte ich in Rinnsteinen und Teichen oder ich verkehrte mit meinen Tauben, und das machte mir so viel zu schaffen, daß ich weder bei Tage noch bei Nacht davor ruhen konnte. Diese unruhige Geschäftigkeit hat mich auch nachmals in mein männliches Wesen bei weit wichtigern Dingen und selbst bis in mein Alter verfolgt. Freilich wohl habe ich mir dabei weniger für mich als für andere meiner Mitmenschen zu tun und zu sorgen gemacht.

Einigen Vorschub zu diesen Possen tat mir auch wohl Pate Runge, der nicht Frau noch Kinder hatte, mich sehr liebte und sich viel mit mir abgab. Endlich aber nahm er mich einmal etwas ernsthafter ins Verhör (wie auch zuweilen von Pate Grüneberg geschah) und gab mir zu bedenken, daß, wenn ich Schiffer werden wollte, so müßte ich auch fleißig in die Schule gehen, eine firme Hand schreiben und gut rechnen lernen, sonst dürfte ich nie an so etwas denken. Mir fuhr das gewaltig aufs Herz. Ich sann nach, was denn wohl von meinem jetzigen Tun und Treiben abgestellt werden müßte. – Was anders als meine Tauben, die mir so viel Zeit kosteten und doch so sehr am Herzen lagen! Wie ich es aber auch bedenken mochte, so war es doch nicht anders: – ich mußte meine lieben Tierchen fahren lassen, die sich indes ansehnlich vermehrt hatten! Dies geschah denn auch mittels eines förmlichen schriftlichen Kontrakts, wodurch ich den Johann Witte kindischerweise zu ihrem alleinigen Herrn und Besitzer einsetzte.

So war ich also meine Tauben los, und nun kriegt ich einen so brennenden Trieb zur Schule, daß mich die Lernbegierde auf all meinen Schritten und Tritten verfolgte. Ich wollte und mußte ja ein Schiffer werden! Auch alle meine heiligen Christgeschenke, woran es meine Herren Paten nicht fehlen ließen, hatten immer eine Beziehung auf die Schifferschaft. Bald war es ein runder holländischer Matrosenhut, bald lange Schifferhosen, bald wieder Pfefferkuchen als Schiffer geformt u. dgl.

So mochte es etwa in meinem achten Jahre sein, als Pate Lorenz Runge mir unter andern Weihnachtsbescherungen auch eine Anweisung zur Steuermannskunst in holländischer Sprache verehrte. Dies Buch machte meine Phantasie so rege, daß ich Tag und Nacht für mich selbst darin studierte, bis mein Vater ein näheres Einsehen hatte und mir bei einem hiesigen Schiffer namens Neymann zwei wöchentliche Unterrichtstage in jener edeln Kunst ausmachte. Dagegen blieben die andern vier Tage noch zum Schreiben und Rechnen bei einem andern geschickten Lehrer namens Schütz bestimmt. Ein Jahr später aber ward die Steuermannskunst die Hauptsache und alles andere in die Neben- und Privatstunden verwiesen.

Mein Eifer für diese Sache ging so weit, daß ich im Winter oftmals bei strenger Kälte, wenn des Nachts klarer Himmel war, und wenn meine Eltern[5] glaubten, daß ich im warmen Bette steckte, heimlich auf den Wall und die hohe Katze 3 ging, mit meinen Instrumenten die Entfernung der mir bekannten Sterne vom Horizont oder vom Zenit maß und darnach die Polhöhe berechnete. Dann, wenn ich des Morgens erfroren nach Hause kam, verwunderte sich alles über mich und erklärte mich für einen überstudierten Narren. Schlimmer aber war es, daß man mich nun des Abends sorgfältiger bewachte und mich nicht aus dem Hause ließ. Dennoch suchte und fand ich oftmals Gelegenheit, bei Nacht wieder auf meine Sternwarte zu kommen; was mir aber, wenn ich mich morgens wieder einstellte, von meinem Vater manche schwere Ohrfeige einbrachte.

Ähnlicher Lohn ward mir auch sonst noch für ähnlichen Eifer! Zu oft hatte ich gehört, daß ein Seemann vor allen Dingen gut klettern lernen müsse, um die Masten bei Tag und Nacht zu besteigen, als daß ich nicht hätte begierig werden sollen, mich darin beizeiten zu üben. Hierzu fand sich eine erwünschte Gelegenheit durch die nähere Bekanntschaft mit dem Sohne des damaligen Glöckners. Er war in meinen Jahren, hieß David und wollte auch Schiffer werden. Mit diesem machte ich mich außer der Schulzeit auf den Boden der großen Kirche in das Sparrwerk und die Balkenverbindungen bis hoch unter das kupferne Dach hinaus. Hier stiegen und krochen wir überall herum, daß wir uns in der gewaltigen Verzimmerung dieses großen Gebäudes oftmals dergestalt verirrten, daß einer vom andern nichts wußte. Kamen wir dann wieder zusammen, so konnten wir nicht genug erzählen, wo wir gewesen waren und was wir gesehen hatten.

Bald ging es nun zu einem Wagstück weiter. Auch in die Spitze des Turms krochen wir in dem inwendigen Holzverbande hinauf – so hoch, bis wir uns in dem beengten Raume nicht weiter rühren konnten. Aber eben diese Gewandtheit und Ortskenntnis kam mir in der Folge recht gut zustatten, um hier in der äußersten Spitze, wo ein Wetterstrahl am 28. April 1777 gezündet hatte, das Feuer löschen zu können; wie ich zu seiner Zeit weiter unten erzählen werde.

Und nunmehr genügte es uns nicht, bloß innerhalb uns von Balken zu Balken zu schwingen, es sollte auch außerhalb des Gebäudes geklettert werden! So machten wir uns denn auf das kupferne Dach, stiegen bei den Glocken aus den Luken auf das Gerüst, von da auf den First des kupfernen Kirchendaches, und indem wir darauf wie auf einem Pferde ritten, rutschten wir längshin vom Turm bis an den Giebel und auf gleiche Weise wieder zurück. Ein paar hundert Zuschauer gafften drunten zu unserer großen Freude nach uns beiden jungen Wagehälsen in die Höhe. Auch mein Vater war, ohne daß ich es wußte, unter dem Haufen gewesen, und so konnte es nicht fehlen, daß mich bei meiner Heimkunft für diese Heldentat eine derbe Tracht Schläge erwartete.

Aber die Luft zu einem wiederholten Versuche war mir dennoch nicht ausgetrieben worden! Ich lauerte es nur ab, daß mein Vater verreist war, und an[6] einem schönen Sommertage nachmittags um vier Uhr, als ich der Zucht des Herrn Schütz entlaufen war, konnte ich nicht drum hin, meinen lieben Turm wieder zu besuchen. Ein Schulkamerad, David Spårke, eines hiesigen Schiffers Sohn, leistete mir Gesellschaft. Diesen beredete ich, den Ritt auf dem Kirchendache mitzumachen. Ich zuerst stieg aus der Luke auf das Gerüst und von da auf den First des Daches. David Spärke kam mir zuversichtlich nach, da er mich so flink und sicher darauf hantieren sah.

Allein kaum war er mir sechs oder acht Fuß nachgeritten, so überfiel ihn plötzlich eine Angst, daß er erbärmlich zu schreien begann, sich zu beiden Seiten an den kupfernen Reisen festklammerte und nicht vor-nicht rückwärts kommen konnte. Ich kehrte mich nach ihm um, kam dicht zu ihm heran, und hier saßen wir nun beide, sahen uns betrübt ins Gesicht und wußten nicht wo aus noch ein. Er wagte es nicht, sich umzudrehen: ich konnte an ihm nicht vorbeikommen. Dabei hörte er nicht auf, in seiner Seelenangst aus vollem Halse zu schreien. Auf der Straße gab es einen Zusammenlauf und bald auch Hilfe. Denn der alte Glöckner mit seinem Sohne und mehreren andern kamen auf den Turm und zogen meinen Freund David mit umgeworfenen Leinen rücklings nach dem Gerüst und so vollends in die Luke hinein. Ich aber folgte wie ein armer Sünder zitternd und bebend nach.

Des nächsten Tages kam mein Vater wieder nach Hause, und da gab es denn, wie zu erwarten war, rechtschaffene, aber verdiente Prügel. Damit aber nicht genug, meinte auch Herr Schütz, mein Lehrer, es müsse hier der übrigen Schulkameradschaft wegen noch ein anderweitiges Beispiel zu Nutz und Lehre statuiert werden und bat sich's bei meinem Vater aus, gleichfalls noch Gericht über mich halten zu dürfen. Das ward ihm gern bewilligt. Meine Strafe bestand in einem dreitägigen Quartier in dem dunkeln Karzer auf dem Schulhofe. Hier ward ich nachmittags, sobald die Schulzeit abgelaufen war, eingesperrt und immer erst morgens um acht Uhr, als die Schule wieder anging, herausgelassen. Nur mittags durfte ich nach Hause gehen, um zu essen; aber schon in der nächsten Stunde auf meiner Schulbank mich einfinden und um vier Uhr meine traurige Wanderung in die Finsternis wieder antreten.

Nächst der Unbequemlichkeit einer einzigen täglichen Mahlzeit bei einem (Gott weiß es) gesegneten Appetite, war's meine größte Qual und Not, daß ich die Scham und Schande nicht bemeistern konnte, von den andern Schulbuben über mein Abenteuer noch ausgelacht zu werden. Niemand hatte Mitleid mit meinem Unstern, ausgenommen ein einziges gutherziges Mädchen, die älteste Tochter des Kaufmanns Hexrn Seeland. (Wenn ich mich recht entsinne, nannte man sie Dörtchen.) Dörtchen also steckte mir den letzten Abend, mit Tränen in den Augen, ihre Semmel zu, konnt' es aber nicht so heimlich abtun, daß es nicht[7] von den andern wäre gesehen und verraten worden. Die Semmel ward mir vom Lehrer wieder abgenommen und konfisziert. Ich weinte, sie weinte; Herr Schütz selbst konnte sich dessen nicht erwehren. Ich bekam meine Semmel zurück, aber bloß – wie er hinzusetzte –, um das gute Kind zu beruhigen. – Ich habe nachher im Jahre 1782 (also nach Verlauf von vierundreißig Jahren!) die Freude gehabt, dieses nämliche Dörtchen Seeland in Memel wieder anzutreffen. Ihre Eltern waren in ihrem Wohlstande zurückgekommen, den sie damals durch eine Auswanderung nach Rußland zu verbessern hofften. Ich hatte jene Semmel noch nicht vergessen, und es hat mir wohlgetan, sie einigermaßen vergelten zu können.[8]

Quelle:
Nettelbeck, Joachim: Eine Lebensbeschreibung, von ihm selbst aufgezeichnet. Meersburg, Leipzig 1930, S. 1-9.
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Ausgewählte Ausgaben von
Eine Lebensbeschreibung, von ihm selbst aufgezeichnet
Joachim Nettelbeck, Burger Zu Colberg (3); Eine Lebensbeschreibung, Von Ihm Selbst Aufgezeichnet
Bürger zu Kolberg: Eine Lebensbeschreibung, von ihm selbst aufgezeichnet

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