Aufgalopp. Schleppen. Handschuhtragen.

[166] Der Tanz soll ein Vergnügen sein; im Tanzsaal muß ein flottes, fröhliches Treiben herrschen. Es sieht ängstlich und langweilig aus, wenn ein Tänzer-Paar nicht den Anfang finden kann, sich zum Tanzen gefaßt hält, die Füße zum ersten Tanzschritt vorsetzt und wieder zurückzieht, bis die Postkutsche endlich losgeht. Wenn auch der erste Schritt im falschen Takt gemacht wird: nicht zaghaft innehalten und stehen bleiben, sondern mutig weiter, man wird schon – früher oder später – in den Takt der Musik hineinstolpern! Der elegante, parkettsichere Tänzer macht der Dame eine langsame, ruhige Verbeugung, faßt, sobald die Dame ihr Zustimmungszeichen zum Tanzen gegeben hat,[166] ihre Taille mit seinem rechten Arm und führt in demselben Moment die Dame nach dem Takte der Musik einen oder mehrere Schritte geradeaus vor; er ergreift mit seiner Linken die rechte Hand der Tänzerin erst, wenn er in der Vorwärtsbewegung Platz zum Beginn des Rundtanzes, des Herumdrehens nach dem Takt der Musik, gefunden hat. Diese Einleitung zum eigentlichen Rundtanze, die in den vornehmsten Kreisen üblich ist, bezeichnet man mit »Aufgalopp«, einem dem Rennsport entlehnten Ausdruck. In sehr vollen Tanzsälen, wo während des Tanzes die momentan ausruhenden Paare, oft dicht gedrängt, in einem oder mehreren Kreisen nebeneinander stehen, ist es meist schwierig, sich sofort im Rundtanze herumzudrehen, und ein offenes Vorwärtsschreiten, bei dem der Tänzer nur mit der Rechten die Dame und zwar deren Taille hält, – also der oben beschriebene Ausgelopp bis zu einer freien Stelle in die Mitte des Saales hinein – ist dann entschieden auch praktisch. Manche dehnen diesen Aufgalopp oft durch den halben Saal hindurch aus. Dies »Zuviel« sieht bei dem einen Paar nett und flott, bei einem anderen ungeschickt und geziert aus – und zwar Letzteres[167] natürlich nur eben bei einem anderen Paar, denn von sich selbst glaubt sicher fast jedes tanzende Geschöpf, daß Alles, wie man es eben selbst macht, gut aussieht. Leute, die sonst eine vorzügliche Körperhaltung haben, reserviren sich oft ausschließlich für das Tanzen irgend eine körperliche Untugend. Die Dame hält den Kopf schief nach unten geneigt, der Herr zieht die eine Schulter krampfhaft hoch, und diese Verrenkung wird vielfach konsequent durchgebogen, so oft und so lange man tanzt.

Engagirt man eine Dame, die sich in einer der hinteren Reihen des Zuschauerkreises befindet, zum Tanz, so bietet man ihr seinen rechten Arm an, die Dame hakt sich ein, und man führt sie durch die Zuschauer-Reihen gewandt und langsam hindurch bis in den zum Tanzen bestimmten Raum des Saales. Wie ich schon früher einmal über das Führen der Dame durch den Herrn betonte, sieht es höchst ungeschickt aus und ist den Regeln der Etikette zuwider, wenn der Herr sich von der Dame scheinbar ziehen läßt. Behält in engen Passagen – also auch hier beim Hindurchschlängeln durch Zuschauer im Tanzsaal – der Herr seine Dame am Arme, so hat der Herr,[168] als der Führer, voranzugehen, sobald Beide des engen Raumes wegen nicht in gleicher Höhe bleiben können. Namentlich im hier erwähnten Fall, im Tanzsaal, hat der Herr auch deshalb voranzugehen, weil er die vor ihm Stehenden eventuell bitten muß, Platz zu machen, um seine Dame hindurchführen zu können.

Man soll sich beim Tanzen zwar aufrecht, aber nicht gezwungen und steif halten. Man kann flott tanzen, aber dabei einen ruhigen sicheren Eindruck machen. Man wiege sich nach dem Takt der Musik in den Hüften, aber bewege nicht den Kopf während des Tanzes hin und her. Der gewandte Tänzer vermeidet thunlichst jedes Hopfen und Springen, er gleitet mit größeren oder kleineren Schritten auf dem Parkett einher, hebt und senkt sich dabei auf den Fußspitzen, die den Fußboden nicht verlassen.

Jedes Springen des Tänzers gefährdet auch die Schleppe seiner Partnerin, oder in einem sehr vollen Tanzsaal auch die Schleppen anderer Damen. Die unseligen Schleppen! Wahrscheinlich will man die Kleiderstoffhändler nicht zu kurz kommen lassen. Da man oben mit Stoff spart und den oberen Rand des Kleides etwas[169] weit nach unten verlegt, verfährt man am unteren Rande des Kleides um so verschwenderischer. Weshalb tragen nicht zum Mindesten die tanzenden Damen fußfreie Kleider? Haben sie denn alle zu große Füße? Und wenn schon, weshalb sind sie dann nicht auch so ehrlich, wie wir Herren, die großen Füße, auf denen man nun einmal lebt, ruhig zu zeigen? Solange kein Geheimbund von Herren ins Leben gerufen ist, mit dem edlen Zweck, alle Schleppen kalten Mutes mit dem Anschein eines Versehens herunterzutreten, solange hüte man sich natürlich sorgfältigst vor diesem unpraktischen Anhängsel. Beschädigt man es dennoch, so stammle man einige Entschuldigungsworte. Bevor man aber die Versicherung giebt, daß Einem das noch nie passirt, überlege man sich, ob es Einem wenigstens bei derselben Dame noch nie passirt ist. Die Geschädigte denke immerhin: »Nein, so ein Tölpel,« aber sage wohlweislich Nichts dergleichen, auch nicht einmal, daß sie heute gerade ihr bestes Ballkleid anhabe. Es ist ja dies nicht nur etikettenwidrig, sondern auch zwecklos. Weder Worte des Unmutes noch auch ein dementsprechendes Mienenspiel heften den abgerissenen Kleiderfetzen wieder an. Hin[170] ist hin! Man muß sich mit Anstand, das heißt mit Gleichmut, mit wirklichem oder scheinbarem – letzteres ist sogar heroisch –, die Schleppe abtreten lassen, mit Tunke aus schief gehaltenem Gefäß begießen, mit Talgflecken von schiefen Lichtern betropfen lassen und was es sonst noch für Annehmlichkeiten im Gesellschaftsleben giebt.

Im Handschuhtragen sind wir Herren jetzt sehr leger geworden. Beim Eintritt in eine Gesellschaft, sei es nun, daß wir diniren oder tanzen oder gar beider Mühen uns unterziehen sollen, darf der Herr in den vornehmsten Kreisen unbehandschuht erscheinen. Vielfach wird es geradezu als altmodische Pedanterie angesehen, wenn ein Herr mit dem Chapeau-Claque oder dem Klappzylinder bewaffnet und mit Handschuhen an den Händen eintritt. Da man den Hut gewöhnlich im Korridor ablegt, kann man also auch im gewöhnlichen Filz- oder meinetwegen Strohhut in Gesellschaft gehen. Für räumlich normale Köpfe ist sogar ein recht alter Filz empfehlenswert, um bei den oft vorkommenden Verwechselungen einen guten Tausch zu machen. Mein Spezialgeschmack ist: Entweder beide Handschuhe anzuhaben oder [171] keinen und dann die Handschuhe überhaupt nicht zum Vorschein zu bringen. Die eine Hand behandschuht und die andere barhändig beim Eintritt in die Gesellschaft zu präsentiren, mit dieser Finesse prunkte der seine Emil früherer Zeiten. Sinn hat es eigentlich nicht gehabt; trotzdem – nicht etwa gerade deswegen – war es ziemlich verbreitet. Aber auch beide Handschuhe in den Händen zu halten, finde ich recht überflüssig; es erweckt in mir immer den Verdacht einer harmlosen Protzerei, als wollte der betreffende Herr damit sagen: »Wenn wir sie auch nicht anziehen, Handschuhe besitzen wir – Gott sei Dank – doch.« Dies ist, wie gesagt, mein Spezialgeschmack, aber ich habe sicher auch Gleichgesinnte in diesem hochwichtigen Punkte. Sogar darüber, daß Herren beim Tanzen keine Handschuhe tragen, sieht man jetzt im Allgemeinen hinweg. Jeder tanzende Herr sollte aber Handschuhe bei sich haben und sie jedenfalls anziehen, sobald er merkt, daß die Wärmetemperatur seiner Hände einer einigermaßen empfindsamen Dame unangenehm sein könnte. Ausnahmsweise habe ich auch Damen ohne Handschuhe auf Bällen tanzen sehen. Das ist immerhin eine riskante Sache für eine[172] Dame, die ein strenges Urteil über sich selbst seitens Anderer vermeiden will. Einem Verehrer der betreffenden Dame wird dies als eine »allerliebste« Zwanglosigkeit erscheinen, Andere aber werden vielleicht anders, so ganz anders, darüber urteilen. Zur Balltoilette der Dame gehören eben Handschuhe; natürlich auf Kostümfesten werden die Zigeunerin, das Schützenliesl, das Ungarn-Mädel und andere ländliche Damen, ihrer Maske entsprechend, keine Handschuhe tragen, ebenso wie z.B. ein maskirter Schornsteinfeger sich ohne Monokle präsentiren muß. Als ich, etliche Lenze sind inzwischen schon dahingeblüht, meine ersten Bälle mitmachte, empfahl mir ein der Tricks eines Salonlöwen besonders kundiger Verwandter, immer mit zwei Paar Handschuhen auf den Ball zu gehen; das wäre ja noch nichts ganz Abnormes, aber das Kniffliche kommt noch. Die weniger guten Handschuhe, die schon öfter gewaschenen, sollte ich zuerst anziehen, mit der besseren Garnitur, den ganz oder fast nagelneuen, am Ende der Tanzerei, beim Kotillon, paradiren, wenn die anfänglich auch weißen Handschuhe der Anderen schon bedenklich zur anderen Preußenfarbe, zum »Schwarz«, hinüberneigten. Aehnlich verfahren[173] Damen, die natürliche Blumen tragen und sich in der Garderobe eine zweite Garnitur frischer Blumen zum Umwechseln reserviren.

Billiger in ihrer Befolgung – im Verhältnis zum »Zwei Paar Handschuh-System« – ist eine andere Vorschrift, die ich damals aus derselben, von mir sehr hoch geschätzten, Quelle schöpfte, nämlich die Vorschrift, wie der Gentleman zu tanzen aufhört. Ost sieht man, daß der Herr bei Beendigung eines Rundtanzes zunächst die Taille der Dame, die er mit seiner Rechten gefaßt hält, los läßt, und dann erst während der Verbeugung mit seiner Linken die rechte Hand der Dame drückt oder gar schüttelt oder ruckartig ein mal anhebt und senkt. Letzteres gilt in der vornehmen Welt für besonders unelegant. Der tanzende Gentleman, der sich besonders chic benehmen will, läßt am Schluß des Rundtanzes zuerst die rechte Hand der Dame los und kommt auf diese Weise gar nicht in die Versuchung, ihre Hand vertraulich zu drücken; dann erst, im Moment, wo er anhält – d.h. still steht, nicht etwa seinen Heiratsantrag macht – und das Gefühl hat, die Dame wankt und weicht nimmer, sondern steht fest auf ihren unsinnigerweise oft recht[174] hohen Absätzen, dann erst läßt er mit seiner Rechten die Taille der Dame los und macht seine Verbeugung, entweder eine stumme oder höchstens begleitet von einem kurzen »Ich danke sehr« oder »Ich danke gehorsamst«, wenn er's ganz schön machen will. Die Dame neigt am besten nur wenig und stumm ihren Kopf. Eine etwaige Antwort »Ich habe zu danken« oder das noch in höherem Grade triviale »Ganz auf meiner Seite« lasse man lieber als Höflichkeitsergüsse auf den Schützenball in Posemuckel oder die Tanzlokale von Rixdorf, Pankow und ähnliche Bildungsstätten beschränkt. Schon die ewige Anrede »Gnädiges Fräulein« muß demselben doch nahelegen, daß es die Rolle der Gnädigen auch zu spielen hat. Eine Gnädige dankt aber nicht, sondern nimmt gnädigst nur den Dank Desjenigen entgegen, dem sie die Gnade, mit ihm zu tanzen, gnädigst gewährt hat.

Natürlich wird die Dame aber dann ein vernehmbares »Danke« oder »Danke sehr« hauchen, wenn der Tänzer den Rundtanz länger ausdehnt, als ihr recht ist. Ein gewandter, wirklich taktvoller Herr wird kein Nagel zum Sarge der Damen sein wollen. Sein Taktgefühl oder,[175] einfacher gesagt, das Herz im Busen, wird ihn Rücksicht auf die Lungen der Damen nehmen lassen, wird ihn veranlassen, den Rundtanz von selbst zur rechten Zeit zu beenden, und mit keiner Dame loszuwetzen, die es scheinbar noch nötig hat, sich von einer eben beendeten Tanztour zu erholen. Dadurch kann ein Herr sicher auch die Zuneigung einer erhofften Schwiegermutter erringen, wenn sie eine zärtliche Mutter ist.[176]

Quelle:
Pilati, Eustachius Graf von Thassul zu Daxberg: Etikette-Plaudereien. Berlin 3[1907], S. 166-177.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der Weg ins Freie. Roman

Der Weg ins Freie. Roman

Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.

286 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon