|
[69] Vergnügt fuhr Jochen Voß mit mir davon. Bald hatten wir das Hamburg-Altonaer Häusergewirr hinter uns und passierten den Ochsenzoll. Dann ging's im gemütlichen Schuckeltrab immer Chaussee lang. Mein nunmehriger Arbeitgeber war der Typus eines holsteinischen Kleinbauern; reichlich mittelgroß, kräftig, gutmütig. Die großen schwieligen Hände zeugten von schwerer Arbeit. Das Gesicht war – bis auf die übliche Bartkrause unter dem Kinn – glattrasiert; im Munde stak die Knasterpfeife. Er war recht gesprächig auf dem langen Wege. Besonders spaßhaft erschien es ihm, daß ich das holsteinische Platt nicht völlig verstand; mein hinterpommersches Platt erklärte er ohne weiteres für »polacksch«. Auf meine häufigen Nachfragen versuchte er dann, mir seine Künstlerausdrücke ins Hochdeutsche zu übersetzen, was nun allerdings wieder bei mir eine nicht zu unterdrückende Heiterkeit wachrief. Die ganze Art aber, wie sich dieser einfache Mann mit mir unterhielt, war von vornherein geeignet, Zutrauen einzuflößen, und ich muß gestehen, daß ich mir schon während der ersten paar Stunden unserer gemeinsamen Fahrt gar nicht mehr so fremd vorkam.
In wohlwollender Teilnahme erkundigte er sich nach meinem Vorleben, sowie nach den ländlichen Verhältnissen meiner Heimat; er wiederum erzählte mir einiges über seine eigenen kleinbäuerlichen Verhältnisse. So erfuhr ich denn schon unterwegs von ihm, daß er nur eine kleine sogenannte »Twee-Peers-Städ« (Zwei-Pferde-Stelle) besaß, die zum Teil aus Moorland bestand. Da er den hieraus gewonnenen Torf in den umliegenden Kleinstädten wie Barmstedt, Bramstedt, Pinneberg, Segeberg oder Oldesloe nur schlecht loswerden konnte, so fuhr er damit am liebsten nach Hamburg-Altona oder Ottensen. Wenn auch der Weg einige Meilen weiter war, so machte sich die Fahrt dahin doch leidlich bezahlt, weil in diesen Großstädten der Bedarf an Brennmaterial naturgemäß ein ungleich größerer war, wie in den angeführten[70] kleineren Orten. Für seine acht Kühe und die paar Stück Jungvieh hatte er sonst immer rechtzeitig einen »Kohhar« aus der Umgegend bekommen, doch das Jahr waren die Jungens knapp gewesen. Deshalb hatte er sich auch kürzlich an den ihm bekannten Vater Nissen gewandt, damit ihm dieser einen »Hambörger« besorgen sollte. Zufällig war ich nun dieser Hambörger geworden. Daß ich dem Agenten »ausgehakt« war, belustigte ihn offenbar, hatte er dadurch doch jetzt den gewünschten Kuhhirten erhalten. Bei solchen Erörterungen sagte Jochen Voß nachdenklich zu mir: »Merkwürdig, hier von't Holsten geiht allens na Amerika, un von Pummern un Oostpreußen un Poolen kamt de Lüd hier wedder her; dat mut bi ju de achter doch 'n bannig schlechte Gegend sin.« »Na, lat man, min Jung«, setzte er hinzu, »dat löppt sich vör dy allens torecht; mit de Tid warst du dat hier allens an, wenn du't man ärst wennt bist.« Das glaubte ich allerdings auch.
Spät in der Nacht langten wir auf der Hofstelle an, und des Morgens konnte ich mich auf meiner ersten holsteinischen Arbeitsstelle etwas näher umsehen. Das Gehöft bestand aus Wohnhaus, Scheune und einem kleinen Schuppen. Alles war mit Stroh gedeckt und hatte ein etwas altertümliches Aussehen. Das Wohnhaus war noch ein sogenanntes »Rauchhaus« alten Stils, ohne Schornstein; ein rechteckiger Kasten mit niedrigen Wänden, kleinen Fenstern und unverhältnismäßig hohem Dach. Den vorderen Teil nahmen zwei Stuben, die Küche und zwei Kammern ein, von denen die eine als Vorrats-, die andere als Milchkammer diente. Die Küche bildete eine Sehenswürdigkeit für sich. Es läßt sich kaum ein Raum voll größerer Kontraste denken, wie die Küche eines holsteinischen Rauchhauses. Dort, auf den Regalen, sieht man das gesamte Küchengeschirr sauber und blitzblank, Stück für Stück in schönster Ordnung aufgereiht; und hier starren uns Wände und Decke in einem undefinierbaren rußigen Schwarz entgegen, fast wie in einer Schmiede. Den Seiten des Herdes bleibt man am besten fern, sonst klebt man gar zu leicht an dem teerigen »Sott« fest, der in dickflüssigen Rinnsalen nicht nur das Innere, sondern teilweise auch das Äußere des geräumigen[71] Herdloches bedeckt. Es gehört schon die Geschicklichkeit einer holsteinischen Bäuerin oder einer »fixen Deern« dazu, um bei den vielen Hantierungen in der Küche nicht die Farbe eines Schornsteinfegers anzunehmen. Doch das rußige Aussehen von Küche und Umgegend hat seinen sehr natürlichen Grund. Da es, wie bereits erwähnt, an einem Schornstein mangelt, so muß sich der täglich erzeugte Rauch einen Ausweg suchen, wo er ihn findet, und er findet ihn nur sehr langsam durch Fenster, Türen oder Bodenluken. Dabei kann es denn weiter nicht wundernehmen, daß im Hause tatsächlich alles geräuchert wird, nicht nur die Schinken, Würste und Speckseiten, die auf der Lohdiele dicht vor der Küche an Stangen aufgehängt sind, sondern auch das Heu, Stroh und Korn auf dem Boden. Und dennoch: schließlich hat dieser Rauch gar nichts Unangenehmes oder Widerwärtiges an sich; im Gegenteil, er erfüllt das ganze Haus mit jenem eigentümlich würzigen Duft, der einer städtischen Nase immer erst als vollwertiges Charakteristikum eines richtigen Bauernhauses gilt, besonders wenn er noch mit den aromatischen Gerüchen des Kuhstalls vermischt ist; ein Duft, den vor allem fechtende Handwerksburschen als außerordentlich einladend zu schätzen wissen.
Als eine ganz neuartige Erscheinung in den Einrichtungen dieses Bauernhauses – die ich erst später natürlich als ganz allgemein verbreitet fand – erschienen mir vor allem auch die Schlafstellen. Stehende Bettladen nach hinterpommerscher Art gab es hier nicht, dagegen herrschte hier das System der Bettkasten. Diese sind längsseits der Wand angebracht und mit einer von oben bis nach unten reichenden Holzverkleidung versehen, in der sich verschiebbare Luken befinden. Sind die Luken geschlossen, so ist von dem Bett überhaupt nichts wahrzunehmen, das Ganze sieht dann aus, wie ein großer unförmiger Wandschrank. Will man hineinschlüpfen, so zieht man die Luken zur Seite. Wer erst drin ist, ist geborgen; herausfallen kann er nicht. Schade nur, daß das Bettzeug in diesen licht- und luftarmen Höhlungen fast immer feucht und klumpig ist. Sonst aber haben die Bettkästen ihre nicht zu leugnenden Vorteile: Einmal schläft[72] man dadrin schön versteckt wie ein Murmeltier; dann braucht das Bettzeug nicht so oft gewaschen zu werden, weil's bei Tage ja doch niemand anderes zu sehen bekommt wie die Hausfrau oder die Deern, und schließlich bildet solch Kasten mit dem vielen Stroh darin eine geradezu ideale Niststätte für Mäuse, die immer dafür sorgen, daß man des Morgens nicht die Zeit verschläft.
Noch ließ es die Witterung nicht zu, daß ich draußen auf der Weide meines Amtes als Kuhhirte walten konnte. Deshalb mußte ich mich in Haus und Hof nützlich machen, so gut ich konnte. Während Vater und Sohn (es war noch ein erwachsener Sohn da) die Frühjahrssaat in die Erde brachten, fütterte ich daheim das Vieh, mistete die Ställe aus und war mit der Frau im Hausgarten tätig. Essen mußte ich mit am Familientisch, und ich will gerne gestehen, daß mir die Kost hier bedeutend besser gefiel, wie das bis dahin gewohnte, ach so magere Futter in Hinterpommern. Kartoffeln kamen hier gewissermaßen nur als Zukost auf den Tisch; die Hauptnahrung bildeten Mehlspeisen, und die »bookweten Klüten un Pannkoken« mundeten mir vortrefflich.
Endlich nahte der langersehnte Tag, an dem der erste Austrieb des Viehes stattfand. Ich hatte mich hierzu gebührend gerüstet. Stiefel und Brottasche – beide schon reichlich abgenutzt – waren frisch mit Tran geschmiert, und an der nagelneuen Hirtenpeitsche prangte zur Feier des Tages ein rotes Band, das Mutter Voß von dem Dörfhöker eigens für mich »zugekriegt« hatte, als sie das letztemal »Schmöktabak« für den Alten holte. Die Sonne schien freundlich an dem schönen Maimorgen, und ringsum sproßte alles in üppigem Grün.
Wie verwundert sie taten, die Kühe und das Jungvieh, als sie nach der langen winterlichen Stallgefangenschaft jetzt losgekuppelt wurden und nun, jeder beengenden Fessel ledig, frank und frei auf der Hofstelle umherspringen konnten. Hier mußten sie sich nämlich erst ein Stündchen »abtanzen«, um sich an den plötzlichen Freiheitszustand wieder ein wenig zu gewöhnen. Nach und nach legte sich der Übermut, und in langgezogenen Muhtönen[73] verkündeten die Tiere ihre Sehnsucht nach der saftigen Weide, deren würzigen Frühlingsduft sie schon von weitem begierig witternd einsogen.
Bald war ich mit meiner kleinen Herde auf der Weidekoppel angelangt. Vater Voß, der mit seinem Sohn den Austrieb begleitet hatte, ermahnte mich nun noch wiederholt, auch immer recht brav aufzupassen, damit die Kühe nicht auf die Saaten kämen. Darauf meinte er launig: »Na denn holl dir man fuchtig, min Jung«, und ich stand – allein auf weiter Flur.
Hirtenknabe! Wie oft ist er schon angedichtet worden! Beinahe so oft, wie der stille Mond und die singende Nachtigall. Wer zählt all die reizvollen Schilderungen, in denen naturschwärmende Schriftsteller das Hirtenleben verherrlichen! Fast könnte sich solch Hirtenbüblein was drauf einbilden, daß man gerade in ihm so häufig eine poetische Figur erblickt. Ach, er bleibt sein Lebtag frei von solchem Stolz. Weiß er doch, daß all die dichtenden, schwärmenden Männlein und Weiblein bitter enttäuschte Gesichter machen würden, wenn sie ihn auch nur einmal vierzehn Tage lang in seinem vielgepriesenen Hirtenamt ablösen sollten!
Gewiß, das Hirtenleben hat schon seine Reize; leider ist es aber auch nur zu häufig ganz verdammt prosaisch. Wenn die Sonne so recht heiter und goldig vom Himmel herunterlacht, die Lerchen jubilieren und die Schmetterlinge ihr lieblich Gaukelspiel auf den Blüten treiben; wenn die Käfer summen, die Wachtel schlägt und die Hasen neckisch Männlein machen; oder wenn an lauen Sommerabenden Feld und Flur in feierlicher Stille liegen, die Tiere friedlich weiden und harmonischer Glockenklang vom fernen Kirchturm herübertönt – ja dann wird auch dem Hirtenknaben das Herze weit; er fühlt sich froh in der großen schönen Natur und singt aus voller Kehl und frischer Brust, so wie ihm der Schnabel gewachsen ist, seine schönsten Schul- und Leierkastenlieder.
Dies ist die Sonnenseite des Hirtenlebens. Und diese nur alleine sehen die Dichter und Dichterlinge, denn – wenn's regnet, lassen sie sich nicht blicken. Nun ist es aber auch auf dem Lande nicht[74] alle Tage Sonntag; das Wetter hat seine Mucken und – das liebe Rindvieh nicht minder.
Frühmorgens, eh die Hähne krähen, kroch ich schon aus meinem Bettkasten und half zunächst mit melken. Dann wurden die Schweine versorgt, inzwischen hatte die Bäuerin die Frühkost fertig. Schnell zog ich einen Eimer Wasser aus dem Brunnen und wusch mir Gesicht und Hände. Seife gab's nur Sonntags. Alltags mußte man eben sehen, wie man den Kuh- und Schweinemist und sonstige landwirtschaftliche Klebestoffe ohne Seife von den Händen herunterkriegte. Das borstige Haar wurde mit den zehn Fingern gekämmt. Nach der Frühkost, so etwa um halb sechs Uhr morgens, nahm ich mein Brotholster mit der üblichen Kruke Buttermilch über die Schulter und trieb aus. Es war mitunter noch recht empfindlich kühl an solchen Maimorgen, und das tauige Gras legte sich schneidend kalt um die bloßen Füße und die »bis zum Knie aufgekrempelten Beine«. So wanderte man nun huppernd und buppernd neben dem weidenden Vieh die Koppel auf und ab, bis die Sonne höher stieg, der Tau verdunstete und belebende Wärme den Körper durchströmte; dann wurde es gemütlicher. Während dieser ersten Morgenstunden aber mochten die Vögel pfeifen, so schön und lustig sie nur konnten – man dachte jedenfalls mehr an seine naßkalten Eisbeine, wie an das ganze Vogelgepfeife, und wenn man nach dem Sonnenball dort drüben am Horizont hinschielte, so geschah dies durchaus nicht in der Empfindung: »anbetend steh ich hier« – sondern mit dem sehr nüchternen Wunsch, die alte feurige Groß mutter da oben könnte sich auch etwas mehr beeilen, daß sie »hoch« käme. Erst im Juni ist der Tau des Morgens lauer. Doch dann kommt wieder eine andere Plage: die Bremsen.
Beim Andenken an dieses geflügelte Kroppzeug möchte ich heute noch ausrufen: »Wer nie sein Brot als Kuhhirt aß – der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte!«
Etwa 11 Uhr vormittags ist's. Heiß brennt die Sonne hernieder, die Luft flimmert, kein Blatt rührt sich. Da mit einem Mal streicht's einem am Ohr vorbei: brrrumm–m–m– Aha, jetzt geht's los! Eine junge Schecke hat's zuerst gemerkt. Sie schreckt[75] in die Höhe, senkt den Kopf, schüttelt das Gehörn. Die Augen blicken halb ängstlich, halb zornig. Jetzt ein paar Sprünge. Sie schnaubt und peitscht die Flanken mit dem Schwanz. Gelingt's, das lästige Insekt zu verscheuchen? Nein, es scheinen sogar mehr zu werden. Auch die anderen Tiere springen auf. Dieselben Pantomimen. Sie schlagen aus, mit einem, mit zweien, mit allen vier Beinen; in langen Fäden werfen sie den Geifer über das zuckende Fell; dann: die Ohren nach hinten, den Schwanz in die Höh, und – hast du nicht gesehen – da gibt's einen Kuhgalopp, daß die Lappen fliegen! Die ganze Gesellschaft ist wild geworden. In blinder Tollheit jagt alles dahin, kreuz und quer über die Koppel, über Wall und Knick und ach – über Wiese, Klee und Saatfeld.
Jetzt lauf, Hirtenbüblein! Lauf, was du laufen kannst, um die birrsende Sippschaft zusammenzuhalten. Achte nicht der Disteln und Dornen, auf die du trittst; stoß dir an Steinen die Füße blutig, reiß dir die Beine wund an Büschen und Brombeergestrüpp – nur laufe. Denn dazu bist du ja da, um das Vieh zu »mödten«, damit es nicht die Saat zertritt; wozu brauchte der Bauer sonst einen Kohhar; zum Zeitvertreib gibt er Brot und Lohn nicht aus. Endlich beruhigen sich die Tiere wieder einigermaßen, ihre Peiniger haben sie verlassen. Unter Schreien und Peitschenknall hat man die Herde wieder glücklich zusammengehütet, die nun mit fliegenden Flanken und hängender Zunge dasteht und sich mit dem Schwanz der übrigen harmloseren Insektenschwärme zu erwehren sucht. Schweißtriefend läßt sich auch der Hirtenknabe am Knick nieder; vor dem Spätnachmittag ist er jedoch nie sicher, ob seine Schützlinge nicht abermals eine Flucht in die Öffentlichkeit antreten.
Wenn bei solchen heimtückischen Angriffen der Bremsen die rennende Herde noch halbwegs beisammen bleibt, dann geht's noch. Es kommt aber natürlich auch vor, daß sie sich teilt und nun in toller Hast nach verschiedenen Richtungen davonstürmt. Dann erst ist für den Hirten guter Rat teuer. Da heißt es für ihn einfach: die Beine in die Hand nehmen und sehen, wie er sie wieder zusammenkriegt, denn nur bei größeren Herden ist ein[76] Hund, bei kleineren jedoch muß der Hütejunge selbst Hund spielen.
Mir passierte es mehrmals, daß bei der Bremsenplage ein oder zwei Stück Vieh spornstreichs nach Hause liefen, während die andern auf dem Felde umherbirrsten. Einmal sogar rannte meine gute »Stuppsteert«, die sich die Fliegen mit ihrem halben Schwanz schon sowieso nicht gut kehren konnte, in blinder Angst direkt ins Moor, wo das arme Tier vor meinen Augen bis an den Bauch versank. Jetzt ließ ich natürlich die übrigen laufen, wohin sie wollten und eilte, so schnell mich meine Füße tragen konnten, nach dem nächsten Hofe, wo ich Hilfe erbat. Erst nach längerer Zeit war es möglich, die versunkene Kuh durch vorgespannte Pferde auf festeren Boden zu schleifen.
Eine der weiteren zweifelhaften Annehmlichkeiten des Hirtenlebens ist der Regen. Wenn es so mehrere Tage hintereinander mit kurzen Unterbrechungen Bindfaden regnet, dann hat's Art. Der ganze Schutz des Hirtenknaben ist gewöhnlich ein alter Korn- oder Kartoffelsack, den er wie eine Kapuze über den Kopf zieht. Die Kühe stehen dann mitunter so krumm wie Flitzbogen hinterm Knick, und kein Vogel läßt sein Lied erschallen. Oder es bricht nach schwüler drückender Hitze ein Gewitter los, daß man meinen könnte, die Welt ginge unter. Dann steht man auch »allein auf weiter Flur«, durchnäßt bis auf die Knochen, und ist nur froh, wenn sich die Tiere ruhig verhalten und nicht bei irgendeinem grellen Blitz oder krachenden Donnerschlage das Rennen kriegen. Wie eine nasse Henne tippelt man schließlich des Abends hinter seinen Kuhschwänzen dem heimischen Hofe zu. Von poetischen Empfindungen aber spürt man dann nicht gar zu viel.
Mitunter geht es den Lobsängern des Hirtenlebens wohl auch so wie jener Hamburger Lehrerfrau, die bei uns für einige Wochen auf Sommerfrische weilte. Sie kam mit der Bäuerin nach der Koppel, um frischgemolkene Mittagsmilch zu trinken. Die gute Frau mit ihrem hellen Kleide und den zierlichen Lackschuhen konnte sich gar nicht genug wundern über die Zutraulichkeit der Kühe, wie sie still hielten und sich melken ließen. Ein über das[77] andere Mal rief sie: »Ach wie niedlich, wirklich zu niedlich!« Mir war jedoch gar nicht so niedlich zumute, denn die alte Bleß, die ich gerade ausstrippte, war derartig emsig in der Abwehr der Fliegen begriffen, daß sie mein Gesicht dabei ziemlich rücksichtslos mit dem – wie es zuweilen vorkommt – etwas sehr saftigen Schwanzende bearbeitete. Neckend meinte Mutter Voß zu mir: »Nimm den Steert in't Mul, Jung.« Lächelnd nahte sich hierauf die Lehrersfrau, um die Kuh beruhigend zu streicheln. Die krabbelnde Berührung behagte dem Tier in diesem Moment aber ebensowenig wie die Fliegenstiche und schwapp – hatte die Dame eins mit dem Schwanz ins Gesicht, daß ihre zarte Wange fast ebenso schön grünstreifig angefärbt war, wie meine Pustbacken. »Pfui«, rief sie ganz bestürzt und suchte sich die garstige Naturschminke schnell wieder abzuwischen. Um nun aber nicht den Anschein zu erwecken, als lasse sich eine echte Sommerfrischlerin durch die Berührung mit einem angefeuchteten Kuhschwanz aus der Fasson bringen, näherte sie sich abermals dem Hinterteil der Kuh, und nun wurde die Geschichte noch niedlicher. Die gute Bleß hatte nämlich gerade das, was man im menschlichen Leben Diarrhöe nennt. Obendrein mußte das liebe Tier auch noch husten, und wenn ein Rindvieh hustet, tut man immer gut, ein wenig aus der Schußlinie zu gehen. Das wußte die Stadtdame natürlich nicht, und deshalb – nun deshalb: ein Schrei des Entsetzens, und schon war's geschehen. Das schöne helle Kleid, wie sah es aus! Auch auf den Lackschuhen glänzte es dickflüssig-grünlich. Die arme Frau bot ein Bild vollendeter Hilflosigkeit, doch ich hätte kein Junge sein müssen, um bei solchem Malheur ernst zu bleiben; selbst Mutter Voß mußte lachen. Ernst blieb nur die alte Bleß. Mit dem unschuldigsten gutmütigsten Kuhgesicht schaute sie sich um, ohne auch nur ihr Wiederkäuen zu unterbrechen. Mutter Voß aber tröstete die Sommerfrischlerin mit den Worten: »Na, dat is ni so schlimm; dat is man blos 'n bäten reinen Kohschiet.«
Da ich jetzt die Bleß gerade ausgemolken hatte, bot ich der ratlos dastehenden Dame meine Hilfe an. Mit der flachen Hand strich ich das gröbste Mus von dem Kleide ab. – »Pfui! entsetzlich!«[78] stöhnte es dabei über mir – den Rest suchte ich mit einigen Grasproppen zu entfernen. Bis auf einen langen, großen grünlichen Fleck war das Kleid dann wieder »sauber«.
Über das hübsche Kuhidyll mit warmer Milch und singendem Hirtenknaben aber dürfte auch diese Dame von da ab wohl etwas nüchterner gedacht haben.
Ein besonders arger Übelstand in dem Leben des Hütejungen ist die Einsamkeit, in der er seine Tage verbringen muß. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend ist er allein auf sich angewiesen. Was das heißt, weiß nur jemand zu empfinden, der es durchgemacht hat. Im reiferen Alter sucht der Mensch ja zuweilen die Einsamkeit und ist froh, wenn ihm niemand ins Gehege kommt. Die Jugend aber sehnt sich nach Geselligkeit, nach Umgang mit anderen Menschen. Dem Hirtenknaben jedoch blüht solch Umgang nur höchst selten, und dann nur auf einzelne Stunden. Den ganzen lieben langen Tag steht er einsam und verlassen auf dem Felde hinter seinem Vieh; höchstens daß er von weitem mal ein anderes Gesicht zu sehen, eine andere Stimme zu hören bekommt.
So plagt ihn dann auch nur zu häufig eine unendliche Langeweile, die noch um so übler wirkt, als die meisten Landwirte in vollständiger Verkennung der Dinge ihren Hütejungen nicht einmal das Lesen irgendeines Buches gestatten. In der Regel sind sie der Meinung, solch Junge würde beim Lesen die Zeit versitzen und deshalb auf das Vieh zu wenig Obacht geben.
Auch in dieser Beziehung war mein Bauer Jochen Voß eine Ausnahme von vielen seinesgleichen. Er hatte sich – vielleicht infolge seiner vielen Fuhren nach Hamburg – ein leidliches Verständnis für den Wert einer Tageszeitung angeeignet. »Man mut doch wäten, wat in de Welt passiert«, sagte er, »sunst weet 'n jo garni, dat man läwt.« Deswegen hielt er die damalige Hamburger »Reform«.
Da in der Haushaltung nur wenig Papier gebraucht wurde, so bat ich drum, mir täglich die Nummer vom vorhergehenden Tage nach dem Felde mitnehmen zu dürfen. Jochen Voß gestattete mir dies auch ganz gern. Ja, ich kann sagen: er tat sich fast etwas darauf[79] zugute, daß er einen Kohhar hatte, der so eifrig hinter dem Lesen her war. An manchen Abenden, wenn meine Kühe schon daheim im Hagen eingehürdet lagen, mußte ich ihm noch einiges aus der Zeitung vorlesen. Er saß dann mit seiner Pfeife da und hörte mir zu; das gefiel ihm auch entschieden besser, als wenn er selbst die einzelnen Nachrichten mühsam durchbuchstabieren sollte, was ihm schon wegen der starken Weitsichtigkeit seiner Augen unbequem wurde. Auch Mutter Voß saß häufig daneben und hörte sich die Vorlesungen mit an. Beide sagten mir dann manch anerkennendes Wort wegen meiner fließenden Aussprache. Selbst der junge Peter Voß, der sich mir gegenüber sonst nicht in schwachem Lichte zeigen mochte, stimmte mit zu, wenn der Alte scherzhaft sagte: »Din Läsen mag ik hören, Jung; die geiht jo dat Mul, aß wenn't mit Botter schmeert is.«
Zu meiner noch größeren Freude fand ich eine ähnliche Anerkennung auch bei Steffen Thies, einem früheren Müller und »Achtundvierziger«, der jetzt in dem Dorfe als Altenteiler und Bienenzüchter lebte.
»He läwt sin Geld«, sagte Jochen Voß, wenn von dem »ollen Steffen« die Rede war.
Dieser alte Dorfprivatier hatte während der Blütezeit seine Bienen auf unseren Buchweizen gebracht und mich dabei kennen gelernt. Fast täglich besuchte er seine Bienenvölker, und wenn ich nun auf der nebenliegenden Heidekoppel hütete, so sprach er auch immer gerne ein paar freundliche Worte mit mir. Ich schien ihm »'n ganz plietschen Jung'n« zu sein, und da ich nach seinen geographischen Begriffen einer »von de hochdütschen Böverländers« war, mit denen er anno 48 zusammen in einem Jägerkorps gegen die Dänen gefochten hatte, so interessierte er sich bis zu einem gewissen Grade für mich. Dies war mir nun um so angenehmer, als er auch allerhand Bücher besaß, die er mir regelmäßig zum Lesen mitbrachte. Er empfand dann stets eine große Genugtuung, wenn ich ihm sicher und fließend den Inhalt der Bücher wiederzuerzählen vermochte. Mir aber brachten die Bücher nicht nur eine angenehme Abwechselung, sondern auch mancherlei Belehrung. Wurde ich hier doch zum erstenmal auch mit[80] Fritz Reuters Werken bekannt, von dem ich bis dahin nur den Namen gehört hatte. Auch die Aufzeichnungen des holsteinischen Chronisten Neokorus fesselten mich ungemein.
So durfte ich also für meine Person gar nicht klagen; ein günstiger Zufall hatte dafür gesorgt, daß es mir an Lesestoff nur verhältnismäßig selten mangelte.
Wie aber stand es mit anderen Hütejungen?
Nun, ich lernte auf den Feldern der Dorfgemarkung eine ganze Anzahl von ihnen persönlich kennen. Jeder Bauer hat nämlich mehrere Weidekoppeln, die abwechselnd von seinem Vieh begrast werden. Ist auf der einen das Gras schon ziemlich kahl gefressen, so geht's eine Zeitlang auf die andere. Bei dieser Wechseltrift machen dann die Hirtenknaben gern Bekanntschaft miteinander.
Durch ein langgezogenes »A–hooo–i« künden sie einander ihre freundnachbarliche Anwesenheit an, und damit den Wunsch nach einer kleinen Unterhaltung. Nun wird die Zeit abgepaßt, wenn die Kühe liegen oder der etwa nachschauende Bauer nicht zu erwarten ist, und hopp hopp geht's leichtfüßig über Wall und Knick zum »Snack«. Doch wird hierbei vorsichtigerweise immer ein Standort gewählt, von dem man »up 'n Ruum« sehen kann, um vor etwaigen Überraschungen gesichert zu sein, denn nicht alle Bauern waren so gutmütig wie Jochen Voß.
Die meisten dieser Knaben standen noch im schulpflichtigen Alter. Es waren Kinder armer Tagelöhner oder Waisen aus dem sogenannten Werkhause, dem Armenhause des Kirchdorfes. Ich galt in ihren Augen schon allgemein als »groß«, weil ich nicht mehr zur Schule brauchte. Ach, wie sie mich deshalb beneideten! An die Schule dachten viele nur mit heimlichem Grauen. Einige der älteren waren für den ganzen Sommer vom Unterricht dispensiert; die freuten sich, daß sie bis zum Herbst Friede vor dem Schullehrer hatten; nur ein- oder zweimal wöchentlich mußten sie zur Konfirmandenstunde »nach dem Pastor«. Bei dem wäre es auszuhalten, meinten sie, denn der nähme es nicht so genau, wenn sie bei ihm einschliefen. Die jüngeren aber gingen in die Sommerschule, d.h. sie genossen zwei halbe Tage in der Woche[81] Schulunterricht beim Lehrer. (In meiner Heimat währte der Unterricht in der Sommerschule nur zweimal zwei Stunden in der Woche, und zwar Dienstags und Freitags von 6 bis 8 Uhr morgens.) Während dieser Schulzeit mußte dann jemand anders vom Hofe, etwa ein Sohn des Bauern, eine Deern, aber auch der Bauer selbst, den Hütedienst so lange verrichten.
Wie gesagt, fast alle diese Jungens klagten über die Schule; nur die wenigsten gingen gerne hin. Und immer war es der Schlaf, der Schlaf, der sie übermannte, und der ihnen dann nur zu häufig eine Tracht Prügel vom Lehrer eintrug. Am Tage nach der Schule hieß es denn auch bei manchem mit gewohnter Regelmäßigkeit: »Ick heww gistern wedder wat up't Fell krägen vom Lehrer.« Auf die Frage: »Wat host denn utfräten hat?« lautete die stereotype Antwort gewöhnlich: »Ick weer toschlapen in de Bank!«
Es mag im ersten Augenblick etwas verwunderlich erscheinen, daß gerade die Hütekinder während des Unterrichts so oft von unwiderstehlichen Schlafanfällen gepackt werden, da ihr »Felddienst« doch tatsächlich nicht mit allzu großen körperlichen Anstrengungen verbunden scheint. Und doch ist dieser Schlaf durchaus erklärlich. Man vergegenwärtige sich: Es handelt sich durchweg um Kinder im Alter von 12 bis 14 Jahren, teilweis sogar um noch jüngere. Solche Jungen brauchen schon naturgemäß ein gehöriges Quantum Schlaf, weil sie sich in der Entwicklungsperiode zum kommenden Jünglingsalter befinden. Nun aber müssen sie regelmäßig jeden Morgen um 4, spätestens um 1/25 Uhr das Bett verlassen. Dann bleiben sie bis gegen Sonnenuntergang auf dem Felde, bald bei Regen, bald bei Sonnenbrand, ohne anregende Abwechselung, immer das ewige Einerlei in ihrem bescheidenen Dasein. Dazu die geisttötende Einsamkeit auf stiller Feldmark, die ihre Energie so erschlafft, daß selbst intelligente Gesichter nach und nach jenen eigenartig stupiden Zug annehmen, den sogar die Bauern mit dem landläufigen Ausdruck »Kohharsgesicht« bezeichnen. So ist es ganz natürlich, daß sie schon auf dem Felde oft genug einschlafen, und nur die fortgesetzten Warnungen der Bauern und nicht zuletzt die ständigen Drohungen mit Prügeln oder gar mit Lohnabzug, falls die Kühe[82] Schaden anrichten, vermögen sie im Hütedienst halbwegs wach und aufmerksam zu erhalten.
Selbst mich hat manches liebe Mal auf dem Felde der Schlaf übermannt, und mehr wie einmal bin ich erst aufgewacht, wenn die Kühe sich schon eine Zeitlang in dem nachbarlichen Klee- und Kornfeld gütlich getan hatten. Einmal wurde ich dafür auch recht unsanft geweckt, und zwar von dem Großbauern Klaus Möller mittels einer schlanken Hasel, die er sich zu meiner Ermunterung eigens aus dem Knick geschnitten hatte. Noch heute weiß ich nicht, wie schnell ich damals nach dem Kleefeld gesprungen bin, um das Kuhvolk dort wieder herauszuholen. Klaus Möller aber sagte grimmig zu mir: »Sunst harst du to't Markt 'n Honnigkoken von mir krägen, nu sall dy awerst de Hund wat sch ...n!«
So ging es also schon mir, obwohl ich doch bereits etwas älter war, wie die meisten der übrigen Jungen und auch dank der Einsicht meines Bauern fast stets mit Lesestoff versehen war. Was wollte man da erst von den jüngeren Knaben sagen? Der Tag ist eben zu lang für die Kinder und – zu inhaltleer, voll ewigen Einerleis, ohne geistige Anregung.
Bei diesen Verhältnissen ist es darum auch nur zu sehr begreiflich, wenn die Jungen oft auf allerlei Dummheiten verfallen. Irgend etwas wird dann ausgeheckt. Eine der am meisten eingebürgerten Unsitten ist das mutwillige Zerstören von Vogelnestern. Eier und Brut der Vögel sind vor vielen solcher Jungen keinen Augenblick sicher, ganz gleich ob es sich um Singvögel, Kiebitze, Krähen oder Rebhühner handelt. Ja sogar direkte Roheiten und Tierquälereien werden dabei verübt, ohne daß sich die Knaben ein sonderlich Gewissen daraus machten. Es fehlt eben an der nötigen Belehrung, und dann trägt wiederum diese Einsamkeit mitsamt der überlangen Tagesdauer zur Abstumpfung edler Regungen in den jungen Gemütern leicht derartig bei, daß die rohen Instinkte oftmals das Übergewicht bekommen.
So spielte mir einst der dreizehnjährige Krischan einen Streich, der zwar harmlos verlief, unter Umständen aber bedenkliche Folgen nach sich ziehen konnte. In Moor und Heide gab es nämlich zahlreiche Schlangen. Wir Jungens hatten uns nun Haselstöcke[83] zurechtgemacht, an deren einen Ende eine sinnreich konstruierte Klemme angebracht war. Hiermit gingen wir beim Hüten dann emsig auf die Schlangenjagd, denn für jede eingelieferte Kreuzotter (auf Plattdeutsch Edder oder auch Arrer genannt) bekamen wir vom Ortsvorsteher 15 Pfennige Fanggeld. Wir beschlichen die Tiere, wenn sie sich sonnten, und geschickt wurde ihnen die Klemme dicht hinter den Kopf gedrückt; sie mochten dann schwänzeln und den kleinen Rachen aufsperren soviel sie wollten, gefährlich konnten sie nicht mehr werden, wenn man nicht gerade aus Versehen die Klemme zu weit lockerte. Mit einem Stein oder kurzen Knüppel wurden sie darauf getötet, und dann ließ man sie liegen, bis sie vollends abgestorben waren, was mitunter noch stundenlang dauerte, obwohl ihnen der Kopf total zerschmettert war. Des Abends nahmen wir dann unsere Beute in der Brottasche mit nach Hause. Auch Ringelnattern mußten bei unserem Jagdeifer vielfach daran glauben, doch die ließen wir nach ihrer Tötung achtlos liegen, denn dafür bekamen wir nichts, weil sie bekanntlich ungiftig sind.
Eines Vormittags kam Krischan nun zu mir zum »Snack«, wobei er mir mitteilte, daß er schon eine Arrer gefangen habe. Da meine Kühe gerade am andern Ende der Koppel waren, so mußte ich hin, um sie wieder langsam zurückzuhüten. Krischan blieb während der Zeit zurück. Als ich wieder zu ihm kam, meinte er mit der unschuldigsten Miene, es sei wohl Zeit, ein Stück Brot zu essen. Nichts ahnend nahm ich meinen Brotranzel und wollte auspacken. Nun kam mir's zwar so vor, als wenn sich da drin etwas rührte, doch dachte ich mir weiter nichts dabei. Als ich jedoch die Tasche aufmachte, wand sich plötzlich züngelnd und leise zischend eine Kreuzotter heraus, die unter schnellen Wendungen ihren Kopf mehrmals in unmittelbare Nähe meiner Hand brachte. Vor Schreck ließ ich die Tasche fallen und sprang einige Schritte rückwärts. Mein Blick traf Krischan; doch der grinste wie ein Spitzbube und wollte sich dann fast ausschütten vor Lachen. Er hatte mich mal »'n bäten bang maken« wollen und deshalb, während ich die Kühe umholte, das Reptil in meinen Brotholster praktiziert. Das Manöver war von ihm auf ganz einfache[84] Art bewerkstelligt worden. Nachdem er die Schlange gefangen hatte, hielt er sie in der Stockklemme fest und trug sie ganz unauffällig bis zum nächsten Wall, wo er sie an dem Stock so lange liegen ließ, bis ich mich entfernen mußte. Dann hatte er sie herbeigeholt und nach entsprechender Lockerung der Klemme ganz pomadig in die Brottasche hineingleiten lassen. Glücklicherweise war er so vorsichtig gewesen, dem Tier vorher einen Schlag über den Rücken zu geben. Dadurch war die Beweglichkeit des garstigen Geschöpfes bedeutend eingeschränkt, wenn es auch vor Schmerz um so gereizter sein mochte. So nahm die Sache noch einen harmlosen Ausgang. Den Krischan brachte ich jedoch dafür um seine 15 Pfennige Fanggeld. Einige Tage später rächte ich mich an ihm noch dadurch, daß ich ihm ein ganzes Nest voll junger Feldmäuse in seine Brottasche setzte.
Wie gesagt, ich für meine Person hatte unter all diesen schlimmen Zuständen verhältnismäßig am wenigsten zu leiden. Erstens war ich doch schon etwas älter und konnte mich deshalb etwas besser beschäftigen; dann hatte ich meine Zeitungen und Bücher, und schließlich war ich auch nicht ewig am Tage »Kohhar«. Die günstige Lage von Jochen Voßens Besitztum ermöglichte es nämlich, daß ich während des Hütedienstes häufig zu leichteren Feldarbeiten herangezogen wurde, die ich um so mehr als angenehme Abwechselung betrachten konnte, weil mein Bauer dabei nie übermäßige Leistungen von mir verlangte. Immer hatte er einige Worte seines originellen trockenen Humors auf Lager, die in mir die Arbeitslust viel mehr anregten, wie wenn er seine Anordnungen schroff und brummig gegeben hätte. Selbst bei der schwersten Arbeit, wenn ihm der Schweiß gleich in Strömen das Gesicht herunterlief und Hemd und Hosen durchnäßte, konnte er seine zu einem derben Scherz aufgelegte Natur nicht verleugnen, so daß er durch sein drastisch-gutmütiges Wesen auch allemal belebend und ermunternd auf seine Umgebung einwirkte. »'N bäten Arbeit bi dat Höden schad' di nix, min Jung«, sagte er damals, »denn wenn du bloß achter 't Veeh rumliggst, warst 't jo ganz dumm un dösig.«
Wie recht er damit hatte, hatte ich sehr bald instinktiv herausgefunden.[85] Und so half ich denn, als er und sein Sohn beim Torfstich waren, tapfer für mein Teil mit. Die Kühe weideten auf der Moorkoppel, und ich kantete während der Zeit die Torfsoden, die ich, wenn sie genügend angetrocknet waren, erst in kleine Windhaufen und hernach in größere Zughaufen setzte; später bei vollkommener Trockenheit der Soden wurden diese dann in die großen »Törfklods« gesetzt, von wo aus die Abfuhr je nach Bedarf erfolgte. Wollten nun die Kühe während meiner Tätigkeit im Moor dann und wann mal einen Abstecher ins Nachbargebiet riskieren, so sprang ich hurtig hin und hütete sie schnell zurecht, worauf ich meine Arbeit wieder aufnahm. Freilich, wenn die Tiere wegen der Bremsen zu »birrsen« anfingen, konnte ich auf diverse Stunden an meine Torfarbeit nicht denken; sie wurde natürlich auch dann unterbrochen, wenn die Moorkoppel abgegrast war und ich eine andere Weide aufsuchen mußte.
Hütete ich auf der Heidekoppel, so war auch dort für etwas Nebenbeschäftigung gesorgt. Ich mähte dann Heidekraut, das zu Streuzwecken benutzt wurde. Anfangs machte mir das Mähen mit der kleinen, dicken Sense, der sogenannten Heidlee, zwar einige Schwierigkeiten, doch bald hatte ich den kurzen Ruck heraus, der erforderlich ist, um die holzigen Stengel durchzusäbeln. Viel brauchte ich übrigens dabei nicht zu tun, da auf Vorrat so gut wie gar nicht gemäht wurde, einmal wegen der Kreuzottern, die sich gerne in Heidehaufen einnisten, dann aber auch wegen der Feuergefährlichkeit größerer Heidediemen.
Eine viel unangenehmere Arbeit war mir das Steinesammeln, wenn ich auf die Dreeschkoppel trieb. Ich hatte die Empfindung: je länger ich sammelte, desto mehr Steine kamen in den Acker. Glaubte ich, eine Stelle recht rein abgesammelt zu haben und blickte mich nach einiger Zeit wieder um, so fand ich immer wieder, was ich nicht finden wollte: Steine, nichts als Steine. Die reine Sisyphusarbeit! »Dar kannst' old bi warden«, scherzte Jochen Voß, »hier hett Petrus Grand sicht't.«
Um so besser gefiel es mir dafür, in der Heuernte mit zu kehren, zu häufen oder beim Einfahren ein bißchen nachzuharken. Sogar die Kühe nutzten die vermehrte Freiheit aus, die ihnen während[86] dieser Zeit auf der Wischkoppel gelassen wurde; vergnügt wühlten sie mit ihren Hörnern in den Heuhaufen umher, daß die Loppen nach allen Richtungen umherflogen. Bei der Buchweizenernte wieder lernte ich »stucken«; so bezeichnet man nämlich das Aufsetzen und Zusammendrehen der einzelnen Häufchen in die bekannte Bienenkorbform.
Schließlich mußte ich gelegentlich selbst bei der Kornernte mit zugreifen und lernte das Garbenbinden. Dabei gab's eine schwere Plage: die Disteln. Sie spreizen sich förmlich, diese garstigen Dinger, je höher die Sonne steigt, und recht häufig zieht man die Hand schneller von der Garbe zurück, als wie man hinlangt, wenn man einmal so recht herzhaft in einen plustrigen Distelstrauch hineingreift. »Ja, mußt pusten, Jung, wenn de Garben to warm ward«, ließ sich Jochen Voß dann mit schalkhaftem Augenzwinkern vernehmen.
Im Grunde genommen war aber die ganze Arbeit, die ich dort leistete, nur eine Art Spielerei. Ich half mein Teil, ohne je angetrieben zu werden. Stets war Jochen Voß mit dem zufrieden, was ich machte. Vorwürfe etwa, daß ich nicht genug getan hätte, bekam ich gar nicht zu hören. Im Gegenteil meinte er öfters: »Na, du büst jo man irst 'n Jung; von dir kann man noch ni mehr verlangen.« Deswegen verrichtete ich auch die unangenehmeren Arbeiten immer mit einer gewissen Lust und Freudigkeit. Was wirkliches Arbeiten heißt, sollte ich erst später in ganz anderem Maße kennen lernen.
So ging es nach und nach gegen Herbst. Der Altweibersommer spann seine weißen Fäden über die Stoppeln, und wir Knaben zündeten uns schon lustige Hirtenfeuer an, in deren Asche wir Kartoffeln oder auch gemauste Äpfel brieten. Es ist ein alter Erfahrungssatz, daß Äpfel, die sich ein Hütejunge des Abends selbst aus dem Garten stiebitzt, bedeutend besser schmecken, wie die geschenkten. Deshalb machte auch ich keine Ausnahme damit. Mutter Voß war zwar durchaus nicht kauserig in der Obstspende, dennoch mußte auch ich mich der »guten« alten Sitte gemäß hin und wieder nach dem Abendbrot in den Garten schleichen, um mir ungeschenkte Äpfel zu »suchen«. Ob die[87] Dinger reif waren oder nicht, das spielte nur eine untergeordnete Rolle. Die Hauptsache war, daß man sie hatte, »reif« wurden sie eben im Feuer gemacht. Allerdings kam es hierbei auch öfters vor, daß der Magen dann in ähnlicher Weise rebellierte, wie's im Hochsommer bei der alten »Bleß« gewesen war, als sie der Hamburger Lehrersfrau ihr freundliches Andenken aufs Kleid klakste; doch was fragt ein wetterfestes Hirtenbüblein nach solchen Kleinigkeiten!
Schließlich aber konzentrierte sich alles Denken und Hoffen nur noch auf den kommenden Jahrmarkt, den lichtvollen Glanzpunkt in dem einförmigen Dasein des Hütejungen. Was erwartete man alles von dem Jahrmarkt! Hunderterlei Berechnungen hatte man schon angestellt über die etwaige Zahl der Marktgroschen, die leckeren Honigkuchen, die saftigen Schmoraale und die vielen grandiosen Sehenswürdigkeiten, die sich in den Buden den staunenden Augen bieten würden. Wir Jungen schwelgten in der Vorempfindung der kommenden Genüsse, und es war totsicher, daß ich mir auch für 'n Groschen Zigarren kaufen würde.
Endlich war er da, der große Tag. Die Kühe blieben heute daheim im Hagen, wo schon vorher alles zu ihrer Wartung zurecht gemacht war. Jochen Voß stieg bereits vor der Frühkost in seine Sonntagshosen und bearbeitete dann sein Gesicht eine halbe Stunde lang so nachdrücklich mit dem Rasiermesser, daß es sich anhörte, als wenn ein Maurer irgendwo die Wand abkratzte. Nach dem Frühstück überreichte er mir feierlichst bare fünfzehn Groschen als Marktgeld, auch Mutter Voß griff herzhaft in ihre »Knipptasch« und schenkte mir fünf Groschen, selbst der junge Peter Voß betrachtete es als Ehrensache, mir von seinem eigenen Marktgeld noch drei Groschen abzugeben. Wer war froher wie ich! Mit solchem Vermögen konnte ich ja Jahrmarkt feiern wie ein Fürst.
Eins nur fehlte mir noch: Ein halbwegs anständiger Anzug. Auch hier half Jochen Voß in väterlicher Fürsorge. Als wir mit der jungen Starke zu Markt zogen, die verkauft werden sollte, machte er mir gleich den Vorschlag, bei einem Dorfhöker einen Anzug für mich einzuhandeln, dessen Preis mir dann vom Lohne abgezogen[88] werden sollte. Ich war ganz damit einverstanden; Zeug mußte ich ja doch haben, ob's nun ein paar Wochen früher oder später gekauft wurde, das blieb sich gleich, wenigstens konnte ich mich dann doch in neuer Kluft auf dem Markte sehen lassen und wurde vielleicht noch gar von den übrigen Hütejungen darob bewundert und beneidet. Denn bei den meisten meiner »Feldkameraden« hatten ihre armen Eltern den Hütelohn im Laufe des Sommers oft schon zu Dreiviertel vom Bauern abgehoben; so blieb für die Kinder selbst meist nur noch wenig übrig, und nur ganz selten reichte es noch hin zur Anschaffung eines neuen Anzugs. Dagegen aber stand mein Lohn bisher noch ganz bei meinem Bauern, denn dank der Freundlichkeit von Mutter Voßen, die auch gleichzeitig für mich wusch und flickte, hatte ich noch weiter keines Vorschusses benötigt, als mir meine Stiefel zum Markttage neu versohlen zu lassen.
Beim Kauf meines Anzuges lernte ich nun das Handelstalent von Jochen Voß in seiner ganzen Bedeutsamkeit schätzen. Er feilschte mit dem Höker tatsächlich, als ob es sich um seine eigene Kuh und nicht um die minderwertigen Kleidungsstücke seines untergeordneten Kohhars gehandelt hätte. Wie fuhr er auf, als der Höker schlangweg 20 Mark für den Anzug forderte! »Wat«, rief er, »vör de Plünnen twintig Mark? Du büst woll twatsch! Häst den ganzen Kram ok man bloß vör 'n par Sößling bi 'n Hambörger Bandjuden kofft, un nu wullt' uns damit utbüdeln?! Twölf Reichsmark gäw ick dy, un keenen Penn'n mehr!« Wirklich, er bekam den Anzug für 12 Mark. Hocherfreut zog ich damit ab. Vervollständigt wurde meine Garderobe noch durch eine funkelnagelneue Mütze für 12 Groschen, und als mir Jochen Voß dann noch obendrein einen großen Honigkuchen nebst einem fettriefenden Schmoraal aushändigte, da lief ich spornstreichs die Dreiviertelstunden Wegs nach unserem Abbau zurück, kaum daß ich Zeit hatte, mich richtig bei ihm zu bedanken. Ich kam mir vor, wie Hans im Glück.
Strahlend vor Freude zeigte ich Mutter Voß meinen Schatz, die vorläufig noch zu Hause geblieben war, und stolz wie ein König präsentierte ich mich ihr in dem neuen Zeug. Ach, es war ja das[89] erstemal in meinem Leben, daß ich einen neuen, ungetragenen Anzug auf dem Leibe hatte, und den hatte ich mir fern von der Heimat auch noch selbst verdient!
Am Nachmittag war ich wieder auf dem Markt; diesmal in »min schmuck' Tüg«. Ich besichtigte die Riesendame, bestaunte die Ringkämpfer, entsetzte mich vor Ewer-Hu, dem fürchterlichen feuerfressenden Schwarzen, der brüllend an einer Kette zerrte, als wolle er die ganze klapprige Bude einreißen; sah zu, wie die Knechte auf den Ochsenkopf schlugen und fuhr auch mehrmals Karussell; kurz, ich genoß die Jahrmarktsfreuden so wonneerfüllt, wie sie ein Junge meines Alters nur genießen konnte. Jochen Voß begegnete mir noch einmal, wie er mit mehreren Bauern und Viehhändlern gerade aus dem Dorfkrug von »de Sängerdeerns« kam. Auch er hatte seine Starke gut verkauft und gab mir noch fünf Groschen »Schwanzgeld«. Peter Voß bekam ich jedoch erst am andern Morgen zu sehen, und zwar mit verbundenem Kopf und dicken Augen. Im Gesicht sah er aus, wie unser Kater, wenn er von einer mißglückten Brautschau kam.
»Allerheiligen«, der 1. November, der Ziehtag für das Gesinde war herangerückt, und damit auch der Tag, an dem meine Dienstzeit als »Kohhar« bei Jochen Voß endete. Gern hätte mich der Bauer behalten, wie er mir mehrmals versicherte, denn mit mir, den er sich im Frühjahr wildfremd in Hamburg aufgegriffen hatte, wäre er sehr zufrieden gewesen; doch für seine kleine Wirtschaft konnte er im Winter keinen Dienstjungen gebrauchen, da er mit seinem Sohn die Winterarbeiten und die Wartung des bißchen Viehes leicht selbst zu besorgen vermochte. Ebenso gerne wäre auch ich dort geblieben, denn bei diesen Bauersleuten hatte ich mich fast wohler gefühlt wie zu Hause; brauchte ich doch bei ihnen nicht so knapp zu beißen, wie daheim!
Da es mir Jochen Voß bereits vor längerer Zeit gesagt hatte, daß ich mich zum Winter um einen anderen Dienst bekümmern müsse, so hatte ich mich dieserhalb an einen Vermieter des Dorfes gewandt. Es war dies ein Handelsmann, der viel in der Umgegend herumkam und auch wöchentlich einmal mit Pferd und Wagen nach Hamburg fuhr, wohin er für Mutter Voß dann[90] regelmäßig Butter und Eier an den Markt brachte. Wegen seiner Reellität war er allgemein geachtet, obwohl er öfters mal einen über den Durst trank. Meinem Wunsche gemäß hatte mir dieser Mann eine Stelle als »Lüttjung« auf einem mehrere Stunden entfernten Gute der Oldesloer Gegend besorgt, obwohl mir Jochen Voß davon abriet. Er hielte nichts von dem Dienst auf großen Gütern, sagte er, denn die »Herrenwirtschaft« habe ihm noch nie behagt. Ich aber hatte den Einflüsterungen des bereits erwähnten »Privatiers« Steffen Thies Gehör geschenkt, der mir plausibel gemacht hatte, daß man sich nur in einem großen landwirtschaftlichen Betriebe zu einem tüchtigen Knecht ausbilden könne; und nur ein solcher könne später einmal auch einen hohen Lohn verlangen. So war denn mit dem Vermieter alles abgemacht. Nach landesüblichem Brauch hatte ich bereits einen Taler »Gottsgeld« erhalten, von dem der Vermieter für seine Mühewaltung 2 Mark einbehielt, und damit galt der Dienstvertrag für ein Jahr als rechtskräftig abgeschlossen.
Jochen Voß zahlte mir am Abgangstage meinen restierenden Lohn in sieben blanken Talern aus und gab mir noch einige Groschen Draufgeld. Auch ein Gesindedienstbuch, das er sich vom Ortsvorsteher auf meinen Namen hatte ausstellen lassen, überreichte er mir, und nun hatte ich's schriftlich, daß ich ein halbes Jahr als Kuhhirte bei ihm »treu und redlich« im Dienst gewesen war. Als ich »Adjüs« sagte, meinte er mit einer gewissen Bewegung im Tone: »'t is doch merkwürdig, wu snaksch de Minschen mitunner dörch de Welt kamt. Nu mußt du af son jung Bengel dy hier ganz alleen in de Frömd' durchkröpeln, un keen Deuwel quält sich um dy, wenn dy mal wat up de Hand stött. Na, lat dy't got gahn, min Jung! Adjüs, Adjüs!«
Fast wehmütig wandte ich den Rücken und ging dem Dorfe zu. Der Abschied von diesen biederen Landleuten war mir aufrichtig schwer geworden.
Ausgewählte Ausgaben von
Das Leben eines Landarbeiters
|
Buchempfehlung
Camilla und Maria, zwei Schwestern, die unteschiedlicher kaum sein könnten; eine begnadete Violinistin und eine hemdsärmelige Gärtnerin. Als Alfred sich in Maria verliebt, weist diese ihn ab weil sie weiß, dass Camilla ihn liebt. Die Kunst und das bürgerliche Leben. Ein Gegensatz, der Stifter zeit seines Schaffens begleitet, künstlerisch wie lebensweltlich, und in dieser Allegorie erneuten Ausdruck findet.
114 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
442 Seiten, 16.80 Euro