Erzählung

[155] Ein ehrlicher, unlängst angezogener Schäfer, welcher sonnabends keine Zeit gehabt hatte zu beichten, wollte dies sonntags früh, vor Anfang des Gottesdienstes, tun. Er trieb mit seiner Herde auf den Kirchhof und ging, als er die Kirche offen fand, in der Absicht hinein, seine Beichte gleich abzulegen. Als ihm aber der Pastor zu lange außen blieb, so ging er nach dem Altar, nahm einige Hostien von der Patina, tat einige derbe Züge Wein aus dem Kelche hintendrein und trieb mit der Herde wieder von dannen. Hierauf kömmt der Schulmeister in die Kirche, um ihm zu sagen, daß der Herr Pastor gleich dasein werde, aber fort ist der Schäfer. An einigen verschütteten Tropfen Wein vermutete der Schulmeister, daß der Schäfer sich das Abendmahl selbst gereicht habe, welches die fehlenden Hostien und der halb ausgeleerte Kelch bestätigten. Gegen Abend läßt der Pastor ihn rufen und setzt ihn zur Rede, warum er nicht auf ihn gewartet habe. »Herr Pastor«, antwortete er, »Sie blieben mir zu lange, meine Schafe hungerten, und ich mußte sie weitertreiben; daher habe ich mir selbst ein paar Sakramenterchen genommen und wie Christus, Gott verzeih's mir, einen pommerschen Schluck darauf getrunken: davon ist mir's auch den ganzen Tag über so wohl gewesen, als ob ich neugeboren wäre.« – »Nu, wenn es das ist«, erwiderte der Herr Pastor, »so mag es einmal drum sein, ein andermal aber wird Er sich gedulden, bis ich komme!« Diese Anekdote ging von Munde zu Munde und wurde allgemein belacht.

Quelle:
Sachse, Johann Christoph: Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers. Von ihm selbst verfasst, Berlin 1977, S. 155.
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Der deutsche Gil Blas
Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers
Der deutsche Gil Blas. Eingeführt von Goethe. Oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers