Nächtliche Abenteuer

[150] Am dritten Tage machte ich mich wieder auf den Weg. Als ich vors Tor kam, war ich unschlüssig, ob ich nach Lübeck oder zu meinen Eltern gehen sollte, und immer war es mir, als flüsterte mir jemand zu: dein Herr ist fort, du triffst ihn nicht! Endlich behielt doch der Gedanke, daß ich meine Sachen auf jeden Fall wiederhaben müsse, die Überhand, und so schlug ich den Weg nach Lübeck ein. Ein anhaltender Regen nötigte mich, in dem Dorfe Schmilau einzukehren und bis gegen Abend darin zu verweilen. Der Wunsch, in Ratzeburg bei einem Bekannten[150] zu übernachten, machte, daß ich mich der Gefahr des Verirrens aussetzte. Bald wurd ich gewahr, daß ich vom rechten Weg abgekommen war, und mußte über Hecken und Zäune steigen, um ihn wiederzufinden. Darüber ward es Nacht; ich befand mich in einer ganz unbekannten Gegend und sah mich genötigt, in einer allein liegenden Ziegelhütte mir Nachtquartier zu erbitten. Außer einer hübschen jungen Frau, welche mich einließ und freundlich bewillkommte, war niemand zu Hause. Sie brachte mir Brot und Käse und einen Labetrunk, wobei sie mir gesprächig erzählte, daß ihr Mann auf einem benachbarten Dorfe einer Köst1 (einem Schmause) beiwohne und Musik mache. Sie ließ mir es merken, daß mein Einspruch ihr nicht unangenehm sei, deswegen ließ ich mir es schmecken und tat wie zu Hause. Endlich nahm ich auf einer bretternen Stellage von dem Nachtlager Besitz, das sie mir bereitet hatte, sie selbst aber, nachdem sie das Licht verlöscht, legte sich in das an der Wand stehende Ehebette. Vor Müdigkeit schlief ich bald ein. Auf einmal erhob sich in der Stube ein Lärm, welcher mich ermunterte. Mein guter Ziegler war um Mitternacht, wider Erwarten und etwas berauscht, vom Schmause zurückgekommen und mutete seiner Frau etwas zu, welches sie zu jeder andern Zeit ihm vielleicht nur zu gern bewilligt haben würde; lange wies sie seine Aufforderung zurück, endlich wurde die Festung mit Sturm eingenommen. Aus Neugier bog ich meinen Hals über die Stellage hinweg, das Brett schlug um, und pautz! lag ich in der Stube. – »Herr Jesus Christus, was war das?« rief der Mann erschrocken und zog die Bettgardinen zu, während ich halbtot für Schrecken mich leise aufraffte, mein Päckchen und Stock ergriff und mich schüchtern zur Türe hinausschob. Ich dankte Gott, als ich mich im Freien sah, daß ich mit heiler Haut davongekommen war, denn das Späßchen konnte schlecht für mich ablaufen. Ich fürchtete, man möchte mir nachkommen,[151] aber ich blieb unverfolgt. Vermutlich hatte der Mann den Lärm für die Wirkung eines nächtlichen Poltergeistes gehalten, denn die Frau hatte ihm gewiß meine Anwesenheit sorgfältigst verschwiegen. Nachdem ich noch einige Stunden unter freiem Himmel geruht hatte, macht ich mich nach Ratzeburg auf den Weg und hatte die Freude, bei meinem Freunde eine recht gastfreundschaftliche Aufnahme zu finden. Ich mußte bis nach dem Mittagsessen bei ihm verweilen und sollte durchaus bis den andern Morgen dableiben, da ich mich aber nicht halten ließ, so gab er mir freundlich das Geleite bis auf die Brücke, wo eben zwei Schiffe angesegelt kamen, die nach Lübeck abfuhren; der Schiffer gab mir einen Wink, ob ich mit ihm fahren wolle. Diese Einladung kam mir erwünscht, deswegen nahm ich sie ohne Umstände an. Unterwegs unterhielt ich ihn von meinem nächtlichen Abenteuer, worüber von beiden Seiten herzlich gelacht wurde.

Die Schiffe gingen auch bis in die Trave, wo ich ausstieg, meinen Pack aufsuchte und dem Schiffer für seine mir erzeigte Güte herzlich dankte. Er drückte mir die Hand und sagte, der Mensch müsse, wo er nur könnte, gegen andre gefällig sein, zu Wasser treten Fälle ein, wo man gerne hälf' und doch nicht könne.

Ich suchte darauf meinen Herrn in der »Stadt Hamburg« auf, wo ich aber erfuhr, daß er schon vor fünf Tagen wieder abgereiset wäre. Was sollt ich tun? Mich in die »Stadt Hamburg« einzuherbergen, dazu reichte meine geschwächte Kasse nicht hin: ich ging daher in den Gasthof »Zum Kreuz« auf der Steinstraße, legte daselbst meinen Bündel ab und besorgte darauf einige Empfehlungsbriefe, welche mir der Kaufmann Burgermeister mitgegeben hatte und die mir, wenn auch keine Kondition, doch einige Geschenke einbrachten, von denen ich in Lübeck ein paar Tage leben konnte, nach deren Verlauf ich meinen Rückweg über Grönau nach Ratzeburg antrat, legte aber diesen Tag nicht über zwei Meilen zurück.

Quelle:
Sachse, Johann Christoph: Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers. Von ihm selbst verfasst, Berlin 1977, S. 150-152.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Der deutsche Gil Blas
Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers
Der deutsche Gil Blas. Eingeführt von Goethe. Oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers