Erstes Kapitel

[14] Daß der Mensch, gleich dem Vogel, da, wo er lebt, öfters Nachkommenschaft hinterläßt, ohne zu wissen, in welchen Erdteilen sie in der Folge zerstreut leben werde, ist eine bekannte Sache.

So hauseten die wohlhabenden Vorfahren meines Vaters in dem durch »Die deutschen Kleinstädter« berüchtigten Orte Crawinkel, der früher nur wegen der großen Mühlsteine im Rufe stand, welche daselbst gebrochen werden; mein Vater aber lebete schon im Jahr 1746 in Thüringen, mit seiner ersten, wohlbegüterten Frau, die ihm sechs Kinder geboren hatte, ihm aber 1758, als er eben als Proviantkommissär bei der hannöverschen Armee stand, durch den Tod entrissen wurde. Hiedurch geriet er in die peinlichste Verlegenheit, in der er auf den Einfall kam, zu Abfindung der Kinder eins seiner Häuser zu verkaufen und sich wieder zu verheuraten.

Hätte mein Vater den Besitz ansehnlicher Ländereien gehörig benutzt, so hätte er davon mit seiner Familie recht gut leben und noch etwas erübrigen können; aber bei aller wirtschaftlichen Kenntnis war er nicht der Mann, der Fleiß auf Landwirtschaft wenden mochte, sondern ein unruhiger Kopf und vielwissender Spekulant, welcher sich nur durch Handel und Wandel zu bedeutender Wohlhabenheit glaubte emporschwingen zu können, weshalb er die größten Geschäfte unternahm.

Das Haus wurde wirklich verkauft, eine zweite Frau, meine Mutter, geheuratet und sein bisheriges Lieferantengeschäft zum Teil von meiner Mutter Vermögen und[14] zu ihrem Nachteil fortgesetzt, wie der Erfolg lehren wird.

Nun kommt die Reihe an meine Wenigkeit. – Nach meinem Taufzeugnisse und der mehrmaligen Erzählung meiner Mutter war es der 13. August des Jahres 1761, als ich zu Cobstädt, einem thüringisch-sächsischen Dorfe bei Gotha, das Licht der Welt erblickte.

Hätten die Gestirne und Zeichen, unter welchen man geboren wird, wirklich Einfluß auf die Fähigkeiten und künftigen Schicksale der Neugebornen, so dächt ich, daß ich unterm Merkur und im Zeichen des Wassermanns geboren sein müßte, da der Frühling, Sommer und Herbst meines Lebens ein fast ununterbrochenes Umhertreiben gewesen ist, bei welchem mir das Weinen gar oft näher als das Lachen war.

Der Herr Pastor, Wilhelm Meister zu Cobstädt, mußte mir, meiner Schwächlichkeit wegen, die Nottaufe geben, in der ich den Namen Johann Christoph erhielt. Wer meine Paten wissen möchte, dem muß ich sagen, daß einer derselben Herr J.C. Gleine, Hauslehrer des Herrn Pastors, der andere aber der Herr Schulmeister Cott zu Reichenbach war.

Der Reihe nach war ich das achte von den zwölf Kindern meines Vaters und das zweite meiner Mutter, seiner zweiten Frau, einer gebornen Thomassin aus Reichenbach. Wäre mein Vater nur halb so wirtschaftlich und für das Glück seiner Kinder so zärtlich wie sie besorgt gewesen, so würde das Schicksal unserer Familie vielleicht eine freundlichere Wendung genommen und ich nicht nötig gehabt haben, eine Art von Abenteurer in der Welt zu spielen.

Vergebens bemühete sich mein Vater, meine Mutter zu bereden, mit ihm auf gut Glück im Kriegsfelde herumzuziehen und ihr ganzes beträchtliches Vermögen seinen leichtsinnigen Spekulationen preiszugeben; sie war durch einige bedeutende Aufopferungen gewarnt worden, seinen Vorspiegelungen Glauben beizumessen.[15]

Hierdurch entstanden zwischen beiden verdrießliche Verhältnisse, welche meine Mutter plötzlich veranlaßten, von Cobstädt wieder hinweg und auf ihr Gut nach Reichenbach zu ziehen, wohin sie mich als Wickelkind mitnahm.

Nach geendigtem Kriege kehrte mein Vater zu meiner Mutter mit einer reichen Beute, d.h. einer abgetragenen Uniform, einem Degen, einem alten Pfeifenkopf und leerem Tornister zurück, womit er unmöglich die Vormünder meiner Stiefgeschwister befriedigen konnte. – Nun war guter Rat teuer! Verklagt von den Vormündern, mit Vorwürfen von meiner Mutter überhäuft, mißvergnügt über seine mißlungene Spekulation, suchte er sich so gut als möglich zu helfen und legte eine Brauerei und Branntweinbrennerei an, die ihm aber ebensowenig als der Handel abwarf, welchen er nebenbei trieb.

Unter dergleichen häuslichen Verhältnissen hatte ich das fünfte Jahr erreicht und wurde nun zu meinem vorgenannten Paten in die Schule geschickt, worin ich solche Fortschritte machte, daß ich bis zum neunten Lebensjahre nicht nur einen guten Grund im Christentum, Rechnen, Schreiben und in der Weltgeschichte gelegt, sondern es auch in der Musik so weit gebracht hatte, daß ich auf dem Chor ziemlich fertig ein Rezitativ oder eine Arie vortragen konnte. Diese Vorkenntnisse kamen mir in der Folge sehr wohl zustatten.

Während dieser Schuljahre gab mein Vater seine Brennerei und Brauerei auf und legte sich bloß auf Handelsgeschäfte, in denen er öfters abwesend war.

Die häufigen Tränen, welche meine Mutter vergoß, wenn er, ohne Geld mitgebracht zu haben, Geld zu einer neuen Reise einpackte, ließen mich vermuten, daß es mit seinem Handelsglück nicht zum besten stehen müsse; aber diese Vermutung wurde zur Gewißheit, als meine Mutter ihm vorwarf, daß er seinen ungewissen Spekulationen nicht nur sein eignes beträchtliches Vermögen, sondern auch einen ansehnlichen Teil ihres Eingebrachten aufgeopfert habe.

Dieses häusliche Mißverhältnis stieg im Jahr 1768 fast[16] aufs höchste, indem meine Mutter durch das Ableben ihrer Mutter nicht nur ihre beste Stütze gegen die Geldforderungen meines Vaters, sondern dieser selbst auch durch eine unglückliche Feuersbrunst sein letztes Haus in Cobstädt verlor.

Die drückende Teurung, welche im Jahre 1771 in Thüringen herrschte, erregte in meinem Vater die Hoffnung, sich durch Fruchtaufkauf wieder zu helfen. Deswegen verband er sich mit einem weitläufigen Verwandten, dem bekannten Hofjäger Hauptmann in Weimar, der oft bei meinen Eltern gewesen war, und holte, auf gemeinschaftliche Gefahr, Getreide aus dem Hessischen.

Wirklich hatt er anfangs einen so vorteilhaften Absatz, daß er meiner Mutter, die ihrer Niederkunft entgegensah, ansehnliche Geldunterstützung senden konnte.

Quelle:
Sachse, Johann Christoph: Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers. Von ihm selbst verfasst, Berlin 1977, S. 14-17.
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