Anstandsbesuche.

[110] Anstandsbesuche macht man bei den verschiedenartigsten Gelegenheiten. Man macht sie, nachdem man eine Familie kennen gelernt hat, um sich bei ihr im Hause einzuführen, man macht sie bei dem Vorgesetzten vor Antritt der Stellung, nach einem Balle, einer Landpartie überhaupt bei so vielen[110] Veranlassungen, die alle aufzuführen, zu weit gehen würde.

Man sei außerordentlich vorsichtig darin, ob man die vielleicht ganz flüchtig im Laufe des Gesprächs ergangene Einladung zu einem Besuche wirklich als ganz ernst gemeint aufzufassen habe, denn mancher glaubt, seiner Höflichkeit durch eine Einladung zu einem Besuche am besten Ausdruck geben zu können, denkt sich aber vielleicht ebensowenig dabei, wie beim Aussprechen der landläufigen Phrase: »Bitte, sprechen Sie recht bald vor!«

Nichts ist widerwärtiger, als bei einem Besuch zu merken, daß man nicht willkommen war, oder eine Person zu empfangen nach dessen Fortgang man sich sagt: »Was hat der Mensch nur eigentlich gewollt?«

Hat man einen Besuch zu machen, so wähle man eine passende Toilette, die sich sowohl nach der Person des zu Besuchenden, als auch nach dem Zweck des Besuches richtet. Man überlege, ob man Frack und weiße Handschuhe zu wählen, in diesem Falle auch einen Wagen zu benutzen hat, oder ob man einen einfachen dunklen Anzug und hellfarbige Handschuhe anziehen, sowie zu Fuß gehen kann.

Damen, welche Besuche machen, wollen darauf sehen, daß die Toilette ihrem Alter, der Jahreszeit und dem Zweck des Besuches entspreche. Auch der Zeit des Besuches ist Beachtung zu schenken. Man darf nicht eine Zeit wählen, in der man den zu Besuchenden, beim Essen, Mittagsschlaf oder in der Ausübung sonstiger Lebensgewohnheiten stören würde.

Hat jemand, den wir besuchen wollen, bestimmte Sprechstunden, so erkundige man sich nach denselben und komme während dieser Zeit, sonst aber wähle man zu einer ersten Visite, wenn sie einem Herrn gilt, immer die Vormittagsstunde, am besten zwischen 11–1 Uhr. Damen stattet man am passendsten zur Nachmittagszeit einen Besuch ab. Nach 6 Uhr pflegt man keinen Anstandsbesuch mehr zu machen.

Die Dauer eines ersten Besuches sei eine sehr kurze, keinesfalls überschreite sie eine Viertelstunde. Man lege während dieser Zeit den Zweck seines Besuches genügend und auf schickliche Weise klar. Man vermeide beim Gespräch[111] vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen, da man nach Ablauf der vorschriftsmäßigen 15 Minuten dasselbe nicht plötzlich abbrechen darf.

Auf solchen Besuch erfolgt binnen kurzem nun gewöhnlich ein Gegenbesuch oder eine Einladung zu irgend einer Gesellschaft. Unterbleibt beides, so zeigt man dadurch, daß man eine Verbindung mit dem Besucher nicht anzuknüpfen beabsichtigt.

Der Gegenbesuch kann aber in bestimmten Fällen unterbleiben. Ein Familienvater wird einen jungen Mann, der ihm Visite macht, wohl kaum besuchen können. In diesem Falle pflegt er aber den Besucher beim Fortgehen zu einer Erneuerung des Besuches einzuladen.

Man hat zu prüfen, ob die Aufnahme eine derartige war, daß man diese Einladung als eine ernstgemeinte aufnehmen kann. – Schlug der Besuchte dem Gaste gegenüber einen freundlichen Ton an, führte ihn ins Wohnzimmer oder in den Salon, oder rief Familienmitglieder ins Empfangszimmer, oder bewirtete ihn freundschaftlich, so darf man annehmen, daß man gern gesehen war und eine Wiederholung des Besuchs gewünscht wird. Geschah aber nichts von alledem und wurde zum Schluß nur die Phrase hingeworfen: »Sie sprechen wohl gelegentlich mal wieder vor,« dann war man eben nicht willkommen.

Ein Vorgesetzter, der von seinem Untergebenen besucht wurde, pflegt diesem auch wohl keinen Gegenbesuch zu machen, wie auch Damen den Herren keine Gegenbesuche machen werden, wenn sie dazu nicht das Amt oder die Beschäftigung verpflichtet.

Wiederholungsbesuche kann man ebenfalls zu jeder Zeit machen, die einem passend erscheint.

Quelle:
Samsreither, J. V. & Sohn: Der Wohlanstand. Altona-Hamburg 2[1900], S. 110-112.
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