I. Madame Holtermann.

[2] Ich kann nicht bestimmen, ob dies ihr wirklicher Name oder nur ein angenommener war; denn diese Person hatte sich zum Theil in ein so mystisches Dunkel gehüllt und war überhaupt so seltsam, daß man auch von ihr erwarten konnte, sie habe sich mit einem fremden Namen genannt.

Ich war zwölf Jahr alt, als mein guter Stiefvater sie mir als meine künftige Musiklehrerin vorstellte, und der Eindruck, den sie durch ihre äußere Erscheinung auf mich machte, hätte mir fast die schöne Kunst verleidet, zu deren Priesterin sie sich geweiht hatte.

Man denke sich eine kleine, ziemlich dicke Frau mit einem Gesichte, auf das alle Leidenschaften ihr Siegel gedrückt zu haben schienen, und deren[3] Züge dadurch so verwirrt geworden waren, daß man kaum eine Physiognomie herauszulesen vermochte. Zahllose Runzeln, die sich bereits überall eingenistelt hatten, ließen auf ein vorgerücktes Alter schließen; dem widersprachen aber die äußerst lebhaften, funkelnden und schönen Augen, die aber dadurch einen ganz eigenen Ausdruck erhielten, daß sie fast blind waren und irre und unstät im Kopfe umherrollten, ohne einen Gegenstand gehörig fixiren zu können. Der Mund war völlig zahnlos und der häßlichste, breiteste und unangenehmste, den ich je gesehen habe. Ganz wunderbar machten sich auch die lebhaften, aber eckigen Bewegungen dieser schon alten und, wie gesagt, etwas corpulenten Person und das, durch ihre außerordentliche Kurzsichtigkeit herbeigeführte, Zutappen und Zufahren auf Dinge, die sie ergreifen wollte. Fast noch unangenehmer, als alles Dieses, wirkte aber ihre Stimme auf mich, die ich für äußere Eindrücke sehr empfänglich und gegen unangenehme über die Maßen empfindlich war, eine Unart, die ich leider beibehalten habe. Diese Stimme, wie soll ich sie beschreiben? Ich habe viele laute, gellende, spitzige gehört, aber nie wider eine wie diese: sie war zugleich schrillend, pfeifend, keuchend und hatte doch dabei eine Kraft[4] und Helligkeit, daß sie einen ganzen großen Saal ausfüllte.

Um das phantastische Bild vollständig zu machen, war diese Frau zugleich nachlässig und überaus schmuzig gekleidet, aber doch auch wieder seltsam aufgeputzt – man hat in Nord-Deutschland das sehr passende Wort: aufgeflirrt dafür –. Ihr sehr verblichener und zerdrückter Hut war mit chiffonnirten Bändern, Blumen und Federn beladen, denen man es ansah, daß sie auf dem Trödel gekauft und für ihre jetzige Besitzerin nie neu gewesen waren. Das Kleid sollte weiß sein, hatte aber, um mich eines Ausdrucks von Quevedo zu bedienen, jetzt eine »heilige Farbe,« d.h. gar keine mehr oder vielmehr, es war eine Musterkarte aller Farben; ganz seltsam nahm sich dabei eine halbe Schleppe – man trug damals in Gesellschaften noch Schleppkleider – aus, mit der ihre arme Besitzerin durchaus nicht zu bleiben wußte, indem sie zu kurz war, um sie aufnehmen zu können, und so ihr unaufhörlich zwischen die Füße kam, was sie in tausend Verlegenheiten versetzte und ihrem Gange etwas Stolperndes und Unsicheres gab. Eine große Schlitze an der Seite, die weit von einander klaffte, zeigte bei jeder Bewegung eine ungeheure, stark gefüllte Tasche von[5] sehr buntem Kattun; dieses portative Magazin war unerläßlich für die gute Dame, die nicht nur stark schnupfte, sondern auch unaufhörlich Confect aus dieser Tasche naschte. Ueber die Fußbekleidung mag ich nicht reden; sie war der Art, daß sie wahrhaft Ekel einflößte, und dies konnte kaum anders bei einer Person sein, die sich im höchsten Grade vernachlässigte und dabei Stunde für Stunde durch den unermeßlichen Schmuz Hamburgs waren mußte, um ihrem Berufe nachzugehen.

– »Deine künftige Lehrerin, meine Tochter,« sagte mein Vater, sie mir vorstellend, und sich zu ihr wendend: »Ich hoffe, Madame, daß sie bei Ihnen profitiren wird, denn sie hat Lust zur Musik und scheint Anlage dazu zu haben.« Dann ging er und ließ uns Beide allein, um den Unterricht zu beginnen, bei dem ich eine traurige Figur gespielt haben mag, denn ich war so verwirrt über diese seltsame Erscheinung, so abgestoßen von ihr, so sehr mit ihrer auffallenden Persönlichkeit beschäftigt, daß ich nicht Acht auf das geben konnte, was sie mir sagte, und gern die Musik auf immer aufgegeben haben würde, um nur nicht vier Stunden in der Woche in dieser unangenehmen Nähe sein zu müssen.

Bald wußte sie jedoch meinen Ehrgeiz anzuregen,[6] wie sie denn überhaupt eine äußerst kluge, scharfsichtige Person war, und ich machte einige Fortschritte, machte diese dann bald so schnell, daß sie die größten Hoffnungen hegte, eine bedeutende Musikerin aus mir zu machen; daß diese nie in Erfüllung gegangen sind, daran ist vielleicht allein ihre mir stets so widrig bleibende Persönlichkeit Schuld, vor der ich mich, bei aller Achtung, die ich ihr übrigens weihen mußte, dermaßen fürchtete – dies ist das rechte Wort – daß ich bei ihr that, was ich nie bei einem andern Lehrer gethan habe: ich verbarg mich vor ihr, ich suchte, so viel als irgend möglich, die Unterrichts-Stunden zu schwänzen; ich war in's Feld hinausgelaufen oder in eine hohe, dichtbelaubte Linde hinaufgeklettert, wo mich Keiner suchte, wenn die Unterrichts-Stunde heran kam, und ließ mich, mit vor Angst bebendem Herzen, überall suchen und rufen, ohne meine Gegenwart kund zu geben; ja, ich erinnere sogar, daß ich einmal hinter einen Koffer kroch, als mir, da es Winter war und wir uns in der Stadt aufhielten, kein anderer Versteck übrig blieb. Meine arme Stiefschwester Marianne, ein Muster von Geduld und Güte, mußte dann die beiden Stunden nehmen und that es willig aus Liebe zu mir.[7]

Nicht beschreiben kann ich, was ich empfand, wenn ich nur ihre Stimme hörte, namentlich wenn sie sang, denn auch Sing-Unterricht empfingen wir von ihr; ihre Töne gingen mir gleichsam durch Mark und Bein und erschütterten mir dermaßen die Nerven, daß ich mich krank davon fühlte.

Trotz dem war diese Frau nicht nur eine sehr brave, sondern auch äußerst geniale Person. Sie liebte nicht nur ihre Kunst mit Leidenschaft, sondern verstand sie auch aus dem Grunde und spielte fast alle Instrumente mit großer Fertigkeit, selbst Flöte und Violine, womit sie ihre Schüler accompagnirte und die sie, ohne sich zu geniren, unter dem Arme über die Gassen trug, was sich denn bei ihrer phantastischen Kleidung seltsam genug machte.

Da sie an mir Talent zur Musik entdeckt zu haben glaubte, hatte sie es sich einmal in den Sinn gesetzt, eine große Virtuosin aus mir, allen von mir selbst ausgehenden Hindernissen zum Trotze, zu machen, und so bat und beschwor sie mich nicht nur oft unter Thränen, doch mehr Fleiß und Liebe auf die von ihr vergötterte Kunst zu verwenden, sondern sie war auch uneigennützig genug, mir die durch meine Schuld verloren gegangenen[8] Stunden zu ersetzen, wofür sie nie eine Vergütung annehmen wollte. Oft trat sie ganz unerwartet zu uns ein, fuhr, so wie sie mich erblickte, auf mich los, ergriff mich beim Arm oder bei der Hand und rief gleichsam mit triumphirendem Tone:

– »Da hab' ich Dich, Wichtchen! Nun komm an's Fortepiano – wir wollen nachholen, was neulich versäumt worden.«

Man kann sich mein Erschrecken denken; allein all mein Sträuben half zu nichts, ich mußte spielen, mußte eine ganze Stunde, und drüber, diese mir so verhaßte Nähe dulden, mußte meine Lieblingslieder von dieser mir so furchtbaren Stimme singen hören und sie mir dadurch auf immer verleiden lassen.

So wie ich reifer und vernünftiger wurde, änderte sich jedoch dieses Verhältniß gänzlich, und ich bekam eine solche Achtung vor meiner Lehrerin, daß es mir nicht mehr möglich war, sie zu betrüben, denn das that ich, wenn ich nicht fleißig und aufmerksam beim Unterrichte war. Ich entdeckte nämlich nach und nach die außerordentlichsten Kenntnisse, ja, außer ihrem großen musicalischen Talente, auch noch andere an ihr, und dies flößte mir Achtung gegen sie ein. Sie sprach[9] und schrieb nicht nur fast alle lebenden Sprachen, sondern verstand sogar Latein und Griechisch; sie las viel und kannte die Literatur mehrer Sprachen durch und durch, und schämte sich in ihrem Alter nicht, noch Unterricht zu nehmen. Sie hatte einen scharfen Verstand und verband mit demselben einen brillanten Witz, der, da ihr Gemüth oft verbittert war, oft verwundete, so daß man sie zugleich achten, bewundern und fürchten mußte. Ihre Sprache war gebildet, ihr Urtheil meist sehr richtig; sie streckte die geistigen Fühlhörner gleichsam nach allen Seiten aus und Nichts entging ihr, selbst dann nicht, wenn man sie mit ganz andern Dingen beschäftigt glaubte.

Es fand sich bald eine Gelegenheit, wo ich sie unter vier Augen in ihrem eigenen Hause sah, und hier war es, wo ich sie näher kennen lernte. Sie schlug mir nämlich vor, die englischen Dichter mit mir zu lesen und mich überhaupt in dieser Sprache weiter zu bringen, als dies bei einem sehr mittelmäßigen Lehrer geschehen konnte, den mein Stiefvater aus Mitleid nicht verabschieden wollte, weil er ein armer Teufel war und einst bessere Tage gesehen hatte, und ich nahm mit Dank diesen Vorschlag der trefflichen Frau an.

Ich hatte sie noch nie zuvor in ihrer Wohnung[10] besucht und war so einigermaßen neugierig darauf, da ich sie mir toll und bunt genug vorstellte. Allein alle meine Erwartungen sollten weit übertroffen werden, denn in so viele unordentliche Wirthschaften ich auch in meinem Leben habe blicken müssen; so ist mir doch nie wieder eine ähnliche vorgekommen. Ich glaube, daß ich dem Widerwillen – ich möchte ihn fast Abscheu nennen – den das Zimmer meiner Lehrerin mir durch seine chaotische Verwirrung einflößte, die Pedanterie in Hinsicht der Ordnung zu verdanken habe, die man mir Schuld giebt. Man denke sich ein nicht eben großes, nur schwach erhelltes Zimmer, dessen Wände mit Kleidungsstücken, wie die einer Trödelbude, behangen waren; unter diesen befanden sich recht hübsch gearbeitete Pastell-Gemälde, wovon aber die meisten schief hingen und einige sogar sich aus dem Rahmen gelös't hatten und so halb aus demselben hervorschossen; man denke sich ein halbes Dutzend schlecht erhaltener Stühle mit schmuzigen Ueberzügen, wovon kein einziger frei war, weil auf diesem ein chiffonnirter Hut, auf jenem ein Paar schmuziger Strümpfe auf einem dritten ein Unterrock u.s.w. lagen; man denke sich ein ganz neues, sehr elegantes Fortepiano, auf dem nicht nur Noten in Menge,[11] sondern auch alle zum täglichen Gebrauche nöthigen Dinge aufgehäuft waren, und endlich einen großen Tisch, auf dem Reste von Brot, schmuzige Kaffee-Tassen, Frisirkämme, Seife zum Waschen, Papier, Tinte, Federn, Rostrale zum Notenschreiben, Speise-Reste u.s.w.u.s.w. bunt durch einander lagen, so daß erst ein Plätzchen darauf frei gemacht werden mußte, wenn man sich seiner bedienen wollte. In einer Ecke lehnte eine schöne Harfe, die aber einem abscheulichen Hute zum Halter dienen mußte; nicht besser sah es in einem Bücher-Repositorium aus, das eine Menge zerlesener, schlecht erhaltener Bücher enthielt, wovon ein Theil aufgeschlagen war, ein anderer Theil mit umgekehrten oder gar nach hinten gekehrten Titeln stand. Der Staub und Schmuz eines Jahrhunderts schien in diesem wahrhaft abscheulichen Zimmer aufgehäuft zu sein, und die Luft darin war feucht, dick und übelriechend, was von einer Menge Vögeln herrühren mochte, die in finstern Käfigen am Boden oder vor den Fenster standen.

Man beschuldige mich bei der Schilderung dieses Zimmers nicht der Uebertreibung, denn nie könnte ich die Farben stark genug auftragen, um es nur so darzustellen, wie es wirklich war; das[12] geniale Bild, welches Hogarth »Finis mundi« genannt hat, und worauf Alles durch einander stürzt, Alles fällt, zerreißt, verbrennt, zerbricht, giebt eine ungefähre Idee von demselben, auch habe ich es in der Folge nie ansehen können, ohne an das Gemach meiner armen alten Freundin lebhaft erinnert zu werden.

Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hatte sie auch noch eine große Menge von Lebensmitteln aller Art, von Confitüren, Früchten, Backwerk, Speise-Resten, Auster-Schaalen, Krebsen u.s.w. um sich aufgehäuft, denn sie war, wie schon angedeutet worden, überaus genäschig und aß fast beständig. Erblickte sie nun auf ihren häufigen Wanderungen irgend eine Leckerei, die ihr zusagte, so kaufte sie sie ein und trug sie in ihre Höhle, wo sie nicht selten verdarb, weil sie nicht im Stande war, Alles zu genießen, was sie angeschafft hatte.

Ich kann den Eindruck nicht beschreiben, den der Anblick dieses Zimmers auf mich machte; er war so stark, daß ich im Begriff stand, wieder umzukehren, um es nie wieder zu betreten; allein meine Lehrerin hatte mich schon erblickt und ich hätte nicht mehr zurücktreten können, ohne sie zu beleidigen.[13]

– »Nun, Wichtchen,« – dies war ihr Zärtlichkeits-Wort – »da sind Sie?« sagte sie freundlich und war zugleich bemüht, einen Stuhl zu räumen, um ihn mir anbieten zu können. »Jetzt frisch an's Werk! Ich habe uns schon etwas ausgesucht und wir wollen tüchtig studiren. Zuvor aber will ich Sie tractiren; Sie müssen freilich fürlieb nehmen und sind ein besseres Frühstück gewohnt, als ich Ihnen bieten kann; allein der gute Wille gilt auch etwas bei Ihnen, ich weiß das!« und damit war sie beschäftigt, eine Ecke des Tisches aufzuräumen und aus dem Ofen-Kasten eine Flasche süßen Wein und eine Menge Naschwerk hervorzuholen, das theils auf sehr unsaubern Tellern lag, theils sich noch in Papier-Tüten befand.

Man kann sich meine Verlegenheit, ja, meine Angst denken, in dieser Umgebung etwas genießen, Speisen zu mir nehmen zu sollen, die sie, wie ich wußte, in ihrer großen Tasche herbeigeschleppt hatte; ich wäre vor Ekel gestorben, wenn ich auch nur einen Bissen davon hätte nehmen müssen, und wie schwer war es, sie abzuweisen, ohne sie bitter zu kränken! Dennoch blieb mir keine Wahl; ich hätte den Tod diesem mir zugedachten Frühstück unbedingt vorgezogen, und so[14] mußte sie, zu ihrem großen Verdrusse, sich allein damit abfinden. Ich glaube, daß sie die Ursache errathen hat, die mich so standhaft sein ließ, denn sie schien etwas piquirt zu sein und setzte mich in der Folge nie wieder in eine solche Verlegenheit.

Besser mundete mir die geistige Speise, die sie mir vorsetzte: ihr Unterricht war wirklich vorzüglich und ich lernte in dieser einen Stunde mehr, als in einem Monat bei meinem Lehrer. Dann machten wir etwas Musik, durchmusterten ihren Bücher-Schatz und besahen ihre Malereien, die sie in einer großen Mappe verwahrt hatte und die zum Theil ganz ausgezeichnet waren.

Das Portrait eines sehr alten Mannes mit bedeutenden, überaus ernsten Gesichtszügen fiel mir auf.

– »Ihr Vater vielleicht?« fragte ich, es in die Hand nehmend und mit Aufmerksamkeit betrachtend.

– »Nein, mein verstorbener Gatte,« versetzte sie; »das Bild des Mannes, dem ich zugleich das Glück und das Unglück meines Lebens zu verdanken habe. Ohne ihn wäre ich nicht, was ich bin, ich wäre vielleicht gar nichts; ich verdanke ihm meine ganze Bildung.«

Sie sagte mir damals nichts weiter über diesen[15] Gegenstand, erzählte mir aber späterhin, als wir einander näher traten, einen Theil ihrer Lebensgeschichte, freilich mit Verschweigung aller Namen und ohne den Ort zu nennen, in dem sie geboren war.

Sie war die Tochter reicher und vornehmer Eltern gewesen und ihr Vater hatte einen hohen Posten im Staate bekleidet. Früh schon zeigte sich eine außerordentliche Neigung für die Kunst an ihr, die sie in spätern Jahren mit so großer Leidenschaft betrieb, und sie war es gewesen, die sie ihrem nachherigen Gatten zugeführt hatte, der, damals schon fast ein alter Mann, ihr Musiklehrer gewesen und eben so begeistert für seine schöne Kunst, wie seine jugendliche Schülerin war.

Am Clavier, unter den Harmonien, die sie durch seine Töne hervorriefen, hatte sich die ihrer Seelen kund gethan, und trotz der großen Verschiedenheit ihres Alters, hatten sie die lebhafteste Leidenschaft für einander gefaßt.

Holtermann – so nannte sie ihren nachherigen Gatten, ich vermuthe, daß dies nicht sein rechter Name war, weil sie alle andern Namen so sorgfältig verschwieg – war aber nicht nur ein ausgezeichneter Musiker, sondern ein durch und durch gebildeter und sogar gelehrter Mann, und[16] so mußte er ihr, die schon früh eine eigenthümliche Richtung des Geistes kund gegeben hatte und vor ungestillter Wißbegierde brannte, doppelt bedeutend werden.

Sie hegte, von dem Augenblick an, wo ihre Seelen sich erkennen lernten, keinen lebhaftern Wunsch, als sich auf immer mit ihm zu verbinden; allein demselben standen fast unüberwindliche Hindernisse im Wege, da ihre Eltern ganz andere Pläne mit ihr hatten, als sie einem armen Musiklehrer zur Gattin zu geben, der noch überdies als eine Art von Genie im schlechtesten Rufe in der nur auf Stand und Vermögen sehenden großen Welt stand. Zu Anfang dachte zwar Keiner an die Möglichkeit, daß sich ein junges, reiches und vornehmes Mädchen in einen Mann hätte verlieben können, der alt, arm und ohne Ansehen, dabei nicht einmal einnehmend von Gestalt und Wesen war, und so hatte das Liebes-Pärchen gutes Spiel; allein bald wurde man durch die leidenschaftliche Heftigkeit der Geliebten, mit der sie die Ankunft ihres Lehrers erwartete, und durch die sich über die Gebühr ausdehnenden Unterrichtsstunden doch aufmerksam, man belauschte sie, und der Lehrer erhielt auf der Stelle seinen Abschied.

Indeß gehörte Magdalene – diesen Vornamen[17] führte meine alte Freundin – nicht zu Denen, die sich durch Hindernisse abschrecken lassen, und weit davon entfernt, ihrer Liebe zu entsagen, war sie nur daruf bedacht, sich unauflöslich mit dem Geliebten ihres Herzens zu verinden, ohne den sie nicht mehr leben konnte, und als daher ihre Eltern sie zu einer andern, ihnen besser anstehenden Verbindung zwingen wollten, schlug sie Holtermann vor, sie zu entführen, was er nach einigem Zögern that.

Ob die Liebenden gleich nach ihrer Flucht nach Hamburg kamen oder sich erst noch an andern Orten aufhielten, habe ich nicht in Erfahrung gebracht; auch nicht, ob es ihnen gelang, den Bund ihrer Herzen wirklich durch die Ehe heiligen zu lassen; kurz, sie lebten mit einander und waren glücklich, bis sich Noth und bittrer Mangel bei ihnen einstellten und zwar in Folge einer Krankheit, die Holtermann mehre Jahre an das Lager fesselte und ihn unfähig machte, seine Kunst auszuüben.

Jetzt war es an ihr, Frucht von dem von ihrem Gatten erlernten zu ziehen; sie bemühte sich um Unterricht und war so glücklich, in Hamburg einen vielvermögenden Gönner zu finden, der sie in guten Häusern als Lehrerin empfahl, und so war ihre äußere Existenz bald wieder genügend festgestellt.[18]

Sie erzählte mir, daß sie schöne, glückselige Tage an der Seite eines noch immer angebeteten Gatten verlebt habe, der sie nicht nur auf Händen getragen, sondern es sich auch unaufhörlich zum Geschäft gemacht habe, ihren Geist auszubilden und ihre Kenntnisse zu vermehren. Ihm allein verdankte sie – und noch jetzt mit großer Rührung – Alles, was sie war, und sein Tod, der nach einer Reihe von Jahren in Folge seiner Krankheit erfolgte, versetzte sie in eine wahrhafte Verzweiflung.

Sie stand von da an allein in der Welt da; ihre Eltern, die ihr nie hatten vergeben wollen und sie in ihrem Zorne enterbt hatten, waren indeß gestorben; ihren Geschwistern, die reich und angesehen in der Welt dastanden, war sie entfremdet worden, und ihr Stolz erlaubte ihr nicht, um die Gunst derselben zu betteln; so verblieb sie in den Verhältnissen, worin sie beim Tode ihres Gatten gewesen war, und war jetzt alt und grau in denselben geworden. Von ihrem verstorbenen Gatten sprach sie nur mit Ehrfurcht und Bewunderung, auch sagte sie mir, daß sie nie den Schritt bereut habe, durch den sie sich ihm ganz zu Eigen gegeben hatte; nur daß ihre Eltern gestorben waren, ohne sich mit ihr versöhnt zu haben, schien sie tief zu schmerzen[19] und dies ist wahrscheinlich eine Wunde geblieben, die bis zu Ende ihres eigenen Lebens offen stand und blutete; sonst hat sie nie etwas bereut.

Ob sie von jeher so unordentlich war, wie jetzt, weiß ich nicht, da ich sie natürlich nicht darnach befragen konnte; doch steht es zu vermuthen, da sie sonst in dieser Hinsicht nicht so weit gesunken sein würde. Ihre, neben dem Schmuze, der sie umgab, höchst lächerliche Putzsucht erklärte sich mir aber aus ihrem Geständnisse, daß sie früher ein sehr eitles, putzsüchtiges Mädchen gewesen sei, und ohne die Bekanntschaft mit ihrem nachherigen Gatten gewiß die flachste, erbärmlichste Närrin von der Welt geworden sein würde. Davon war ihr, trotz der andern Richtung, die ihr Geist durch den bedeutenden Mann gewonnen hatte, der ihr im entscheidenden Augenblick entgegen trat, noch etwas ankleben geblieben, und so stellten sich die seltsamsten Contraste in ihrer Person dar: Verachtung alles Schicklichen und zugleich lächerliche Putzsucht.

In ihren äußeren Verhältnissen erging es ihr jetzt sehr wohl; sie gab in einigen angesehenen Häusern Unterricht und dieser wurde ihr sehr gut honorirt; sie gebrauchte aber auch nach Verhältniß viel, da sie so überaus genäschig und lecker war.

Meine Verheirathung, und späterhin meine[20] Entfernung von Hamburg während der Kriegszeiten, trennten mich auf viele Jahre von ihr; als ich endlich zurückkehrte, erkundigte ich mich sogleich, aber lange vergeblich nach ihr, denn sie war wie verschollen. Endlich fiel mir ein alter Instrumentenmacher ein, mit dem sie früher viel verkehrt hatte, weil sie die von ihm gemachten Instrumente besonders schätzte, und hier war ich glücklicher in meinen Nachforschungen nach meiner alten Freundin.

Sie hatte sich mit dem kleinen Reste ihrer Ersparnisse in das Marien-Magdalenen-Kloster eingekauft, gab aber keinen Unterricht mehr, weil sie völlig blind geworden und überdies auch noch gelähmt war. Ich eilte sogleich zu ihr und wurde von einer der andern Schwestern in ihre kleine Zelle geführt, wo sie, ganz gegen ihre Gewohnheit, aber auch ohne ihr Zuthun, auf einem sehr reinlichen Lager lag und sich von der warmen Morgen-Sonne bescheinen ließ, als ich zu ihr eintrat.

– »Guten Morgen, Madame Holtermann!« rief ich, ganz wie sonst, wenn sie kam, um mir Unterricht zu geben, und faßte zugleich nach ihrer Hand, die auf der Decke lag.

– »Mein Gott, welche Stimme, und welche Erinnerungen!« antwortete die arme Blinde, indem sie sich mit der einen freien Hand über die[21] Stirn fuhr. »Wem gehört diese Stimme, die mir so bekannt, so befreundet klingt?« fuhr sie fort, indem sie die erloschenen Blicke nach der Gegend wandte, von woher sie gekommen war.

– »Erkennen Sie denn Ihres Malchens, Ihres Wichtchens Stimme nicht mehr?« fragte ich, nur mit Mühe meine Rührung bekämpfend, denn welche Erinnerungen tauchten nicht auch in meiner Seele beim Anblick dieser Frau auf, die ich in den schönsten Tagen meiner Jugend gekannt hatte!

– »Malchen! Wichtchen! Liebchen!« rief sie jetzt, und versuchte es in ihrer freudigen Ueberraschung, sich aufzurichten, sank aber, durch ihre Lähmung daran verhindert, wieder zurück. – »Nun was sagen Sie, daß Sie mich hier sehen, und in einem solchen Zustande?« fuhr sie fort. »Eine Andere würde vielleicht darin verzweifeln, ich aber bin die Alte geblieben, obgleich ich nicht mehr gehen und sehen kann; kann ich doch denken, und o, welch ein Glück ist das nicht! Die Langeweile kenne ich nicht, und nur daß ich, wegen der häßlichen Lähmung, nicht mehr an's Fortepiano kommen kann, schmerzt mich zuweilen. Sie wollten mir das Instrument auch verkaufen, wie sie es bei vielen andern Sachen gethan haben, von denen sie sagten, daß sie mir jetzt unnütz wären; allein[22] das habe ich mir verbeten. Es kommt zuweilen doch der Eine oder der Andere, der mir die Seele durch Spielen erquickt, und Sie, Sie werden mir auch etwas vorspielen, Wichtchen! damit ich höre, ob meine Hoffnungen in Hinsicht Ihrer in Erfüllung gingen; nicht wahr, Sie werden spielen?«

Sie drückte mir bei diesen Worten zärtlich die Hand; sie war ganz glücklich und so resignirt, wie ich nie einen Menschen gesehen habe; ja, ihre sarkastische Laune hatte sich nicht einmal auf diesem Schmerzenslager verloren; sie spottete über sich selbst, über ihre Hinfälligkeit und, mit leiserer Stimme, über ihre Mitschwestern, deren zum Theil bedeutend große Bornirtheit sie ergötzte. Kurz, sie war geistig noch ganz die Alte, ihr Geist ergoß sich noch wie früher in tausend Strahlen und ihr Muth war ungebeugt.

Ich mußte ihr beim Abschiede versprechen, noch öfter wieder zu kommen und that es gern; ich hatte mich, bevor ich sie gesehen und gesprochen, vor diesem Wiedersehen gefürchtet; allein jetzt fühlte ich mich wieder ganz behaglich bei ihr, da ich sie ganz anders fand, als ich erwartet hatte.

So blieb sie bis zu ihrem Ende; keine Klage kam über ihre Lippen, kein Zeichen der Ungeduld wurde an ihr bemerkt; sie fand in ihrem reichen[23] Geiste Ersatz für Alles, was das Schicksal ihr geraubt hatte, auch wiederholte sie mir oft, daß sie die häßliche Plage der Langeweile gar nicht kenne. Rührend war auch ihre Dankbarkeit für jede kleine Güte, die man ihr erzeigte, rührender noch ihre Freude über den warmen Sonnenschein, der sie von Zeit zu Zeit beschien; sie hatte ihr Bett dicht an das Fenster bringen lassen, um seiner genießen zu können, und erquickte sich so an jedem Strahl, den die milde Sonne ihr sandte.

Einst kam ich wieder in das Marien-Magdalenen-Kloster, um meine alte Freundin zu besuchen, allein ich fand ihre Zelle leer: sie hatten sie in eine andere, noch engere getragen, und man war eben damit beschäftigt, ihre frühere für eine neue Bewohnerin in Stand zu setzen.

Man erzählte mir, sie habe ihren Tod voraus gewußt, aber trotz dem bis zum letzten Augenblick ihre frühere Heiterkeit nicht verloren. »Nun sollt Ihr bald Euren Willen haben und das schöne Fortepiano verkaufen dürfen«, waren fast ihre letzten Worte gewesen; »ich aber werde mich ja jetzt bald am Sphären-Klange und dem Gesange der Engel erlaben!«

Möge ihr diese Hoffnung erfüllt worden sein![24]

Quelle:
Schoppe, Amalia: Erinnerungen aus meinem Leben, in kleinen Bildern. Altona 1838, S. 2-25.
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