Wir pflegten Clementine im Scherze den weiblichen Jean-Jacques zu nennen, und in der That paßte diese Benennung in vielen Dingen auf sie.
Sie wurde unter glücklichen Umständen geboren und war das erste Kind junger, schöner, gesunder Eltern, die sich aus Liebe geheirathet hatten. Diesem Umstande verdankte sie vielleicht den kräftigen, sich früh entwickelnden Körper und den frischen, muthigen Geist, die ihr eigenthümlich waren. Noch bevor sie das erste Lebensjahr zurückgelegt hatte, lief sie davon und zwar mit solcher Sicherheit, daß die Mutter sie an einem Tage verlor, indem sie unbemerkt die Gasse hinunter lief und von Fremden, die eben gelandet waren, auf dem Arm der über ihr Verschwinden[155] im höchsten Grade erschrockenen Mutter wieder zugebracht wurde; man hatte sie am Landungsplatze am Ufer hin- und herlaufend gefunden und, da man von dem Meere Gefahr für ein noch so junges Kind fürchtete, sie mit in's Städtchen genommen, wo man hoffen durfte, sie den Eltern wieder zuführen zu können. Mit einem Jahre sprach sie auch, und von ihrem zweiten an erinnerte sie sich deutlich aller ihr vorkommenden Personen und aller ihrer kleinen Begegnisse.
Der Vater war ein sehr gelehrter, trefflicher, durch und durch gebildeter Mann, und dabei genial im höchsten Grade. Auch sein Geist war früh erwacht und zur Reife gediehen, denn mit 19 Jahren konnte er bereits zu Jena promoviren und mit 21 Jahren, da er eine Anstellung als Arzt erhalten hatte, seine Geliebte als Gattin in sein Haus führen. Er war nicht nur ein ganz ausgezeichneter Arzt, sondern auch Dichter, Maler und Musiker, und leistete in den genannten schönen Künsten das Ausgezeichnete.
Clementine war sein erstes Kind und er liebte sie daher mit einer außerordentlichen Zärtlichkeit, so daß er sich kaum auf Stunden von ihr zu trennen vermochte; auch war sie bei ihm, wo ihr früh erwachender Geist beständig Nahrung fand,[156] lieber, als bei der guten, sanften Mutter, die bald andere Kinder bekam und sich mit diesen, die, jünger und hülfsbedürftiger, mehr ihre Muttersorge in Anspruch nahmen, mehr beschäftigte, als mit der früh kräftigen, gesunden und gewissermaßen selbstständigen Clementine, die der Abgott des Vaters war und blieb. Nur das bedauerte er zuweilen, daß sie kein Sohn sei.
Eine große, schöne Natur umgab sie bei ihrer Geburt; das unermeßliche Meer war ihre Wiege und schon früh begriff sie seine Wunder und Herrlichkeiten; schon früh lauschte sie mit selbst noch unbegriffenem Entzücken auf das Wogengebrause, auf den Donner der sich an den Felsenblöcken des Ufers brechenden Wellen, und kannte kein größeres Glück, als mit dem Vater im schwankenden Kahne weit in die See hinauszufahren und Gefahren zu trotzen, die sie bereits begriff, die sie aber mit Wonne durchschauderten.
Eine andere Freude wurde ihr durch eine alte Kinderfrau, ihre Wärterin, die bereits ihre Mutter auf ihren Armen getragen hatte, bereitet; diese besaß einen wahren Schatz an schönen Sagen und Mährchen und verstand sie auf das Anmuthigste vorzutragen. Das sonst sehr wilde und ungestüme Kind war gewiß ganz ruhig, wenn es[157] am Meeresstrande zu den Füßen der alten Katharina saß und diese ihr in ihrer einfachen, aber hübschen Manier vom fliegenden Holländer, von den Seefrauen, die tief unter den Wassern in Palästen von grünem Smaragd wohnten, von den Nixen und kleinen Kobolden die allerseltsamsten Sachen erzählte. Voll von sehnsüchtigem Verlangen ließ sie dann oft die Blicke über die bewegte, blaue Fläche des Meeres hingleiten und wünschte nichts mehr, als daß sich einmal der Arm oder das Haupt einer solchen schönen Meerfei aus dem Wellenschaume erheben möchte, und sie glaubte fest daran, daß dies möglich sei, wie sie überhaupt an alle Wunder der ihr erzählten Sagen und Mährchen glaubte. In spätern Jahren erinnerte sie noch recht gut, daß sie oft an einem kleinen Erd-Hügel saß, von dem die alte Katharina ihr eine hübsche Sage von kleinen Gnomen erzählt hatte, die darin hausen sollten, und mit leiser Stimme rief: »Kommt doch kleine artige Männchen, ich möchte euch so gern auch einmal sehen!« und wie sie jeden Augenblick erwartete, daß sich das von ihr gewünschte Wunder begeben würde.
Die Sage von den kleinen »Erdmännchen« – so nannte die erzählende Alte die Gnomen –[158] in diesem Hügel war für Clementine um so bedeutungsvoller, da sie auf ihre eigene Familie Bezug haben sollte, und so hörte sie sie vor allen andern immer am liebsten erzählen.
Clementine's Ur-Großmutter, eine eben so fromme als kräftige Frau, so hieß es in der Sage, war früh Wittwe geworden und mit einem Häuflein Kindern bei unzureichendem Vermögen zurückgeblieben. Da hieß es denn, sich durchzuschlagen und das that die gute Urgroßmutter wacker. Im Sommer war sie allemal mit der Sonne auf und Abends die Letzte zu Bette; sie beschämte alle Mägde durch ihre rastlose Thätigkeit, und ihr großes Hauswesen ging durch ihr Bemühen wie am Schnürchen.
Oft, wenn sie Morgens die Erste im Hause auf war, und an den Heerd ging, um für die lieben, noch schlummernden Kinder die Morgen-Suppe zu kochen, fand sie, zu ihrer großen Verwunderung, ein blankes Goldstück von unbekanntem Gepräge in der Asche, und zwar immer, wenn sie recht in Noth und Sorge war und weder aus noch ein mit ihren Ausgaben wußte. Sie, als eine so fromme Frau, glaubte an Wunder, und so nahm sie getrost die in der Asche gefundenen Goldstücke an, die sie als eine Gabe[159] Gottes betrachtete, der sich ihrer Noth erbarmt und sie ihr vom Himmel herunter gereicht habe.
Bald aber sollte sie sich enttäuscht sehen. Einst, als sie um Mitternacht noch, weil am Tage nicht Zeit dazu gewesen war, als Alles im Hause bereits lange schlief, den Boden beim Schein einer Leuchte kehrte, und eben wieder in recht schweren Sorgen war, weil sie einen Termin in den nächsten Tagen bezahlen sollte, kam es ihr vor, als ob der durch den Besen aufgewühlte Staub auf eine wunderbare Weise glänze und flimmere, und endlich vernahm sie sogar Metall-Klang, so daß sie sich niederbückte, um zu sehen, was es mit diesem wunderbaren Wesen für eine Bewandtniß habe. Wie groß war ihre Ueberraschung und ihre Freude, als sie fand, daß statt des Staubes lauter blinkende Goldstücke, von demselben Gepräge, wie die, welche sie von Zeit zu Zeit Morgens in der Asche gefunden hatte, vor ihrem Besen lagen! Sie bückte sich nieder, um eins davon aufzuheben, hörte aber in demselben Augenblick ihren Namen von einer feinen, wispernden Stimme rufen.
Trotz ihres Muths, erschrack sie doch über diesen unerwarteten Ruf, denn es war Mitternacht und sie glaubte ganz allein auf dem Boden zu[160] sein. Als sie sich aber einigermaßen wieder gefaßt hatte, schlug sie ein Kreuz, sagte ein kurzes Gebet her, und blickte dann in Gottes Namen um sich. Da sah sie, ganz in der Nähe der auf den Fußboden gestellten Horn-Laterne, ein Männchen stehen, das, wie die alte Katharina sich ausdrückte, »nur drei Käse hoch war,« aber einen dicken, häßlichen Kopf mit struppigem Haar hatte; gekleidet war es ganz in Grau.
– »Um Gott, was willst denn Du hier? und woher kommst Du?« fragte die Urgroßmutter und schlug drei Kreuze, um, wenn es ein unsauberer Geist wäre, ihn durch dieses heilige Zeichen zu vertreiben. Allein das Männchen entwich nicht, sondern antwortete ihr vielmehr mit seiner feinen, wispernden Stimme:
– »Habe keine Furcht vor mir, Emerentia, Du treue Mutter und fleißige Hausfrau! Ich bin Dein Freund schon seit lange, und die blanken Goldstücke, die Du von Zeit zu Zeit in der Asche fandest, sie waren von mir; ich belohnte damit Deinen Fleiß, denn fleißige Leute liebe ich. Nun höre aber, was mich in dieser Stunde dazu treibt, Dich aufzusuchen und mich Dir in Person zu zeigen, und erfülle die Bitte, die ich an Dich ergehen lassen will. Wir sind[161] ein unterirdisches Völkchen, und man nennt uns, wie Dir bekannt sein wird, auf dieser Insel die Erdmännchen. Wir bilden, wie Ihr hier oben, einen ordentlichen Staat und haben einen König und eine Königin, die tief da unten in einem goldenen Palaste wohnen, denn wir besitzen und bewachen alle Metalle der Erde, und wenn wir ihm nicht wohl wollen, findet der rüstige Bergmann nimmer das Gold und Silber, nach dem Ihr hier eben ein so großes Verlangen tragt. Nun aber sind wir in gar großer Noth und Betrübniß: unsere schöne Königin liegt schon seit diesem Morgen in Kindes-Nöthen und kann ihres Kindleins nicht genesen; daher bin ich gekommen, Dich, die Du eine so kluge, als verständige Frau bist und selbst viele liebe Kinder geboren hast, zu bitten, unserer armen Königin Dich annehmen und ihr die Dienste einer Hebamme leisten zu wollen. Die Belohnung soll nicht ausbleiben, und nicht nur das viele blanke Gold, das hier vor Deinem Besen liegt, soll Dein sein, sondern Du sollst von da unten auch noch so viel mit herauf nehmen dürfen, als Du zu tragen vermagst, und Dir und den Deinen soll es fortan nimmer an Reichthümern fehlen.«
Diese Aussicht war lockend, mehr aber noch[162] wurde die fromme Urgroßmutter durch das Mitleid mit der armen, ihres Kindleins nicht genesen könnenden Königin getrieben, der Bitte des Erdmännchens Folge zu leisten. Sie wendete daher die, des Staubes wegen auf der verkehrten Seite umgebundene Schürze um, brachte die Mütze und das Busentuch in Ordnung, und sagte dann:
– »So führe mich mit Gott, ich bin bereit, Dir zu folgen!«
Das Männchen that darob sehr froh, ergriff die Hornlaterne und schritt die Treppe hinunter, aus dem Hause hinaus, bis zum unfernen Meeresstrande hin, wo sich ein mäßiger Hügel erhob; hier angelangt, blieb es stehen und sah sich nach der Urgroßmutter um, ob sie ihm auch wirklich gefolgt sei; sie stand dicht hinter ihm.
Jetzt blies er das Licht in der Laterne aus, ging drei Mal rund um den Hügel und sagte einen Zauberspruch her, den leider die Urgroßmutter nicht behalten hat, weil er in einer ihr fremden Sprache gesprochen wurde, worauf sich alsobald der Hügel auseinander spaltete, und man bequem in die Tiefe hinabblicken konnte, in der es von vielen kleinen Männlein, die ganz so beschaffen waren, wie der Führer der Urgroßmutter,[163] »krimmelte und wimmelte.« Auf einem Bette von gediegenem Golde lag aber eine schöne kleine Frau, mit bleichem, leidenden Antlitze, die eine goldene, mit Diamanten und andern Edelsteinen besetzte Krone auf dem Haupte hatte. O wie herrlich war der Blick da hinab in die Tiefe, und wie blitzte und flimmerte es von allen Seiten von Edelsteinen und Gold und Silber; die Urgroßmutter war einen Augenblick wie verblendet davon!
– »Jetzt faß mein Gewand an,« sagte das Männlein, ihr bisheriger Führer, »und fürchte Dich nicht, wenn es auch etwas jäh hinabgeht; Du sollst ohne Schaden da unten anlangen; ist mir Dein Leben doch eben so wichtig, als es Dir ist!«
In dem Augenblick erhoben sich Tausende von pipsenden und wispernden Stimmen da unten, die riefen:
– »Der Pfeifer kommt! Der Pfeifer kommt! Jetzt wird unsere Königin glücklich eines Kindleins genesen!« und damit warfen sie sich, wie rasend vor Freude, vor einem häßlichen Götzenbilde nieder, das einen menschlichen Körper, aber ein thierisches Antlitz hatte, und dankten ihm für das nahende Glück.[164] – »Nun, wirst Du anfassen, gute Frau?« fragte ihr Führer, indem er ihr den Zipfel seines grauen Mantels darbot.
– »Halt, guter Freund, noch nicht!« versetzte die Urgroßmutter, die jetzt ihre volle Besonnenheit wieder erhalten hatte. »Erst sag' mir, ist die häßliche Fratze da unten, vor der Deine Brüder niederknien, die Gottheit, die Ihr anbetet, und wißt Ihr nichts von dem einigen wahren Gott und seinem Sohn, Jesus Christus?«
– »Wir haben unsern Gott für uns allein, und der ist es, den Du da unten siehst,« versetzte das Männlein etwas verdrießlich über die Zögerung der guten Frau. »Unser Gott,« fuhr er fort, »ist wohl so gut wie der Deine, und wir beten ihn und noch eine Menge anderer Götter, denen wir goldene Throne und Altäre errichtet haben, eben so feurig an, wie Du Deinen Gott anbetest.«
– »So seid ihr ja Heiden, und ich mag um alle die Schätze, die ich da unten sehe, nichts mit Euch gemein haben,« versetzte die fromme Frau, und trat entschlossen von der Oeffnung zurück.
Vergebens bat und beschwor sie das Männchen, doch mit ihm zu kommen, um der kreisenden[165] Königin beizustehen; vergebens bot er ihr so viel Gold und Edelsteine, als sie nur begehren würde, und endlich gar alles Glück und Gedeihen der Welt an, sie blieb unerbittlich.
– »Nun denn,« rief das Männchen im höchsten Zorne, »so sollst weder Du noch sollen die Deinen, bis auf die letzten Geschlechter, je Reichthümer besitzen, noch ein zufälliges Glück haben, sondern Alles, was Ihr je habt, das sollt Ihr im Schweiße Eures Angesichts erwerben; dies sei die Strafe Deines Eigensinnes!«
– »Dem sei so in Gottes Namen!« versetzte die fromme Frau, schlug ein Kreuz und floh von dannen. Sie kehrte wieder an ihre Arbeit auf den Boden zurück, fand aber kein Gold mehr dort, sondern nur Staub und Unrath.
Der Fluch des kleinen Erdmännchens, wenn es üb rigens einer war, hat sich an Clementinens Vorfahren und an ihr selbst bis auf diesen Tag bewährt: Glücksgüter sind ihnen nie zugefallen, wohl aber haben sie Segen von ihrem Fleiße und ihren Anstrengungen gesehen.
Dieses Mährchen, das die alte Katharina so gern und so oft dem ihr sorgsam zuhörenden Kinde erzählte, und dessen Inhalt dasselbe, so[166] jung es auch noch war, vollkommen begriff, hat vielleicht den ersten Grund zu der ungewöhnlichen Thätigkeit Clementinens gelegt, die eine Person geworden ist, die sich immer beschäftigen muß, sei es, auf die eine oder auf die andere Art.
So schön, so anregend, so heilsam für Geist und Körper zugleich, so die jugendliche Phantasie befruchtend, flossen Clementinens erste Lebenstage dahin. Es konnte wohl kaum ein glücklicheres Kind geben, und gewiß nie ein geliebteres, als sie war. Auf alle Weise durfte sie sich regen und bewegen, und wie es ihr vergönnt war, ohne Furcht wegen eines zerrissenen oder beschmuzten Kleides die kleinen Glieder im Springen und Klettern zu üben, so durfte sie auch frei die geistigen Fühlhörner ausstrecken und jede Frage wurde ihr mit Liebe von dem herrlichen Vater beantwortet, immer war dieser bemüht, sie zu belehren, zu erfreuen.
Auch war ihr leibliches, wie ihr geistiges Gedeihen außerordentlich; alle ihre Kräfte wurden gleichmäßig geübt; sie durfte auf den Baum so hoch hinaufklettern, als sie es vermochte; sie übte, unter der Aufsicht des Vaters sich im Schwimmen im Meere; sie machte an seiner[167] Hand weite Wege, ohne müde zu werden; sie konnte den stärksten Frost vertragen und die brennendste Sonnenhitze; sie war nie krank, nie verstimmt: sie war ein glückliches Kind!
Mit dem dritten Jahre konnte sie lesen, und überraschte den Vater damit, der, als ein zu verständiger Mann, es vermieden hatte, sie zu früh zu einer so angestrengten geistigen Thätigkeit anzuhalten. Sie sah die alte, von ihr sehr geliebte Katharina oft im Gesangbuche oder der Bibel lesen und verlangte daher von ihr, daß sie es ihr lehren solle. Die gute Alte zeigte ihr die Buchstaben in dem etwas groß gedruckten Gesangbuche; sie begriff sie schnell, lernte dann einzelne Sylben und endlich ganze Wörter lesen, ohne Fibel, ohne förmlichen Lehrapparat.
Sie bat nun den Vater um ein Buch – er hatte deren viele –.
– »Was willst Du mit einem Buche? Du kannst ja nicht lesen, Clementine,« antwortete er ihr lächelnd.
– »O, doch! ich kann wohl lesen!«
Er gab ihr ungläubig ein Buch hin, und sie las.
Auf eben die Weise lernte sie, noch vor dem sechsten Jahre, auch das Schreiben. Erst malte[168] sie die Buchstaben im Sande nach, die der Vater auf ihren häufigen Spaziergängen mit seinem Spazierstöckchen darin geschrieben; dann eignete sie sich ein Stück von einer Schiefer-Tafel an und schrieb darauf; endlich erhielt sie Papier und Federn, was sie sehr glücklich machte. Auch mit dem Zeichnen machte sie aus eigenem Antriebe den Anfang und zeigte die glücklichsten Anlagen, die in der Folge sorgfältig ausgebildet wurden, so daß sie etwas darin leistete. Nur Eins konnte sie, trotz des besten Willens und des glücklichsten Gedächtnisses, nie begreifen: das Rechnen, und dies ist für die ganze Folgezeit ihres Lebens so geblieben. Die Zahlen waren ihr verhaßt, sie starrten sie gleichsam mit geisterhaften Augen an, wenn sie so in Reihe und Glied aufgestellt wurden, und unmöglich war es ihr, ihre Aufmerksamkeit darauf zu richten; sie mußte immer an etwas Anderes denken, wenn sie Zahlen vor sich hatte und hat es, obgleich sie späterhin viel, wenigstens für eine Frau, und mit Lust lernte, doch nie dahin bringen können, nur die vier Species gehörig zu erlernen. Dagegen war sie, seltsam genug, eine fertige Kopfrechnerin; ich glaube aber, daß sie ganz anders rechnete, als alle andern Menschen; wenigstens vermochte sie nie Rechenschaft[169] darüber zu geben, auf welche Art und Weise sie diese oder jene schwere Aufgabe in ihrem Kopfe gelöset habe; Methode war also nicht drin.
Das glückselige Leben auf ihrer Geburts-Insel sollte nur zu bald unterbrochen werden. Der Vater, ein Arzt von großem Rufe, wurde nach einer andern Stelle auf dem Festlande versetzt, und reiste zuerst dahin allein ab, um sich einzurichten; die Familie sollte dann späterhin ihm nachfolgen und blieb so lange im großelterlichen Hause.
Clementine war fast außer sich vor Schmerz über diese Trennung, und da es der erste war, den sie im Leben hatte, wirkte er um so heftiger auf sie.
Seit der Vater fern war, schränkte man sie auch mehr ein; die Mutter war nicht ganz so nachsichtig, wie der Vater es gewesen war, und ein Fleck oder ein Loch im Kleide zog ihr Vorwürfe und Verweise zu; sie durfte nicht mehr allein am Meeresstrande wandeln und sich die kleine Schürze voll Muscheln und bunter Steine suchen; man setzte ihr einen Hut auf, damit die Sonne sie nicht gar zu braun brenne; man schalt sie, wenn sie mit bloßen Füßen auf den Kieseln des kleinen, hinter dem großelterlichen Hause sich befindenden Bachs umherlief; man zog ihr feinere Strümpfe[170] und enge Schuhe an, und sagte ihr, daß es sich für ein Mädchen nicht schicke, auf die Bäume zu klettern oder wohl gar einen Ritt zu Pferde zu machen, indem sie vor einem ihrer Onkel aufsaß; kurz, sie sollte ein gesittetes Mädchen werden, und das gefiel ihr durchaus nicht.
Endlich schlug die von Clementinen so heiß ersehnte Stunde der Wiedervereinigung mit dem geliebten Vater; aber ach! wie sollte diese getrübt werden! Der Vater hatte bei einer Schlittschuh-Partie auf dem Eise einen unglücklichen Fall gethan und konnte sich von demselben nicht wieder erholen. Der einst so kräftige und schöne Mann mußte sich jetzt zum Gehen eines starken Stocks bedienen, und war überhaupt so verändert in seiner äußern Erscheinung, daß es selbst Clementinen, trotz ihrer großen Jugend, schmerzlich auffiel. Das Wiedersehen Beider war unendlich rührend und der Vater vergoß viele Thränen dabei. Vielleicht mochte ihm damals schon ahnen, daß eine noch weit schmerzlichere Trennung, als die eben bestandene, von seinem Lieblinge ihm bevorstehe, und er deshalb so gerührt, so tief ergriffen sein.
Auch sein Gemüth hatte sich, wahrscheinlich in Folge der körperlichen Leiden, denen er erlag, gänzlich umgewandelt; er war jetzt weder mürrisch[171] noch verstimmt; allein er war im höchsten Grade melancholisch, und wenn noch einmal ein Lächeln seinen schön geformten Mund umspielte, so war es nur ein schmerzliches.
In dieser Stimmung konnte er Clementinens weniger denn je entbehren, und so mußte diese Tag und Nacht um ihn sein, ja ihn sogar auf seinen Fahrten auf's Land begleiten; er schien sie, die er nicht lange mehr lieben sollte, jetzt doppelt lieben zu wollen.
So oft es ihm nur seine Zeit und seine Gesundheit erlaubten, ging er mit ihr in's Freie hinaus, wo es Beiden, als innig mit der Natur verbundenen Wesen, am wohlsten war. Hier machte er Clementine auf Blumen und Kräuter aufmerksam und nannte ihr ihren Namen, die sie in dem glücklichsten aller Gedächtnisse treu behielt; hier belauschte er mit ihr in tiefer Waldes-Einsamkeit die jungen Vögel im Neste, was ihre junge Seele allemal mit Entzücken erfüllte; hier ruhte er mit ihr am Stamme tausendjähriger Eichen und machte sie auf die kleine Welt der Moose aufmerksam, auf die wunderbare Form der Blüthen und Saamen dieser Kryptogamen; hier horchte er mit ihr entzückt auf den Gesang der Vögel, auf das Jubeln der von den Saatfeldern empor[172] wirbelnden Lerchen; hier betrachtete er mit ihr den mit Goldstaub bedeckten Käfer oder das Würmchen, das zwischen den Halmen der Gräser dahinkroch; hier entzückte das Rauschen und Murmeln der Bäche Beider Ohr; hier endlich war es, wo die ganze Poesie seiner Seele in die seines Kindes überfloß!
Dieses Leben in Flur und Wald verband sie auf's Engste und für die ganze Folgezeit, sowohl mit der Natur, als mit der Poesie. Früh lernte sie die Dinge aus einem andern, denn aus einem gewöhnlichen Gesichtspunkte ansehen; früh ging ihrem Herzen jene Morgenröthe poetischer Gefühle und Ansichten auf, die ihr ganzes Leben erhellen, es zu einem erhöhteren Dasein machen sollte. Nie hat sie in der Folge die Natur mit gleichgültigen Blicken betrachten können, und für ihre Seele, wie für jene, war der Frühling allemal ein Auferstehungs-Fest, und jedem weihete ihr Herz eine Hymne.
Solche Eindrücke der frühesten Jugend sind unauslöschlich, und die Richtung, welche Seele und Gemüth auf solche Weise in den ersten Tagen des geistigen Erwachens empfangen haben, kann in der Folge nicht mehr verändert werden, mögen Schicksale und Verhältnisse sich auch noch[173] so sehr verändern. Clementine erfuhr dies an sich selbst; sie bewahrte in den seltsamsten und schwierigsten, ja, in den allerprosaischesten Verhältnissen des Lebens die Poesie des Gemüths, die theils ein Erbtheil von ihrem Vater, theils durch den steten Verkehr mit ihm auf sie übergegangen war, und wenn sie gleich als Dichterin nicht Bedeutendes producirt hat; so hat sie doch unter allen Umständen stets poetisch gefühlt, oft gar, zu ihrem großen äußern Nachtheile, so gehandelt.
Der Tod dieses besten und begabtesten der Väter, der im neun und zwanzigsten Jahre seines Alters an den Folgen jenes unglückseligen Falles auf dem Eise starb, war für Clementinens zart besaitete Seele ein wahrhaft furchtbares Ereigniß, und nichts vermochte sie über diesen Verlust zu trösten. Ich begreife noch nicht, daß es ihr nicht eben so erging, wie einem andern Kinde aus ihrer Verwandtschaft, einem lieblichen Knaben von sechs Jahren, der aus Gram über den Tod eines eben so geliebten Vaters starb, so daß man ihn, der bis dahin eben so schön, als kräftig und gesund gewesen war, vierzehn Tage später auch begraben mußte. Die Aerzte wußten der Krankheit, die ihn dahin gerafft hatte, keinen andern Namen als den des Grames zu geben.[174]
Clementinens Natur mußte stärker sein: sie überlebte diesen Verlust, aber ohne ihn je vergessen zu können.
Mit ihm änderte sich auch Alles für sie: die Schmerzen, Plagen und Beschwerden des Lebens, die der Vater ihr bis dahin fern zu halten gewußt hatte, kamen von nun an über sie. Sie sollte genau so sein, wie andere Kinder sind, die man gewöhnlich gesittete nennt, und doch war Alles anders an ihr und in ihr, als an diesen. Sie sollte anhaltend fleißig werden, und wäre es gern gewesen, aber auf ihre Weise; sie wurde in eine Schule geschickt und sollte hier zwischen andern Kindern in der dumpfen, übelriechenden Schul-Stube etwas lernen. Das konnte sie nicht, die gewohnt war, in der freien Natur unter Blumen-Duft und Vögel-Gesang zu lernen; so lernte sie zurück; so klagten die Lehrer, zum Erstaunen der Mutter, über sie, und es wurde erst besser, als man ihr auf ihre Bitten gestattete, in der kleinen Laube des Schul-Gartens lernen und sich üben zu dürfen.
Endlich raubte man ihr auch noch das Letzte: das Grab des Vaters, indem man den bisherigen Wohnort, der überaus reizend und malerisch belegen war, gegen einen andern vertauschte, dessen[175] krumme, enge Gäßchen und reizlosen Umgebungen dem Kinde äußerst mißfielen.
Umstände, die nicht zu beseitigen waren, forderten indeß dringend dieses Opfer. Die Mutter mußte seit dem Tode ihres Gatten, der ihr drei Kinder im zartesten Alter und kein Vermögen hinterlassen hatte, für den Unterhalt der Familie durch ihren Fleiß sorgen, und konnte das besser in dem zweiten Städtchen thun, wo mehr Wohlhabenheit herrschte und sie ihre Fähigkeiten also besser geltend machen konnte.
Uebrigens blieb Clementine jetzt nicht lange mehr bei der Mutter. Ein sehr reiches und vornehmes Ehepaar, das keine Kinder hatte, gewann das Kind bald so lieb, daß man es erst täglich zur Aufheiterung der Dame herüberholte und sich endlich ganz von der Mutter erbat.
In diesem Hause, in dem Alles auf dem großen Fuße war, gefiel Clementine sich bald sehr, und um so mehr, da sie gewohnt war, Liebe mit Liebe zu vergelten. Wie es oft bei kinderlosen Eheleuten ergeht, so attachirte man sich bald so sehr an Clementine, daß sie gleichsam die wichtigste Rolle im Hause spielte, und man alle ihre Wünsche fast blindlings erfüllte. Herr von St. – so hieß der Herr des Hauses – brachte von seinen[176] Reisen das kostbarste Spielzeug für seinen Liebling mit; die zahlreiche Dienerschaft beeiferte sich um die Wette, Clementinen zu gefallen und Frau von St. war verstimmt, wenn diese nur die Stirn runzelte.
An eine Erziehung war unter solchen Umständen und bei der Schwäche, die Clementinens Pflegeeltern für ihr Adoptivkind hatten, nicht zu denken; allein Liebe verzieht wohl, aber verdirbt nicht, und so blieb auch dieses Kind, obschon es äußerlich verwilderte, unverdorben. Es lernte die häßliche Lüge nicht kennen, weil es für kleine Vergehungen nicht gestraft wurde; es lernte die Falschheit nicht kennen, weil Alles um ihr her aufrichtig war, und es liebte mit der ganzen Kraft seiner Seele, weil es eben so geliebt wurde.
Indeß wurde Clementine doch unter diesen Verhältnissen ein sehr ausgelassenes Kind, das that, was es wollte. So malte sie einst eine schöne Landschaft in Wasserfarben, die ihr Pflegevater, der überaus geschickt im Malen war, angefangen und fast vollendet hatte, heimlich fertig, und verdarb sie und überraschte nicht wenig durch ihre schöne Arbeit; so pflanzte sie an einem Morgen mit der größten Geschäftigkeit seine kostbare Aurikel-Flur, die viel Geld gekostet hatte, aus[177] den Töpfen in ihren eigenen kleinen Garten und holte dann den Herrn von St. im Triumphe herbei, damit er sehe, wie schön sich das mache; so lud sie einmal nicht nur eine Menge Kinder von der Nachbarschaft, sondern auch alle Bettelkinder, deren sie nur habhaft werden konnte, zu sich ein, um ihnen einmal einen so guten Tag zu machen, wie sie ihn immer hatte, und ihre Tante – so mußte sie Frau von St. nennen – mußte dieser noblen Gesellschaft, wohl oder übel, ein Festin geben; so fiel sie mehre Male in den hinter dem Garten vorbeifließenden Fluß; so kroch sie, wenn es ihr allein in ihrem Bettchen nicht gefiel, ohne anzufragen, in das der Frau von St., und war nicht wieder daraus zu vertreiben; allein ihr Herz blieb bei allem diesen gut und völlig unverdorben, und um keinen Preis hätte sie irgend Jemanden betrüben mögen.
Als eine Eigenthümlichkeit Clementinens muß noch angeführt werden, daß diese weder je mit gekauftem Spielzeug, noch mit Puppen, wie andere Kinder, spielte, sondern sich stets auf irgend eine Art beschäftigte, selbst in ihren Spielen. Sie säete, pflanzte und begoß; sie machte Schlingen, um Vögel darin zu fangen; sie fischte mit einer krummgebogenen Nadel, die sie auf diese Weise[178] vermittelst eines Zwirnfadens zur Angel gemacht hatte, in dem Flusse hinter dem Garten; sie konnte Stunden lang im Grase liegen und ein Würmchen, einen kleinen Käfer, eine Schnecke in allen ihren Bewegungen betrachten, oder sie sah den Wolken nach und baute sich aus ihren oft seltsamen Formen Paläste für die Feen und Zauberer auf, womit ihre lebhafte, stets rege Phantasie die Lüft bevölkerte. Dann sah sie wieder lange in den Kelch einer Blume hinab, und zerlegte diese endlich, um den innern Bau derselben, die Ineinanderfügung der Blätter, die Menge der Staubfäden u.s.w. zu erforschen. Oft versuchte sie Körbe von Binsen oder schlanken Weiden-Zweigen zu flechten oder von dünnen Stäben Käfige für Vögel zu machen, oder sie flocht artige Kränze, band sehr hübsche Blumen-Sträuße, womit sie Die beschenkte, welche sie lieb hatte. Im Winter schrieb, zeichnete, las und schnitzte sie, sowohl aus Holz, als aus Papier und wußte manche artige Dinge herzustellen. Alle diese Uebungen hatte sie früher mit dem Vater getrieben, der ihr nie ordentliches Spielzeug gab, sondern sie immer zu beschäftigen wußte, selbst wenn sie spielte. Dagegen liebte sie körperliche Uebungen sehr, und war in allen den Spielen, die Gewandtheit und Geschicklichkeit[179] erfordern, als im Laufen, Springen, Klettern, im Haschen des Balls, im Federball-Spiel weit vor allen andern Kindern ihres Alters voraus; ja, sie verschmähte es sogar nicht, im Ringen ihre Kraft und Geschicklichkeit zu zeigen und hätte es für schimpflich gehalten, über eine bei solchen Uebungen empfangene Verletzung, die freilich nicht immer ausbleiben konnte, zu weinen oder sich nur zu beklagen.
Da Herr von St. Militair war und eine schöne Waffen-Sammlung besaß, griff sie bald, aber freilich unter seiner Aufsicht, zu gefährlicheren Spielen: sie verlangte, wie ihr Pflegevater, zu schießen, und da man ihr nichts abschlagen konnte, wurde ihr ein Pistole geladen und in die Hand gegeben. Als sie einst damit schoß, wurde von dem Diener des Herrn von St. entweder die Pistole mit einer andern, schon geladenen verwechselt, oder bei der Ladung der ihrigen irgend ein Fehler begangen, kurz, sie zersprang ihr in der Hand und verletzte ihr mehre Finger so gefährlich, daß man fürchtete, sie abnehmen zu müssen, was aber glücklicherweise nicht zu geschehen brauchte.
Dieser Unfall, der der Mutter Clementinens nicht verborgen bleiben konnte, so wie einige andere, die durch die Ungebundenheit derselben herbeigeführt[180] worden waren, machten jene für das Leben ihres Kindes besorgt. Für die Erziehung Clementinens war sie es schon längst gewesen und mit dem Unterricht, den diese empfing, noch weit mehr, weil er sich fast auf Null reducirte, indem »das Kind« – so bezeichnete man Clementine im Hause – zur Schule ging, wenn es eben wollte und aus derselben wegblieb, wenn es keine Lust hatte, hinzugehen.
Auf ihre Vorstellungen deshalb waren immer die schönsten Versprechungen erfolgt, aber es blieb trotz dem beim Alten, und so sah die Mutter sich endlich genöthigt, eine durchgreifende Maßregel anzuwenden, wozu sich ihr gerade in diesem Augenblick die beste Gelegenheit darbot. Sie kündete daher den bisherigen Pflegeeltern Clementinens an, daß sie entschlossen sei, diese ihnen wegzunehmen und sie nach Hamburg zu schicken, wo ein entfernter Verwandter, ein Franzose von Geburt, sich des Kindes anzunehmen und für seinen Unterricht und seine Erziehung zu sorgen erboten hatte. Zwar war dieser Mann, L. mit Namen, unverheirathet, allein er war bereits alt und die einzige Schwester der Mutter, Minette, stand seinem Hauswesen vor, so daß man nicht fürchten[181] durfte, es werde Clementinen an gehöriger Pflege und Aufsicht fehlen.
Groß war der Schrecken, den dieser ganz unerwartet ausgesprochene Beschluß bei Clementinens Pflegeeltern erregte, und man bot Alles auf: Bitten und erneuerte Versprechungen, die Mutter zu einem andern zu bewegen; allein diese glaubte es nicht verantworten zu können, solcher Bitte nachzugeben, und so wurde Clementine zur Abreise nach Hamburg ausgerüstet. Da dieser Entschluß unabänderlich gefaßt war, ließ Herr von St. es sich nicht nehmen, seinen Liebling selbst nach Hamburg hinzubringen: war dies doch der letzte Liebesdienst, den er seiner Clementine leisten konnte!
Es war in den traurigen November-Tagen, wo der Schmerz dieser Trennung über das Kind kam, das so erschrocken, so gebeugt, ja so zerschmettert von dem von ihm ungeahnet herbeigeeilten Unheil war, daß es sich wie ein willenloses Schlachtopfer hinführen ließ, wohin man wollte, und erst aus seiner Betäubung erwachte, als es den ungemessenen Schmerz seiner geliebten Pflegemutter über die bevorstehende Trennung sah.
Der Wagen, welcher Clementinen dem Glück und den frohen Tagen ihrer Kindheit entführen und sie namenlosem Elende zuführen sollte, rollte[182] indeß unaufhaltsam dahin. Schon am folgenden Tage langte man in der großen Weltstadt an, und das arme Schlachtopfer wurde seinen Peinigern überliefert.
In dem Augenblick, wo das geschah, erwachte Clementinens Energie wieder, und sie sah sich nach Rettung um; sie glaubte diese gefunden zu haben, indem sie sich heimlich aus dem Hause ihrer Verwandten fortschlich, in den unfern desselben haltenden Wagen ihres Pflegevaters kroch und sich unter den großen Mänteln verbarg, die zum Schutze gegen die rauhe Jahreszeit mitgenommen worden waren. In ihrer kindischen Unbedachtsamkeit und Unüberlegtheit wähnte sie, man werde sie im Hause des Onkels nicht vermissen, Herr von St. werde in den Wagen steigen, der Kutscher Johann den Pferden die Peitsche geben, und fort werde es gehen, zurück zu dem Orte, wo sie so glücklich gewesen war.
Allein es kam natürlich anders: man vermißte sie bald, suchte sie erst im Garten, nachdem man sie im Hause vergeblich gesucht hatte, und endlich, wahrscheinlich auf einen Wink des Kutschers, der seinen Gebieter in der lebhaftesten Unruhe wegen des Verschwindens des Kindes sah, im Wagen, wo man sie mit Angstschweiß bedeckt unter[183] den Mänteln fand. Herr von St., obschon ein sehr kräftiger Mann, war von diesem Auftritte so ergriffen, daß er schweigend das geliebte Kind an sein Herz preßte und augenblicklich davon fuhr, nachdem er der Tante und dem Onkel desselben zugerufen hatte:
– »Gehen Sie gut mit ihr um!«
Clementine blieb in einem Zustande zurück, der keine Beschreibung zuläßt. Alles war ihr in ihrem neuen Aufenthalte gleich auf den ersten Blick verhaßt geworden: die Menschen, denen sie jetzt anheim gegeben war, und das dunkle, enge Haus, mit den schlecht möblirten dumpfen Zimmern. Die Wohnung ihrer Pflegeeltern war nicht nur sehr hübsch und geräumig, sondern auch prachtvoll möblirt und sonnenhell; im Winter wurden mehre große, durch einander gehende Zimmer geheizt und so fehlte es Clementinen nie an Raum zu ihren Spielen, nie an Wärme und Licht, und o, welche liebe, freundliche Gesichter lächelten ihr in diesen schönen, reich geschmückten Räumen nicht stets entgegen!
Hier war Alles anders: Armuth und Unordnung sahen aus allen Winkeln hervor, und obgleich die Tante noch immer schön, wiewohl nicht mehr ganz jung war, so gefiel Clementinen[184] doch weder ihr Gesicht, noch ihr Wesen; es lag etwas Lauerndes in dem Blick dieser blauen Augen Minettens, und das flößte Clementinen einen Widerwillen gegen dieselbe ein, über den sie sich zwar noch keine Rechenschaft abzulegen vermochte, der aber unüberwindlich für sie war, und in der Folge gerechtfertigt wurde.
Fast noch widerwärtiger und abschreckender war der Onkel L. für sie, mit seiner Physiognomie Ludwigs des Elften von Frankreich, dem er frappant ähnlich sah; mit seinem aufgedunsenen Branntweins-Gesicht, seinen aus dem Kopfe hervorstehenden großen, schwarzen Augen, deren Blick etwas Ungewisses, Unstätes hatte; seinen dicken, genußsüchtigen Lippen und seiner schlechten, gebeugten Haltung, die ihr um so mehr auffiel, da sowohl ihr Vater ein großer, schöner Mann von der edelsten und imposantesten Haltung, als auch Herr von St. dies gewesen war, welcher letztere, ein Norweger von Geburt, einer der schönsten Männer war, die sie je erblickte; letzterer war, wie schon angedeutet worden, Militair und hatte als solcher den edelsten Anstand.
– »Eh bien, mein Kind,« redete sie der neue Onkel mit einer widerlich schnarrenden Stimme an, als sie traurig und verlassen am[185] Fenster stand und unter heißen Thränen dem dahinrollenden Wagen nachsah; »eh bien, wir sind traurig, daß wir nicht wieder mit zurück können? Fi donc, wer wollte sich wohl so anstellen und gleich eine schlechte Meinung von sich beibringen? Du sollst es hier auch schon gut haben, wenn Du hübsch artig bist, und thust, was ich haben will; allein gehorsam mußt Du sein, wenn wir Freunde bleiben wollen! Und wie steht es um den Unterricht? Wir werden wohl noch ein kleines unwissendes Thier sein? Wir kommen aus einer kleinen Stadt, wo selbst die Erwachsenen nicht eben viel zu wissen pflegen. Kannst Du schon einige französische Vocabeln hersagen?«
– »Nein!« antwortete Clementine kurz und wandte sich ab, um ihre Thränen vor dem ihr verhaßten Manne zu verbergen.
– »Ich glaube, daß wir da einen kleinen Abgrund von Unwissenheit erhalten haben,« wandte sich L. an Minette, die, mit einer Handarbeit beschäftigt, sich noch gar nicht um ihre kleine Nichte bekümmert hatte. »Ma foi!« fuhr er fort, als ihm diese nicht antwortete, »ich weiß nicht, was die Mutter gedacht hat, als sie uns schrieb, die Kleine wisse für ihr Alter viel und habe gute Anlagen. Noch gar keinen Anfang mit dem[186] Französischen gemacht, und wir sind fast acht Jahre alt?! Nicht wahr, so alt sind wir schon?« wandte er sich an Clementine, die, in ihrem Schmerz versunken, kaum auf seine abgeschmackten Reden hörte. »Nun, wir werden schon morgen den Anfang mit dem Französischen machen, und bevor noch ein Vierteljahr vergangen sein wird, werden wir es verstehen und in einem halben Jahre sprechen, denn ich capricire mich, daß wir es bald lernen sollen, und wenn wir auch noch so bornirt wären. Was können wir denn sonst?«
– »Nichts!« sagte Clementine, die in der That nicht wußte, daß sie schon Mancherlei verstände.
– »Le voilà! Siehst Du, Minette, daß ich Recht hatte? Das ist wie das liebe Vieh aufgewachsen; Das hat gar keine Erziehung gehabt; ma foi, es ist eine Schande!«
Es zeigte sich indeß bald, daß Clementine, trotz ihrer acht Jahre, schon mehr konnte und verstand, als die dreißigjährige Tante, die wirklich ein wahrer Abgrund von Unwissenheit war, und nicht einmal gehörig lesen, viel weniger aber noch schreiben konnte, was sie unaufhörlich von dem boshaften L. sich vorwerfen lassen mußte.
Ueberhaupt lebten diese beiden Menschen in[187] einer beständigen Fehde mit einander und verbitterten sich das Leben auf alle nur erdenkliche Weise. Minette warf L. seine Laster vor, unter denen das des Trunkes oben an stand, und er verfolgte sie mit dem bittersten Spotte über ihre Unwissenheit, um sich dafür zu rächen. Zwischen diesen Beiden, in denen nicht ein Funke von Herzensgüte und Gemüth war, stand nun das arme Kind, verlassen, allein, von Allem abgetrennt, was es geliebt und verehrt hatte, da.
Bald war Clementine, das sonst so heitre, bewegte Kind, sehr still und ganz in sich abgeschlossen geworden, denn mit ihrer Umgebung konnte sie nichts zu thun haben, zwischen dieser und ihr konnte sich kein Band, welcher Art es auch sein mochte, knüpfen, und so sah sie sich gänzlich nur auf sich selbst und auf die Erinnerung an frühere, schönere Tage angewiesen.
Ja, ihr war von allen Freuden, die ihre schöne, glückselige Jugend umringt hatten, nur noch die Erinnerung geblieben, und in ihr schwelgte sie, so oft sie konnte. Der Anzug, in dem sie von ihrem Pflegevater nach Hamburg gebracht wurde, war, als unmodisch und kleinstädtisch, von der putz- und modesüchtigen Tante in einen Winkel geworfen worden; Clementine aber zog ihn heimlich[188] von Zeit zu Zeit an und setzte sich damit in einen Alcoven eines obern, unbewohnten Zimmers, wo sie sicher sein konnte, daß man sie nicht suchen würde. Die Thüren dieses Alcovens fest hinter sich zuziehend, den mit einem rothen Bande geschmückten Hut von schwarzem Castor auf dem Kopfe und in dem Oberrock von dunkelbraunem Kalmück, konnte sie stundenlang sitzen und in der Erinnerung an eine glückliche Vergangenheit schwelgen, bis man ihr, freilich ohne Vorsatz, auch diese letzte Freude raubte, indem man diesen Anzug wegschenkte.
Immer bedrängter, immer schwieriger wurde indeß ihre äußere Lage, denn nicht nur brachte das Laster, dem der Oheim ergeben war, diesen dahin, sich brutal gegen das arme Kind zu betragen und es, oft ohne die geringste Veranlassung zu züchtigen, Clementine zu schlagen, die nie geschlagen, ja, kaum unfreundlich bis dahin angesehen worden war, sondern ihr Unglück hatte es auch gewollt, daß ihrem Peiniger der »Emil« von Rousseau in die Hände fiel und dieser ihm dermaßen zusagte, daß er seinen Pflegling nach den in diesem Buche aufgestellten Grundsätzen zu erziehen beschloß, und dieser alberne Plan wurde, mit einigen, für Clementine höchst schmerzlichen Modificationen, in Ausführung gebracht, obgleich[189] ihr Geschlecht von dem des Rousseauschen Zöglings verschieden war.
Der Anfang wurde mit allen Arten von Abhärtungen und Entbehrungen gemacht; sie wurde in strengen Winter-Tagen mit bloßen Füßen in den Schnee hinausgeschickt und mußte stundenlang im Hofe verweilen; Hut, Handschuhe und warme Bekleidung wurden als Luxus verbannt; eine Pferdedecke, die auf der Erde ausgebreitet war, diente ihr zum Lager und eine zweite bedeckte sie, ohne ihr im Winter gehörigen Schutz gegen die Kälte zu gewähren; statt des erwarteten Mittagsmahls wurde ihr oft ein Fasten verordnet und Abends und Morgens ihr überdies die Nahrung so karg zugemessen, daß sie oft den grimmigsten Hunger fühlte. Doch nicht nur ihr Körper sollte abgehärtet, sondern auch ihr Geist sollte es werden. So sperrte ihr Peiniger sie oft bei einem heftigen Gewitter in einem am Ende des großen Gartens belegenen Lusthause – man wohnte in einer der Vorstädte Hamburgs – ein, weil sie sich einmal bei einem überaus heftigen Donnerschlag erschrocken gezeigt hatte. Ein ander Mal mußte sie jeden Abend spät und nachdem es völlig dunkel geworden war, durch den Garten und das am Ende desselben befindliche kleine Gehölz gehen, um eine mit Fleiß von dem Onkel im Lusthause gelassene Sache zu[190] holen, und dies geschah, weil sie an einem Abende ein Geschrei erhoben hatte, indem sie einen Kerl, wahrscheinlich den Liebhaber der Dienstmagd, über die Planke steigen sah. Dies wurde ihr als Furcht ausgelegt, und Furcht durfte Emil II., obschon nur ein schwaches Mädchen, nicht zeigen.
Wieder zu andern Zeiten wurde sie, mit der großen silbernen Uhr des Onkels in der Tasche, allein zur Stadt, in diese große, volkbelebte, ihr völlig unbekannte Stadt, geschickt, um irgend eine Bestellung zu machen, und wehe ihr, wenn sie sich, aus Unkenntniß des Weges verirrt hatte und eine Minute nur später ausblieb, als ihr Peiniger hatte haben wollen! In diesem Falle blieb die Züchtigung nie aus, die, um das Uebermaß ihrer Leiden zu vermehren, auf eine wahrhaft teuflische und alles Gefühl ertödten müssende Weise an ihr vollzogen wurde. Der Onkel sah dann auf die ihm wieder zugestellte Uhr, deutete mit dem Finger auf die ihr zur Rückkehr bestimmte Zeit, nahm den starken Haselstock, den besten Gehülfen seiner Erziehungs-Methode, aus dem Winkel, bot Clementinen mit französischer Höflichkeit den Arm und führte sie in das Gehölz hinab, wo er sie so lange schlug, bis sie – nicht mehr schrie und weinte. Sie gelangte endlich wirklich dahin, diese[191] unmenschliche Behandlung zu ertragen, ohne einen Laut von sich zu geben, noch eine Thräne zu vergießen.
Was den ihr ertheilten Unterricht anbetraf, so beschränkte er sich allein auf das Französische, das sie freilich bald genug, unterstützt von einem wirklich außerordentlichen Gedächtnisse, verstehen und sprechen lernte; daß sie diese Sprache ganz so gut wie ihre Muttersprache inne hatte, war die einzige Frucht dieser vier Marter-Jahre, denn so lange mußte das arme Kind in diesen wahrhaft entsetzlichen Verhältnissen ausharren.
Indeß war das Maß ihrer Leiden noch nicht voll. Das Verhältniß zwischen der Tante Minette und dem Onkel L. war endlich so übel geworden, daß die erstere ihm ihren Entschluß ankündigte, ihn verlassen und sich eine andere Zufluchtsstätte suchen zu wollen, und diesen führte sie, nachdem Clementine etwa anderthalb Jahre da gewesen war, aus, ohne die Barmherzigkeit zu haben, für das Kind ihrer Schwester, das ihrer Sorgfalt so gut anvertraut war, als der des Onkels, anderweitig zu sorgen.
Sie reiste ab, und Clementine, die nie Gutes von ihr empfangen, nie einen Beweis der Liebe von ihr erhalten, nie Schutz gegen die Brutalitäten[192] ihres Peinigers bei ihr gefunden hatte, sah sie mit trockenem Auge und ohne die Ahnung scheiden, daß von nun an ihr Loos noch entsetzlicher werden würde.
Eine Dienstmagd blieb als Verwalterin des Hauses zurück; wenn Clementine in spätern Jahren über das Verhältniß des Onkels zu dieser eben so rohen, als häßlichen und schmuzigen Person nachdachte, so mußte sie schließen, daß Unsittlichkeit die Basis des selben war; ihre Seele war aber damals zu rein, zu voll Unschuld, als daß ihr nur eine Ahnung davon hätte kommen können. Bald indeß wurde Anna – so hieß diese Person – des Zusammenlebens mit einem Trunkenbolde und der Armuth, die im Hause zu herrschen begann, auch überdrüssig, und verließ L. auch, nachdem sie die besten Sachen, unter dem Vorwande des ihr schuldigen und nicht zu erlangenden Lohnes, hatte fortschleppen lassen.
Zu Anfang wollte der Onkel eine andere dienende Person wieder zu sich in das Haus nehmen, bald aber besann er sich eines Bessern und sagte zu Clementinen:
– »Du bist schon groß und stark genug, um mir für die Nahrung, die ich Dir reiche, so wie für den Dir ertheilten Unterricht, einige Dienste zu leisten.[193] Ueberdies bin ich wenig zu Hause, und es wird gut sein, wenn Du früh für Dich selbst und Deine Bedürfnisse sorgen lernst; ich werde also kein Dienstmädchen wieder nehmen, und sehen, wie es mit Dir geht.«
Clementinen war das in dem Augenblick ganz recht, denn sie begriff nicht, welche Lasten dadurch auf sie fallen würden, und sie freute sich, von der rohen Willkür der Anna, die sie mißhandelt hatte, befreit zu werden.
In dieser Zeit trug sich eine Scene zwischen ihr und dem Onkel zu, die, als den Charakter Clementinens bezeichnend, nicht übergangen werden darf.
Die Mutter mochte vielleicht Kunde von den Leiden erhalten haben, denen ihr armes Kind in diesen grausamen Verhältnissen erlag, und hatte deshalb einen Brief voll Klagen und Vorwürfen an L. geschrieben, vielleicht gar damit gedroht, Clementine zurücknehmen zu wollen. Dies lag aber nicht in dem Plane L–s, der jetzt Nutzen von seinem Zöglinge ziehen wollte.
An einem Tage, wo er besonders mild und freundlich gegen Clementine gewesen war, berief er diese zu sich, und sie zwischen seine Knie nehmend und ihre beiden Hände ergreifend, fragte er:[194] – »Nicht wahr, Clementine, wir haben einander recht lieb, und Du, als ein verständiges Kind, siehst ein, daß ich, was ich Dir auch that, nur zu Deinem eigenen Besten gethan habe?«
Clementine, der jede Lüge fremd war, verstummte bei dieser unerwarteten Anrede, und der Onkel fuhr fort:
– »Böse, verläumderische Leute haben Deiner Mutter in den Kopf gesetzt, daß Du es nicht gut bei mir habest, daß ich zu strenge gegen Dich sei, Dich mißhandle, und noch viele eben so alberne, als unwahre Dinge; denn wie gut ich es mit Dir meine, das wissen wir Beide am besten. Du wirst mir also den Gefallen thun, Deiner Mutter zu schreiben, daß Du Dich vollkommen glücklich bei mir fühlest, und ich hoffe, daß dem wirklich so ist; nicht wahr, das wirst Du thun, schon um Deine gute Mutter zu beruhigen, die nicht in der Lage ist, selbst für Dich sorgen zu können, und jetzt durch den Gedanken gequält wird, daß es Dir nicht gut bei mir ergehe.«
Clementine hatte während dieser Rede des Onkels bereits ihre eiskalt gewordenen Hände aus den seinigen zurückgezogen und sich einige Schritte von ihm entfernt; dann, als er, auf ihre Antwort[195] wartend, schwieg, sagte sie mit festem Tone:
– »Nein, ich werde der Mutter nicht schreiben, daß ich hier glücklich bin!«
– »Und weshalb nicht?« fragte der Onkel verwirrt.
– »Weil das eine Unwahrheit wäre.«
– »Du willst mich aufbringen, Clementine,« sagte der Onkel plötzlich wieder den gewohnten strengen Ton gegen sie annehmend; »Du bist eine Undankbare, die meine Güte, meine Wohlthaten verkennt!«
Clementine schwieg, denn sie hatte diesem Manne, der ihr jetzt doppelt verhaßt und verächtlich war, seit er ihr schmeichelte, um sie zu einer Lüge zu bewegen, nichts mehr zu sagen, und ihr Entschluß, nicht schreiben, die Mutter durch keine Unwahrheit hintergehen zu wollen, war unerschütterlich gefaßt.
Der Onkel stand auf und machte mit großen Schritten mehre Gänge durch das Zimmer, dann blieb er vor Clementinen stehen und sagte mit noch schmeichlerischerem Tone, als zu Anfang:
– »Nicht wahr, Du schreibst doch, und was ich Dir dictiren werde?«
Clementine blieb stumm, wie zuvor, und dies[196] sachte seinen Zorn so mächtig an, daß er sich in den furchtbarsten Drohungen gegen sie ergoß; aber auch selbst diese erschütterten Clementinen nicht.
Imponirte diese Standhaftigkeit des Kindes dem bösen Manne, oder was war es sonst? genug, Clementine wurde nicht bestraft und es war zwischen Beiden nicht mehr die Rede von dem Briefe.
Seit Clementine allein in dem Hause des Oheims war, führte sie ein seltsames Leben. Morgens, nachdem der Onkel durch kleine Einkäufe, die aber oft aus Mangel an Geld gänzlich unterblieben, so daß das Kind sich auf ein Stück Brot oder gar auf das Hungern reducirt sah, für ihre Bedürfnisse gesorgt hatte, verschloß er das Haus und steckte den Schlüssel zu sich. Clementine war dann ganz allein, machte des Onkels Bett, bereitete ihr eigenes elendes Lager, kehrte die Stuben aus und setzte sich dann mit einem großen wollenen Strumpfe für den Onkel, an dem sie ein gewisses Stück stricken mußte, in den Garten, so oft es die Witterung nur irgend erlaubte. Hatte sie ihre Zahl vollendet, so griff sie zu einem von den drei Büchern, die ihr zu Gebote standen, und die sie immer und immer wieder las, obgleich sie sie bereits auswendig wußte. Das eine davon,[197] und ihr Liebling, war eine Auswahl von Bürgers Gedichten in Sedez-Format; das andere »die Zauberin Sidonia,« ein Trauerspiel, und endlich eine Jugendschrift: »Leopold und Leopoldine oder die Kinder in der Räuberhöhle.« Mit diesen Schätzen, die für sie alle andern der Welt aufwogen, war sie nie allein, fühlte sie ihre Verlassenheit, ihr Unglück, die Jugend-Verkümmerung nicht, denen das Schicksal sie unterworfen hatte.
Bürgers Gedichte hatte sie bereits im Hause ihrer Pflegeeltern, die eine auserwählte Bibliothek besaßen, kennen und lieben gelernt, und manche Stunde mit ihnen in der Hand allein im geräumigen Bibliothek-Zimmer gesessen, wo sie sie sich laut und oft unter sanft fließenden Thränen vorlas. Man kann sich vorstellen, wie groß ihre Freude war, als sie diese Sammlung unter einer Menge zum Theil französischer, zum Theil streng wissenschaftlicher Bücher wiederfand, und mit welchem geheimen Entzücken sie darin las.
Bürgers wohlklingende Verse sind ihr für die ganze Folgezeit ihres Lebens, selbst da noch, als ihr Geschmack sich gänzlich verändert hatte, werth und theuer geblieben. Vielleicht aus Dankbarkeit,[198] denn außer dem großen Genuß, den sie ihr gewährten, gaben sie ihr auch das erste Lied ein, das sie dichtete. Sie wurde, seltsam genug, zu diesem durch das dem Englischen des Pope nachgebildete Gedicht: »Heloise an Abälard« begeistert, indem sie eine Antwort darauf schrieb, nämlich: »Abälard an Heloise.« Es wurde an einem schönen Sommer-Morgen, hinten in dem Lusthause, entworfen und in's Reine geschrieben, und es gefiel ihr selbst ganz außerordentlich. Nur einen Kummer hatte sie auch dabei: das Papier, auf dem sie es, in Ermangelung eines bessern, abschreiben mußte, war nicht ganz sauber und schon sehr vergilbt; sie hatte es aus einem alten, cassirten Rechnungsbuche des Onkels gerissen, das auf dem Boden lag. Wie groß würde ihre Freude gewesen sein, wenn sie es mit zierlicher Schrift auf schönem Papier hätte schreiben können! Was Form und Inhalt anbetrifft, so ist darüber nichts zu sagen, denn sie hat es späterhin mit vielen andern Erstlingsversuchen der Art den Flammen geopfert, als man sie mit ihren Poesien neckte.
Groß aber war damals, als sie es schuf, ihr Entzücken darüber und sich einer neuen Fähigkeit bewußt, war ihr die Einsamkeit keine Plage, keine Qual mehr. Alles nur aufzutreibende unbeschriebene[199] Papier wurde von ihr benutzt, um darauf die Gefühle ihres Herzens, die Regungen ihrer Seele auszuströmen und zahllose Gedichte entstanden nach und nach. In Prosa versuchte sie sich in dieser ersten Zeit nie: sie verachtete sie gleichsam und hielt nur den für einen Dichter, der Verse machen konnte, wie ihr über Alles geliebter Bürger.
Noch ein anderer Sonnenstrahl, außer diesem, sollte in dieser Zeit ihr verdüstertes Leben erhellen. Ihrer früheren Gewohnheit gemäß, kletterte sie auch jetzt noch gern in die höchsten Bäume hinauf und saß dort im schlanksten Wipfel mit unaussprechlicher Freude, weil sie von da die weiteste Aussicht und die häßliche Garten-Planke weit unter sich hatte, welche ihr diese im Garten selbst beengte. Als sie nun einst in einem nahe neben der Planke stehenden großen Birnbaum saß und strickte, sah sie durch die Steige des Nachbar-Gartens zwei allerliebste Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, Hand in Hand daher kommen. Das Nachbar-Haus hatte eine Zeitlang leer gestanden und war erst jetzt, es war um Himmelfahrt, wieder bezogen worden.
Die beiden Kinder plauderten unaufhörlich mit einander und freueten sich über die Blumen, die[200] den Beeten des Gartens bereits zu entsprossen anfingen, und Clementine sah ihnen mit Vergnügen zu, wie sie sich bald bei einem Veilchen, bald bei einem gesprenkelten Margarethen-Blümchen niederbückten, um es zu betrachten und zu bewundern. Sie kamen endlich der Planke ganz nahe, und Clementine hörte, daß sie Französisch mit einander sprachen. Diese Sprache verstand und redete auch sie, und so rief sie den beiden anmuthigen Kindern in derselben aus dem Wipfel ihres Birnbaumes einen guten Tag zu. Die armen Kleinen waren fast erschrocken, als sie eine Stimme gleichsam aus der Luft vernahmen, und diese gar in ihrer Muttersprache sie anredete; endlich entdeckten sie aber den losen Vogel im Baume und das Gelächter und die Freude waren groß.
Die angenehme Bekanntschaft war gemacht und wurde zur beiderseitigen Zufriedenheit von nun an fortgesetzt. Die armen Kleinen, erst kürzlich mit ihren Eltern aus Frankreich herübergekommen, verstanden kein Wort Deutsch, und man kann sich daher denken, wie groß ihr Vergnügen war, als sie eine Gespielin fanden, die in ihrer Sprache fertig mit ihnen reden konnte; nicht minder groß aber war das Clementinens, die bisher alles jugendlichen Umgangs entbehrend, plötzlich diesem[201] Mangel abgeholfen sah. Es wurden nun von der einen und der andern Seite Versuche gemacht, die häßliche Scheidewand zu übersteigen; allein sie war zu hoch und zu steil, und man mußte davon abstehen, so leid es auch allen Dreien that, nicht auch noch mit einander spielen zu können.
Wie genügsam aber wird man nicht, wenn man Alles entbehrt hat! So war auch Clementine vollkommen glücklich, die beiden Kinder nur sehen und aus ihrem lieben Birnbaum mit ihnen plaudern zu können.
Vielleicht war es auch das Mährchenhafte, das in Clementinens gegenwärtigem Verhältnisse lag, welches es ihr erträglicher macht, als es ihr sonst gewesen sein würde. Ihre Lage war in der That mit der der verwünschten Prinzessinnen der Mährchen, die von einem bösen Zauberer gefangen und eng verwahrt gehalten wurden, zu vergleichen, und ihre lebhafte Phantasie that das Uebrige, das Bild zu vervollständigen. Diese Zeit war vielleicht die productivste ihres Lebens, wenn gleich außer den Gedichten nichts von ihr zu Papier gebracht wurde, schon aus dem einfachen Grunde, weil sie keins hatte; denn das, was sie von Zeit zu Zeit eroberte, mußte sorgfältig zu den[202] Versen aufgehoben werden, die sie quälten, bis sie sie niedergeschrieben hatte.
Diese Armuth an Papier war es vielleicht, die machte, daß sie sich von vorn herein übte, ihre Gedanken gleich so in ihrem Kopfe auszuarbeiten, daß sie sie völlig geordnet und ohne weiter der Correctur zu bedürfen, niederschreiben konnte, was sie selbst, mit nur wenigen Ausnahmen, bei den Gedichten that, die sie verfaßte. Als sie in der Folge zahllose Bücher schrieb, konnte sie nie an die Arbeit gehen, ohne zuvor das ganze Gebäude des vorhabenden Werkes in allen seinen Theilen im Umrisse vollendet und Jedes an seine gehörige Stelle gewiesen zu haben. Diese Umrisse wurden auf einsamen Spaziergängen, beim Nähen oder Stricken oder bei den Garten-Arbeiten, die sie mit großer Lust vollbrachte, gemacht, und manchmal wunderte sich ihre Umgebung, sie so still und in sich gekehrt, so »abwesend,« wie man es nannte, gerade bei solchen Beschäftigungen zu finden, bei denen man sonst gern plaudert. War ein Buch nun auf solche Weise in ihr entstanden und fertig, so brachte sie es mit unglaublicher Schnelligkeit zu Papier und hatte nie nöthig, eine Abschrift zu machen; nur hie und da brachte sie beim nochmaligen Ueberlesen kleine Correcturen an, die[203] aber nur in einzelnen, besseren und gewählteren Wörtern bestanden. Gewiß kam ihr außerordentliches Gedächtniß ihr dabei sehr zu Hülfe; der erste Anstoß wurde ihr aber wohl durch den oben angeführten Papier-Mangel gegeben, der sie damals oft drückte und quälte.
Sie sah nämlich die Möglichkeit vor sich, daß es ihr endlich ganz ausgehen würde, und wo dann mit dem bleiben, was sie innerlich so sehr erfüllte? woher dann Trost und Freude in ihrer einsamen und verlassenen Lage nehmen? Gewiß hätte die Welt nichts daran verloren, wenn ihr aufkeimendes Talent auf solche Weise in seiner fernern Ausbildung gehemmt worden wäre, sie selbst aber Alles.
Nur wer sich je in Clementinens Lage befand, wird im Stande sein, zu begreifen, welch ein Schatz ein Stück Papier, ein noch so schmaler Streifen, für sie war. Sorgfältig las sie die von dem Onkel cassirten und an die Erde geworfenen Papiere allemal auf, um vielleicht noch ein unbeschriebenes Blättchen darunter zu finden, und wie groß war ihre Freude, wenn sie es fand! Den Onkel aber um etwas zu bitten, war ihr aus zwei Gründen unmöglich: einmal, weil sie sich so zu ihm gestellt hatte, daß sie ihn nie um[204] Etwas bat, nicht einmal um Brot, obgleich der Elende es ihr oft selbst daran fehlen ließ; und dann, weil sie ihr Talent vor ihm geheim hielt, als wäre es eine Sünde. Er hatte sie einmal in ihren tief innerlichsten Gefühlen unheilbar verletzt, indem er, ein Gottesläugner, ihre Religiosität verspottete, und seitdem verschloß sich ihr Gemüth vor ihm, wie die Blätter der Mimosa pudica vor jeder fremden Berührung.
Groß war daher auch die Sorgfalt, mit der sie ihre kleinen poetischen Versuche vor ihm verbarg, und kaum war ein Winkel ihr versteckt genug, um diesen Schatz aufzunehmen; ich glaube, daß sie tödtlich krank geworden wäre, wenn dieser ihr Oger ihn je gefunden und auch damit seinen heillosen Spott getrieben hätte, und das würde sicher nicht unterblieben sein.
Bemerken muß ich noch, daß der Onkel sie schon seit längerer Zeit nicht mehr schlug, wozu der Umstand Veranlassung gegeben haben mochte, daß er sie einst, als er ziemlich trunken war, so sehr verletzte, daß fast ein Wundarzt hätte herbeigeholt werden müssen. Er erschrack sichtbar, als das unglückliche Kind unter seinem Streich, der den Kopf traf, zu Boden sank, und seitdem verschwand der Stock gänzlich; ja, er bemühte sich[205] sogar, Clementine diese Barbarei vergessen zu machen und kündete ihr ein großes Vergnügen an, das er ihr zu bereiten willens sei. Dieses bestand darin, daß er sie mit zur Stadt und in den – Raths-Weinkeller nahm, wo er ihr einen süßen Wein und mit Butter bestrichene Zwiebacke gab. Es war das erste Mal, daß sie Wein genoß, und er wirkte daher höchst unangenehm auf sie, so daß sie, in ihre Einsamkeit zurückgekehrt, nur mit Schauder daran denken konnte, je wieder von diesem Getränke genießen zu müssen, das sie mit einem so unheimlichen Feuer erfüllt hatte. Auch weigerte sie sich in der Folge standhaft, den Oheim wieder an einen Ort zu begleiten, wo es ihr in jeder Hinsicht so wenig gefallen hatte: der dunkle, dumpfe Keller mit seinen Wein-Ausdünstungen, die Umgebung von ihr völlig unbekannten Männern, die entweder schweigend hinter großen Humpen mit Wein saßen oder wovon einige, die bereits zu viel genossen hatten, in eine höchst widrige Lustigkeit ausbrachen, machten einen so üblen Eindruck auf sie, daß sie um keinen Preis dahin zurückgekehrt sein würde.
Auch mit der jedem weiblichen Wesen einigermaßen angeborenen Eitelkeit hatte Clementine auf[206] diesem Wege zum Raths-Weinkeller den ersten Kampf im Leben zu bestehen gehabt. Man kann sich denken, wie es um ihre Kleidung aussah, seit keine erwachsene Person sie mehr überwachte, und so war diese nicht nur beschmuzt und zerrissen, sondern sie war auch dermaßen aus ihren Kleidern herausgewachsen, daß sie ihr wenig über die Knie hinunter gingen. An einen Hut und an Handschuhe – der Onkel nannte diese Dinge, gleich dem guten Grönland, überflüssigen Luxus – war nun gar nicht zu denken, und so mochte die für ihr Alter sehr groß gewachsene Clementine eine seltsame Rolle spielen, als sie mitten im Winter in einem dünnen, ihr viel zu kurzen kattunen Fähnchen und ohne Hut und Handschuh, ohne Oberrock noch Umschlagetuch, durch die Gassen der großen Stadt ging; auch blieben wirklich einige höchst elegant gekleidete Damen stehen, um dieser auffallenden Erscheinung nachzusehen, was von dem armen, tief beschämten Kinde nicht unbemerkt blieb.
Clementine's Lage wurde mit dem anbrechenden Winter überhaupt viel trauriger, denn nicht nur wurde sie durch denselben von ihren beiden lieben französischen Kindern getrennt, die von den Eltern zu Hause gehalten wurden, um sich[207] nicht zu erkälten – sie waren aus dem südlichen Frankreich und daher sehr empfindlich gegen unser rauhes Klima – sondern mußte überdies selbst noch des Trostes entbehren, den ihr die Natur bis dahin gewährt hatte. Auch nicht einmal für Feuerung war gehörig gesorgt, denn wenn der Oheim auch dann und wann eine Kleinigkeit an Brenn-Material einkaufte, so reichte es doch bei weitem nicht hin, das kleine Stübchen beständig zu erwärmen, das jetzt die Welt Clementinens sein mußte. Auch noch ein anderer Umstand machte den Winter schrecklich für sie: der Onkel, welcher immer tiefer in sein Laster hineinsank, befand sich oft Abends in einem Zustande, der es ihm zur Unmöglichkeit machte, früh nach Hause zu kommen, und Clementine durfte ihr Lager nicht eher aufsuchen, als bis er da war; so harrte sie denn oft bis tief in die Nacht hinein auf die Ankunft dieses Unholds, und wenn er da war, mußte sie vor ihm zittern, weil er gewöhnlich ganz berauscht zurückkehrte.
Noch schrecklicher als alles Dieses war es für sie, daß L. seit einiger Zeit ein Betragen gegen sie annahm, das dem ganz entgegengesetzt war, welches er früher gegen sie gezeigt hatte: er wurde zärtlich, rief sie mit Schmeichelworten zu[208] sich und sagte ihr wohl gar in seinem trunkenen Muthe: er erziehe sie, um einmal seine Frau zu werden, wobei er ihr zugleich erzählte, daß er sich schon einmal ein junges Mädchen, das er Sophie nannte, zu diesem Zwecke erzogen habe; als die groß geworden, sei sie aber mit einem andern Manne davongegangen; er hoffe jedoch von ihr, daß sie seine Liebe und Sorgfalt anders belohnen werde, als jene treulose Sophie.
Man kann sich denken, mit welchem Entsetzen, ja, mit welchem Abscheu, Clementine solche Worte von den ihr so verhaßten Lippen vernahm; aber eben die Heftigkeit dieser Empfindungen gaben ihr den Muth, ihrem Peiniger mit der größten Entschiedenheit zu erklären, daß sie weit lieber sterben, als seine Frau werden würde. Er lächelte bei solcher Erklärung dann auf eine eigenthümliche, höchst widerwärtige Weise und ließ, zu Clementinens großer Erleichterung, das Gespräch fallen.
Auf solche Weise war Clementine elf und ein halbes Jahr alt geworden, in ihrem Innern aber durch die großen Leiden, denen sie ausgesetzt gewesen war, weit über dieses Alter hinaus gereift. Ein wahrhaft furchtbarer Ernst war über das einst so heitre Kind gekommen, dessen körperliche[209] Gesundheit endlich auch erlag. Schon lange hatte sich alle ihnen sonst eigenthümliche Frische von ihren Wangen verloren und der Körper, einst so stark, so kräftig, fing an, abzumagern; ein eigenthümlicher krankhafter Blick der dunklen Augen, die durch die große Magerkeit des Gesichts noch größer, als zuvor schon geworden waren, verrieth nur zu deutlich, was sie litt.
In diesem Zustande traf sie die arme Mutter an, die nach Hamburg herübergekommen war, um bei zwei früh verwaisten Kindern, im Hause eines reichen Wittwers, Mutterstelle zu vertreten und überdies die Leitung des sehr großen, brillanten Hauswesens zu übernehmen. Es war ihr erlaubt worden, eine ihrer Töchter mitzubringen, und so hatte sie die kleine Johanna – das dritte Kind war indeß gestorben – dazu auserwählt, weil sie mit dieser sonst nicht zu bleiben gewußt hätte.
Ein Strom von Thränen entfloß ihren Augen, als sie ihre arme Clementine in einem Zustande erblickte, der für deren Leben fürchten ließ und der ihr überdies deutlich sagte, was diese in der Zeit der Trennung von ihr gelitten hatte. L. selbst, so frech er sonst auch war, zeigte sich einigermaßen[210] verlegen, als er die arme Mutter so vor Schmerz weinen und die Hände ringen sah.
Wohin aber sollte sie mit ihrem Kinde, wenn sie es ihm nahm? Sie war aller Mittel entblößt, um es anständig unterbringen zu können; nichts blieb ihr daher übrig, als auf eine bessere Zukunft zu hoffen und zur Zeit so viel zur Erleichterung des Zustandes Clementinens zu thun, als in ihren Kräften stand. Das that sie denn auch redlich, und so oft sie nur konnte, besuchte sie die Tochter, zu der sie zu jeder Stunde gelangen konnte, obgleich L. das Haus vorn noch immer verschloß, wenn er ausging. Das Lusthaus hinten im Garten hatte nämlich zwei Thüren, wovon eine in den Garten, die andere in ein Nebengäßchen hinausging, und den Schlüssel zu der letztern händigte ihr L. auf ihre Bitte ein.
Wie eine milde Fee erschien sie daher oft Clementinen, wenn diese – es war indeß wieder Sommer geworden – entweder im hohen, schwellenden Grase lag und sich den in ihrer Seele aufgehenden Gedanken und Bildern hingab, oder in ihrem geliebten Birnbaum saß, um sich mit den französischen Kindern zu unterhalten, die seit dem Eintritt der milderen Jahreszeit wieder im Garten spielen durften.[211]
Nie kam die Mutter mit leeren Händen, immer hatte sie etwas ausgesonnen, Clementine entweder zu erfreuen oder zu erquicken, und so war die Erscheinung der Mutter immer eine wahrhaft himmlische für sie.
O, welch ein Entzücken war es auch für das liebebedürftige Herz des Kindes, geliebt zu werden und wieder lieben zu können! Wie waren es nicht blos die Gaben der Mutter, die ihm diese so theuer machten, sondern weit mehr noch die Zärtlichkeit, die diese ihm weihte, die Thräne des Schmerzes, die ihr Auge um dasselbe vergoß! Nie aber klagte Clementine, selbst da nicht, als L–s Lage, durch eigene Verschuldung, so wurde, daß er ihr nicht mehr das Allernothwendigste reichen konnte, und sie oft vom bittersten Hunger gequält wurde; allein die Mutter wußte trotz dem Alles, und so belud sie sich jedesmal, wenn sie kam, mit Lebensmitteln, um ihr armes, immer bleicher werdendes Kind vor dem Verhungern zu beschützen.
Gewiß war es die traurige Lage, worin Clementine sich befand, die die Mutter zu einem Schritte bewog, den jene ihr nie gedankt hat, ja, den sie ihr nie vergeben konnte: es war der, die[212] Hand des Mannes anzunehmen, bei dessen Kindern sie bisher Mutterstelle vertreten hatte.
Die Mutter Clementinens war noch jung und hübsch, als sie in das Haus des Herrn B., eines reichen, angesehenen und äußerst braven Mannes kam, der aber um zwanzig Jahre älter als sie, und dabei überaus häßlich war. Die arme, aber reizende Wittwe gefiel seinen Augen und er bot ihr Herz und Hand an, die sie, gewiß nur in Rücksicht auf Clementinens traurige Lage, annahm.
Clementine ahnete von diesem Verhältnisse nichts, als ihre Mutter ihr an einem Tage verkündete, sie werde sie nun auch zu sich in das Haus des Herrn B. nehmen, und sie solle von nun an gute Tage, wie ihre Schwester Johanna, haben; hätte sie es aber gekannt, so würde sie sie gewiß unter heißen Thränen beschworen haben, sie lieber zu lassen, wo sie war, denn ihr einen andern Vater zu geben, als den, der unter dem grünen Rasen-Hügel auf dem Kirchhofe zu **** schlummerte, und den sie noch immer so zärtlich liebte. Das mochte die Mutter vielleicht fürchten, und so verschwieg sie ihren neuen Brautstand sorgfältig vor Clementine.[213]
An einem schönen Tage im August verließ Clementine endlich das Haus, in dem sie vier Jahre hindurch so unglücklich gewesen, das aber trotz dem für ihre innere Ausbildung so wichtig geworden war; denn ihr Charakter hatte sich unter dem beständigen Druck der Leiden auf eine höchst merkwürdige Weise ausgebildet und ihr Wesen war ernst und tief innerlich geworden. Von allem Aeußern abgezogen; fremd in der sie umgebenden großen und bewegten Welt; unbekannt mit tausend Bedürfnissen, die Andere hatten, mit einem völlig unaufgeklärten Verstande und einem tiefpoetischen Gemüthe, hätte sie zu jener Zeit für den aufmerksamen Beobachter eine eben so auffallende, als interessante Erscheinung sein müssen; auch ist sie, trotz aller Mühe, die man sich späterhin gab, sie für die große Welt und das gewöhnliche Leben zuzustutzen, in beiden stets ein Fremdling geblieben, und hat sich nicht gehörig in ihnen zurecht zu finden gelernt. Nie und unter keinen Umständen konnte das Aeußere je einen solchen Werth, ein solches Gewicht für sie erlangen, daß sie demselben das Innere aufgeopfert hätte; daher spricht die begabteste ihrer Freundinnen ihr, wenn auch nicht Geist und Verstand, doch jegliche Klugheit in allen Welt-Sachen[214] ab, und behauptet, sie werde ewig darin ein Kind bleiben.
Wer auf einer Bahn schon so weit fortgeschritten ist, wie Clementine, für den ist auch kaum eine andere Richtung mehr möglich. Für sie hatte es so viele Jahre hindurch, und zwar die bedeutendsten für die Bildung des Menschen, nur noch innere Freuden, innere Genüsse gegeben, und Alles, was ihr von Außen kam, war nur feindlich und vernichtend auf sie eingestürmt; so hatte sie sich also ihrer innern Welt, dem tief innerlichsten Leben gänzlich zuwenden müssen, und blieb ihm aus Grundsatz zugewandt, nachdem sie seine reinen, hohn Freuden einmal hatte kennen lernen. Es ist noch jetzt eine Eigenthümlichkeit an ihr, daß sie, so wie sie besonders lebhaft geistig angeregt wird, der leiblichen Bedürfnisse gänzlich vergißt, ja, diese sie sogar anekeln, während sie in dem entgegengesetzten Zustande der leiblichen Speise so viel bedarf, wie Andere und, gelangweilt, sogar viel davon zu sich nimmt.
Aus dem Hause ihres Onkels fortgehend, dachte sie nicht daran, irgend Etwas, das ihr angehörte, mitzunehmen, als ihre Poesien und ein theures Andenken von ihrem geliebten verstorbenen[215] Vater. Dies letztere war ein silberner Kinder-Löffel, den er, der Alles konnte, für sie gemacht und mit hübschen darin gegrabenen Sinnsprüchen und Zeichnungen verziert hatte. Das waren also die einzigen Gegenstände, auf die sie Werth setzte, und mit diesem Löffel in der Hand, ihre Papiere in ein Tüchelchen geknüpft, langte sie im Hause des Herrn B. an.
Drei allerliebste Kinder, wovon eins ihre Schwester Johanna, die beiden andern die Töchter des Herrn B. waren, saßen auf der steinernen Bank vor dem Hause, als sie in einem mehr als abentheuerlichen Aufzuge daselbst anlangte. Es fehlte ihr auch jetzt an Hut und Handschuhen und das lange, in starken Locken herabwallende Haar bildete ihre einzige Kopfbedeckung. Sie hatte ein Kleid von klarem Musselin, ein Geschenk der Mutter, über einen Unterrock von braunem Tamies, wie er damals getragen wurde, gezogen, ohne in ihrer Unerfahrenheit in Hinsicht des Putzes daran zu denken, daß es sich überaus schlecht und seltsam machte, unter einem so durchsichtigen Kleide einen dunklen Rock zu tragen; das Unglück hatte überdies gewollt, daß sie, indem sie von dem Birnbaum aus Abschied von ihren lieben französischen Kindern[216] nahm, ein großes Loch recht mitten in das Kleid gerissen hatte; dieses hielt sie nun auf dem Wege zwar so gut als möglich zu; als sich ihr aber beim Eintritt in das B–sche Haus so viele Hände freundlich entgegenstreckten, mußte sie auch die ihrigen hinreichen, und der große Schaden kam, zu ihrer nicht geringen Beschämung, zum Vorschein.
Die Kinder thaten gleich so gut und zutraulich gegen sie, daß ihr ordentlich himmlisch zu Muthe wurde; man führte sie in die Spielzeug-Kammer, und als diese sie wenig zu interessiren schien, auf den Boden, wo man in einer hell von der Sonne beschienenen Kammer eine Menge der allerköstlichsten Blumen in Töpfen erzog.
– »Die meinigen sollen Dir mit zugehören,« sagte Marie, die älteste Tochter des Herrn B., ein sanftes, liebes Mädchen von gleichem Alter mit Clementinen, aber krank, leidend und überaus schwächlich, als sie sah, daß diese sich sehr daran erfreute. Diese Güte rührte Clementine unendlich, und der Bund der Herzen, der nur mit Mariens Leben enden sollte, war zwischen Beiden geschlossen.
Welche Menge von neuen Gegenständen und Eindrücken stürmten jetzt nicht auf Clementine[217] ein! Sie, die so lange an dem Nothwendigsten Mangel gelitten hatte, sah sich plötzlich inmitten des Reichthums und Wohllebens versetzt; sie, die schon darin Genuß gefunden hatte, nur auf flüchtige Augenblicke von dem Wipfel ihres Birnbaumes herab mit den beiden französischen Kindern zu plaudern, sah sich jetzt von drei lieben Kindern umringt, die ihr die Hände drückten, die sie zärtlich ansahen, die mit ihr spielen wollten und unaufhörlich mit ihr schwatzten; sie, die oft nicht gewußt hatte, womit sie ihre Blöße bedecken sollte, wenn sie das einzige noch einigermaßen erträgliche Kleid unter der Pumpe ausgewaschen und zum Trocknen im Garten über die Büsche gebreitet hatte, befand sich jetzt im Besitze neuer Kleider, eines Huts, mit einem schönen, breiten hellrothen Atlasbande, der ihr ganz besonders gefiel, und eines Ueberflusses der allerfeinsten Wäsche; denn so hatte es die unübertreffliche Güte des Herrn B. gewollt, der für alle diese Bedürfnisse mit der größten Liberalität gesorgt hatte; sie endlich, die vor Wissens-Durst fast verschmachtet war, sollte von den besten Lehrern der Stadt unterrichtet werden!
Dabei konnte es denn freilich an mancher Beschämung für das jetzt fast zwölfjährige Mädchen[218] nicht fehlen, denn in wie vielen Dingen, in denen selbst die jüngsten Kinder des Hauses für ihr Alter schon weit waren, war sie nicht völlig unwissend. Freilich war sie in vielen andern ihren Gespielinnen auch wieder voraus; allein die kamen ihr nicht zu Gute; so schrieb sie eine sehr schöne, schon völlig ausgebildete Handschrift, hatte aber von der Orthographie und Grammatik nicht den entferntesten Begriff, obgleich sie schon sehr viel geschrieben hatte; so sprach und verstand sie fertig das Französische, wußte aber keine einzige Regel; so konnte sie zwar Verse, aber nicht zwei Zeilen ordentlich zusammenhängender Prosa schreiben, und von der Musik, vom Tanzen, von der Erdbeschreibung, Geschichte, Naturgeschichte, Physik u.s.w. wußte sie nicht einmal, was sie zu bedeuten hatten; die Kinder des Herrn B. waren aber von frühester Kindheit an von den besten Lehrern der Stadt auf das Sorgfältigste unterrichtet worden, und beschämten sie so alle Augenblicke gegen ihren Willen durch die an sie gerichtete Fragen, auf die sie nicht zu antworten wußte.
Sie war ehrgeizig, und es galt also, fleißig zu sein und nachzuholen. Das erstere war sie wirklich, sie war es in diesen Jahren bis zu[219] einem Grade, daß man ihr Einhalt thun mußte, weil man Nachtheil für ihre Gesundheit davon fürchtete. Späterhin, wo sie sich die ersten Elemente des Wissens angeeignet hatte, ließ dieser Eifer nach; sie konnte sich zu sehr auf ihr außerordentliches Gedächtniß und ihre seltene Fassungs-Gabe verlassen, als daß sie nöthig gehabt hätte, sich besonders anzustrengen.
In diesen so glücklichen Verhältnissen wartete jedoch noch ein großer Kummer auf sie: die Verlobung der Mutter mit dem Herrn B., die man bis dahin aus Familien-Rücksichten noch geheim gehalten hatte, wurde öffentlich bekannt gemacht, und der Tag der Hochzeit festgestellt, zugleich forderte man von Clementinen, daß sie den ihr durchaus fremden Mann – sie sah Herrn B., der große Geschäfte hatte, nur sehr wenig und fast nie anders, als Mittags bei Tische – Vater nennen solle. Das war ihr durchaus unmöglich; das schien ihr eine Versündigung an dem Theuren zu sein, der sie so über Alles geliebt hatte, und sie zürnte in ihrem Herzen der Mutter, daß sie ihres ersten Gatten vergessen und sich einen zweiten geben konnte.
Vergebens wandte die Mutter Bitten und Vorstellungen an, um »ihren Eigensinn« –[220] so nannte sie, was tief innerliches Gefühl war – zu besiegen; vergebens bat Marie, die sonst Alles über sie vermochte, sie unter Thränen, doch ihren guten Vater auch Vater zu nennen: es war ihr nicht möglich, und das Wort erstarb ihr auf den Lippen, so oft sie es auch auszusprechen versuchte. Sie war dem Herrn B., der die Güte selbst war, von Herzen gut; sie hätte ihn um Alles nicht betrüben mögen, allein ihr Vater konnte er nicht sein, sie ihn so nicht nennen, und an dem Hochzeits-Tage ihrer Mutter war sie in einem Zustande, der Krämpfe und Convulsionen für sie befürchten ließ.
Sie hatte den Herrn B. die Mutter schon vorher mehre Male küssen und umarmen sehen, ganz wie ihr seliger Vater diese küßte und umarmte, und das, was sie jetzt dabei empfand, grenzte nahe an Ekel und entfremdete sie Beiden auf eine unbeschreibliche Weise.
Was man vor der Vermählung nur von ihr erbeten hatte, forderte man nach derselben, als Bitten nichts fruchten wollten, unter Drohungen von ihr; allein diese wurden eben so vergeblich angewandt, und Herr B. blieb immer Herr B. für sie, obgleich der treffliche Mann sich alle nur erdenkliche Mühe gab, sie für sich zu gewinnen.[221] Sie hätte ihn vielleicht leidenschaftlich geliebt, wie seine Güte für sie und Alle, die mit ihm in Berührung kamen, es verdiente, wenn er nicht ihr Vater hätte sein wollen.
Diese Hartnäckigkeit, denn so nannte man es, erzeugte endlich doch einige Kälte zwischen dem Stiefvater und der Stieftochter, und der erstere wandte seine Neigung weit mehr der jüngern Schwester Clementinens, als dieser zu, und dies glich sich erst wieder aus, als Clementine Gattin und Mutter wurde und der würdige Greis ihre Söhne mit einer wahrhaft rührenden, ächt großväterlichen Zärtlichkeit liebte; da erst vermochte sie ihn aus voller Seele Vater zu nennen.
Das Verhältniß zwischen Clementinen und der ältesten, nur um elf Tage jüngern Tochter des Herrn B. war übrigens das schönste und rührendste von der Welt geworden, und nie haben sich rechte Geschwister zärtlicher geliebt, als diese Beiden, so verschieden sie auch an Leib und Seele waren. Marie war das edelmüthigste, sanfteste und neidloseste Geschöpf, und so beneidete sie es Clementinen keinen Augenblick, daß diese, an Geist und Körper wieder kräftig aufblühend, ihr von Vielen vorgezogen wurde,[222] wahrend sie, wie ein köstlicher Edelstein in seiner Kiesel-Hülle, allen ihren unendlichen Werth nur im Innern tragend, fast unbeachtet blieb. Hieraus erwuchs aber auch für Clementine mancher Schmerz, namentlich auf Bällen, wo die unscheinbare, kränkliche Marie eine sehr traurige und verlassene Rolle spielte, während die rüstige und im Tanzen überaus geübte Schwester von vielen die Königin war. Clementine darf es sich gestehen, daß sie der Schwester-Liebe manches Opfer gebracht und manchen Tanz versagt hat, um nur bei der sonst ganz verlassenen Marie sitzen zu können; und diese wußte das, und o, wie dankte sie es ihr!
Von den Eltern, wovon der Vater fast ganz von seinen Geschäften, die Mutter aber von einem großen und glänzenden Hauswesen in Anspruch genommen wurde, geschah wenig für die Bildung der Kinder, wenn man den Unterricht abrechnet, der ihnen gegeben wurde, und der ausgezeichnet war, und so waren sie sich in dieser Hinsicht selbst überlassen. Eins ersetzte aber dem Andern, was Beiden fehlte: in ihren Seelen lag der brennendste Trieb, sich zu bilden und nebenbei eine hohe Begeisterung für Alles, was gut und schön war. So erstarkte sich Eins an dem Andern, so legte[223] man sich unaufhörlich kleine Prüfungen auf; so schwor man mit Thränen in den Augen der Tugend ewige Treue zu: o, es war gewiß ein schönes Band, das diese beiden begeisterten Kinder mit einander vereinte! Der erste Antrieb zu allem Guten ging freilich immer von Marien aus; allein Clementinens feurige Seele war ganz dazu geschaffen, diese Keime in sich aufzunehmen und sie zu zeitigen. Auch standen die beiden Schwestern in großer Achtung nicht nur bei ihren jugendlichen Bekannten, sondern selbst bei Erwachsenen, obgleich Clementine manche störende, gegen das Gewöhnliche verstoßende Eigenthümlichkeiten, die gewöhnlichen Menschen wohl als Lächerlichkeiten erscheinen mochten, an sich hatte.
So verschmähte sie unter andern jede Art von Putz; so wollte sie nie helle Farben und noch weniger bunte Kleider tragen und mußte einst um ein solches, das die Mutter ihr mit Gewalt aufdringen wollte, mehre Tage Stuben-Arrest erleiden, was sie geduldig that; so kletterte sie noch immer, obgleich sie schon ein großes Mädchen war, in die höchsten Bäume; so sagte sie Jedem, was sie von ihm dachte, gerade in's Angesicht, und hielt diese zudringliche Wahrheitsliebe sogar für Tugend; so corrigirte sie ganz[224] alte Damen, wenn sie Sprachfehler machten, was nicht selten die peinlichsten Scenen für die Uebrigen herbeiführte; so half sie, die keinen Augenblick unthätig sein konnte und Alles thun und lernen wollte, dem Gärtner beim Graben und Pflanzen, dem Maler beim Malen, dem Maurer beim Mauern, dem Hausknechte beim Sägen und Holzhacken, und gewann zwar dadurch eine Menge von Fertigkeiten, die sie nachher fortwährend übte; aber sie hatte auch immer zerrissene oder befleckte Kleider und duldete weder das damals, wie jetzt unerläßliche Schnürleib, noch enge Kleider und Schuhe; kurz, sie setzte die arme Mutter nicht selten in Verzweiflung und zog sich ein Nasenrümpfen von den feinen Demoisellen zu, die sich um keinen Preis so beschäftigt und so beschmuzt haben würden. Hierin vermochte auch Marie nichts über sie; es war ihr einmal unmöglich, steif und eingeschnürt einherzugehen und unbeschäftigt zu sein, und so oft sie auch in dieser Hinsicht gute Vorsätze faßte, so kamen sie doch nie zur Ausführung.
Mit der Mutter, die so gern ein recht gesittetes Mädchen aus ihr gemacht hätte, fand daher ein beständiger Kampf statt, der noch dadurch vermehrt wurde, daß Clementine, die doch so viele[225] Kleider zerriß und verdarb, keine geflickte tragen wollte; »die wären bettelhaft,« meinte sie, und wirklich vergab sie sie heimlich an Arme, wodurch manche Noth und Verlegenheit entstand. Auch die im Garten von ihr errichtete Turn-Anstalt, das Reiten auf dem Pferde des Herrn B., das Baden in dem nahen Teiche, erregten manche schwere Besorgnisse und führten viele unangenehme Auftritte herbei, da die Mutter einmal eine Tochter haben wollte, wie andere Töchter waren, und diese es, ihrer verschiedenartigen Natur und dem Gange ihres Schicksals und ihrer Bildung nach, nicht sein konnte.
Die arme Frau hatte, wie manche Henne, ein Enten-Ei ausgebrütet, und ging nun trostlos am Wasser auf und ab, worauf das Junge behaglich schwamm, während sie vor Angst verging.
Doch nicht blos der Körper Clementinens, sondern auch ihr Geist wurde in beständiger Bewegung und Uebung erhalten. Die besten Bücher wurden mit Entzücken gelesen und für Schiller geschwärmt, seine Trauerspiele unter süß fließenden Thränen, so wie seine Gedichte, auswendig gelernt. Dann kamen die Schlegel an die Reihe, La Motte Fouqué wurde bewundert und gleichsam verschlungen; mit Novalis, den man kaum[226] halb verstand, aber eben deshalb am meisten verehrte und bewunderte, wurde geschwärmt, und endlich gerieth man über den Shakespear, mit dem Clementinen eine neue Welt aufging, und den sie gleich zu würdigen wußte, obgleich ihre Umgebung zu wenig gebildet war, um sie auf den hohen Werth desselben aufmerksam machen zu können; sie las ihn zuerst in der Eschenburgschen Uebersetzung. Den Homer brachte ihr ein Lehrer zu, der ihr auch »das befreite Jerusalem« von Torquato Tasso empfahl, so wie die vortrefflichen Cal deronschen Stücke, die sie denen des Shakespear fast an die Seite setzte.
Unter den Wissenschaften sprachen sie Geschichte, Naturgeschichte und Physik am meisten an, obgleich der Unterricht, der ihr darin ertheilt wurde, höchst mangelhaft war, was sie bald fühlte und so durch eigenes Studium nachhalf. Dies führte unter andern auch zum Lesen alter Chroniken, denen sie bald einen solchen Geschmack abgewann, daß sie alles Andere darüber vergaß; allein diese Lectüre, so nützlich sie ihr auch für das Studium der Geschichte war, hatte doch einen großen Nachtheil für sie, indem sie ihren Styl verdarb. Sie behielt nämlich in ihrem treuen Gedächtnisse alle die veralteten Ausdrücke aus den von ihr gelesenen[227] Chroniken, und wollte sie nun selbst schreiben, so fielen sie ihr wieder ein; sie mußte dann modernere suchen, wodurch ihr Styl eine eigenthümliche Unbeholfenheit bekam, mit der sie lange zu kämpfen hatte.
Das Talent, welches sie für das Zeichnen zeigte, vermochte ihren an Güte unübertrefflichen Stiefvater, sie in eine damals im schönsten Flor stehende Maler-Akademie zu schicken, wo sie den trefflichsten Unterricht empfing und es bald so weit brachte, daß der der Anstalt vorstehende Professor W. meinte, es könne wohl eine gute Malerin aus ihr werden, und sich besonders mit ihr beschäftigte. Er unterrichtete sie nicht nur sehr sorgfältig, sondern gab ihr aus seiner Bibliothek auch Bücher mit, die sie bilden und für die Kunst begeistern konnten; unter diesen befanden sich »Franz Sternbalds Wanderungen« und »die Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders,« die sie beide sehr anzogen.
Kurz, es strömte ihr Bildung und Belehrung von allen Seiten zu, und zwar vermöge des großen Hebels von Allem: des Geldes, das ihr Stiefvater für sie mit vollen Händen ausgab. Auf andere Weise vermochte man leider nichts für sie zu thun,[228] da beide Eltern zwar klug und welterfahren, aber durchaus nicht gebildet waren. Man nahm aber wahr, daß sie mit außerordentlicher Begierde lernte; man hörte von den Lehrern, daß sie Fähigkeiten besitze, und da man des Geldes nicht zu schonen brauchte, wurden bedeutende Summen an ihren Unterricht verwandt, und sie brauchte blos einen Wunsch in Hinsicht desselben zu äußern, um ihn auf der Stelle erfüllt und die besten Lehrer herbeigezogen zu sehen.
Da sie des Französischen schon vollkommen mächtig war, als sie in ihre neuen Verhältnisse trat, konnten die Lehrer sich nicht mehr mit Vocabeln u.s.w. bei ihr aufhalten; die Sprache wurde also blos theoretisch mit ihr durchgenommen und ein Theil der Stunde zum Lesen der Dichter verwandt. Voltaires »Hen riade« machte den Anfang; dann nahm man die Stücke von Racine und Corneille durch; allein seltsam genug, fand sie an allen diesen, damals so gepriesenen und geehrten Dichtern keinen Geschmack; sie verglich sie mit dem von ihr angebeteten Shakspear und sie kamen ihr so ekelhaft gespreizt vor, daß sie sich bald wieder von ihnen abwandte. Indeß hatte auch diese Lectüre einen Nutzen für sie: sie bekam die Sprache so[229] inne, daß sie selbst Versuche darin machen durfte, und zwar poetische; ein Gedicht an eine Rose versetzte ihren Lehrer, einen ehemaligen General-Advocaten, der durch die Revolution nach Deutschland vertrieben worden war, in Ekstase, und er fand nichts daran zu tadeln, als einige orthographische Schnitzer, die er mit wenigen Feder-Zügen verbesserte.
Trotz dem, daß so viel gelernt und selbst geleistet wurde, darf sich Clementine des eigentlichen Fleißes nicht berühmen, auch sah man sie nie so angestrengt und anhaltend arbeiten, wie die arme Marie, die Alles mitmachen mußte und bei ihrem unglücklichen siechen Körper und dem minder guten Gedächtnisse die allerschwersten Kämpfe zu bestehen hatte. Wie oft rief sie mit halb erstauntem, halb betrübtem Tone Clementinen, die das Buch zuschlug oder den letzten Federstrich machte, zu: »Bist Du schon fertig?« Und sie war es, sie konnte sich wieder im Garten, unter den Blumen, im goldenen Sonnenschein ergehen, während die arme Marie noch im trüben, dumpfen Zimmer saß und sich mit ihren Aufgaben quälte. Das seltenste Gedächtniß und eine gute Auffassungsgabe machten Clementinen zum Spiel, was für Andere Mühe und Arbeit war.[230]
Dann kam ihr auch noch die, bis zum reiferen Alter beibehaltene Gewohnheit, früh mit der Sonne aufzustehen, zu statten; selbst im Winter vertrug ihr starker, abgehärteter Körper es, der Kälte Morgens zu trotzen, und sie war selbst dann die Erste im Hause auf. Vermittelst einiger am Abende zuvor zurechtgelegter Holzstücke und eines Feuerzeugs machte sie sich dann selbst Feuer im Ofen an, und hatte bereits einige Stunden in Ruhe und Gemüthlichkeit gearbeitet, wenn die Andern aus den Betten krochen. In diesen Stunden, die ihr im Winter die liebsten des Tages waren, verfaßte sie auch die Unzahl von Gedichten, Trauerspielen u.s.w., die jener Zeit ihr Dasein verdankten, und wovon auch nicht ein Blättchen übrig geblieben ist, weil sie sie einmal alle den Flammen aufopferte, nachdem man diesen sorgfältig bewahrt gehaltenen Schatz entdeckt, und sie damit geneckt hatte.
Das Auffallendste an ihr war gewiß immer die Productivität, die wirklich in's Unglaubliche ging; es wurde ihr Alles Stoff; ein ausgesprochenes Wort, eine wahrgenommene Situation wurden gleich zum Bilde mit fest gezeichneten Umrissen in ihr, und sie ruhte nicht eher, bis sie es in den gehörigen Rahmen gebracht hatte, was[231] mit unglaublicher Schnelle und Leichtigkeit geschah. Dieser Productivität, dieser Regsamkeit des Geistes verdankte sie es späterhin, daß sie in dem unglaublich kurzen Zeitraume von dreizehn Jahren 118 Bände schreiben und zum Druck befördern konnte und doch noch Zeit behielt, zu lesen und sich weiter auszubilden. Auch darf man wohl von ihr behaupten, daß sie immer arbeitete, selbst dann, wenn sie müßig zu gehen schien.
Clementine war noch nicht vierzehn Jahr alt, als sie den Mann kennen lernte, der auf ihr künftiges Schicksal den größten Einfluß haben sollte. Der Arzt des Hauses bat nämlich die überaus gastfreien Eltern Clementinens, einen jungen Mann, seinen Landsmann, bei ihnen einführen zu dürfen, der sich zum Behuf seiner Studien in Hamburg aufhielt und für den er einen guten Umgang in angesehenen und gebildeten Häusern wünschte, um seine Jugend vor den Gefahren zu beschützen, womit der Aufenthalt in einer so großen und verderbten Stadt ihn bedrohte; man kam mit der gewohnten Bereitwilligkeit seinen Wünschen nach, und Friedrich wurde eingeführt.
Er war ein junger, blühender, sehr hübscher Mensch von noch nicht achtzehn Jahren; allein er hatte, trotz seiner vortheilhaften Gestalt, etwas[232] so Linkisches, Unbeholfenes und Schüchternes in seinem Wesen, daß die sich zur Satyre etwas hinneigende und scharf beobachtende Clementine sich nicht wenig über ihn belustigte und Freude daran fand, den armen jungen Mann durch ihren Muthwillen in manche peinliche Verlegenheit zu versetzen, was dann die Geschwister nicht wenig belustigte, so daß auch sie willig ihr Scherflein dazu beitrugen, die Noth des Armen zu vermehren.
Der Zufall wollte indessen, daß Friedrich bei einem jener unaussprechlich langweiligen und geistlosen Gesellschaften, die blos dem Magen zu Ehren gegeben wurden, und die leider nicht selten im Hause waren, Clementinens Tisch-Nachbar wurde. Sie saß, da sie die unglückseligste Langeweile fühlte und die Lächerlichkeiten der anwesenden Basen und Vettern schon längst für ihren Muthwillen ausgebeutet hatte, schweigend und sichtbar verstimmt an der Seite des jungen Mannes, der lange stumm wie sie war, aber endlich doch allen seinen Muth zusammen nahm und die Frage an seine Tisch-Nachbarin wagte:
– »Sind Sie krank, Mademoiselle Clementine? Sie scheinen nicht aufgelegt zu sein?«
– »Ich bin gelangweilt,« versetzte sie, »und wollte, daß diese ewig lange Sitzung ihr Ende[233] erreichte und ich auf mein Zimmer gehen könnte, wo ein gutes Buch mich für das entschädigen würde, was ich hier auszustehen habe.«
– »Sie lesen also gern?«
Clementine sah ihn bei dieser Frage, die ihr seltsam vorkam, verwundert an, und antwortete dann nach einer kleinen Pause:
– »Sehr gern!«
– »So darf ich Ihnen vielleicht auch einmal ein gutes Buch mitbringen?«
– »Wenn Sie die Güte haben wollen, ja!«
– »Vielleicht wäre es aber ein zu ernsthaftes für Sie?«
– »Weshalb meinen Sie das? Ich lese lieber ernsthafte Bücher, als andere.«
– »So? das freut mich!«
Die Unterhaltung hatte hier ein Ende, weil die Tafel endlich aufgehoben wurde.
Schon nach wenigen Tagen kam aber Friedrich wieder und brachte das versprochene Buch. Es war der Novalis.
– »Das kenne ich längst,« sagte Clementine, es ihm zurückgebend, »und es ist sehr schön.«
Der junge Mann hatte mit seiner Wahl brilliren, vielleicht gar Clementinen damit imponiren wollen, und sah sich jetzt in dieser Erwartung getäuscht;[234] allein von diesem Augenblick an gestaltete sich das Verhältniß zwischen den beiden jungen Leuten ganz anders, wie bisher, und sie konnten sich auf die angenehmste Weise mit einander unterhalten. Friedrich, der beabsichtigte, Theologie zu studiren, brachte das nächste Mal Schleiermachers »Monologe« mit und Clementine, für die eine solche Lectüre in dem Augenblick gerade das innigste Bedürfniß war, las sie mit der größten Aufmerksamkeit.
Wie es gewiß Vielen ergeht, die zu denken gewohnt sind, so erging es auch ihr in dieser Periode ihres Lebens: sie war über die religiösen Lehrsätze mit sich in die größte Uneinigkeit und Unklarheit gerathen. Sie erhielt Religions-Unterricht von einem trefflichen, aber auch streng orthodoxen Manne; aber während ihr Herz die sanften Lehren des Christenthums willig in sich aufnahm, lehnte sich ihr Verstand gegen das Dogma auf, und ohne dieses, so sagte ihr Lehrer, gäbe es kein Heil für die Seele.
Der Kampf, der dadurch in ihrem Innern entstand – denn auch sie wollte ja so gern selig werden! – war wahrhaft furchtbar, und sie hatte ihn ganz allein mit sich zu bestehen, sie wagte es nicht einmal, der streng rechtgläubigen und in[235] diesem Glauben so glücklichen Maria ihre Noth zu gestehen, sondern verschloß sie wie eine Sünde, wie einen schimpflichen Schaden an ihrer Seele, streng in sich, und eben dieses brachte sie einem verzweiflungsvollen Zustande nahe. Sie, die nicht glauben konnte, was, wie sie wähnte, und wie man ihr unaufhörlich sagte, sie glauben mußte, um nicht der ewigen Verdammniß anheim zu fallen, verzweifelte so sehr an sich selbst, daß sie nur noch mit Haß und Abscheu auf sich sah und sich gänzlich verloren gab. Wie oft hat sie nicht auf ächt kindische Weise Gott um ihr künftiges Schicksal befragt, indem sie nämlich einen Ball oder ihr zusammengerolltes Taschentuch in einen Baum schleuderte, und sich dabei sagte: bleibt es hangen, so kannst du, trotz deines Unglaubens, durch die ewige Gnade doch noch selig werden; fällt es aber zu Boden, so bist du auf ewig verdammt; man kann sich denken, wie ungenügend dieser Orakel-Spruch ausfiel, denn der Ball fiel zur Erde zurück und das Taschentuch blieb in den Zweigen hangen, weshalb sie denn auch der erstern Art zu fragen bald gänzlich entsagte.
Seltsam genug, trieb es sie gerade in dieser Zeit, die katholische Kirche oft zu besuchen, was sie verstohlen und ohne Vorwissen irgend Jemandes[236] that. Sie konnte dies thun, wenn sie von der Maler-Akademie kam, wo die Einrichtung getroffen war, daß Diejenigen, welche Lust hatten, länger zu arbeiten, sich nicht an die eigentlichen Lehrstunden zu binden brauchten und länger da bleiben konnten; es fiel daher nicht auf, wenn sie eine Stunde oder anderthalb später nach Hause kam, und da der katholische Gottesdienst mit dieser Zeit zu ihrer Freude zusammentraf, besuchte sie ihn fast regelmäßig.
Der Anblick so vieler wahrhaft gläubigen Menschen beruhigte sie fühlbar, indem sie dadurch die Ueberzeugung gewann, daß sie auch wohl noch wieder blind glauben und somit selig durch die ewige Barmherzigkeit werden würde. Zu gleicher Zeit machte der katholische Gottesdienst auf ihre Phantasie den lebhaftesten und angenehmsten Eindruck, und zuletzt kam sie dahin, zu glauben, daß er allein im Stande sein würde, alle ihre Zweifel zu lösen und sie wieder glücklich zu machen, was sie schon lange nicht mehr gewesen war. Wirklich begab sie sich an einem Tage mit dem festen Entschlusse nach dem Hause des katholischen Geistlichen, das sie glücklich ausgeforscht hatte, ihn zu bitten, sie zu unterrichten und in den Schooß der allein selig machenden Kirche aufzunehmen.[237] Als sie aber vor dem Hause anlangte, hielten mädchenhafte Schüchternheit und allerlei Bedenklichkeiten, die in ihr aufstiegen, sie davon ab, in dasselbe zu treten, und mit diesen kämpfend, ging sie wohl eine halbe Stunde lang vor dem Hause auf und ab, bis ein Bekannter ihr begegnete und sie, um sich vor diesem nicht zu verrathen, den Rückweg nach dem eigenen Hause mit ihm antrat. Diese Begegnung hielt sie für den Wink des Himmels, nicht katholisch werden zu sollen, und im Innern war sie wohl froh darüber, da sich immer Etwas in ihr gegen diesen Entschluß gesträubt hatte.
Die verlorene Seelen-Ruhe fand sie endlich durch den biblischen Spruch wieder: »Jeder wird seines Glaubens selig;« so durfte sie also hoffen, es auch durch den ihrigen zu werden, und das hofft sie noch jetzt.
Von alle dem, was in dem Herzen und Geiste ihres Kindes vorging, hatten die sonst so sorgsamen und liebevollen Eltern nicht die entfernteste Ahnung. Man sorgte für den Unterricht, für eine gesittete Aufführung, für eine schöne Haltung des Körpers, für die Beobachtung alles Schicklichen mit der löblichsten Sorgfalt und Treue; allein das Wesentliche, das Innere des Kindes,[238] so Bedeutendes auch in demselben vorging, blieb gänzlich unbeachtet und unüberwacht; auch fehlte es dazu, wie schon gesagt, an geistigen Mitteln.
Die Blässe und Niedergeschlagenheit, die man während dieser für Clementine so verhängnißvollen Zeit an ihr wahrnahm, wurde auf rein körperliche Ursachen zurückgeführt, und als, vermuthlich in Folge der großen Seelen-Leiden, denen sie erlag, ein Nervenfieber zum Ausbruch kam, das ihr Leben auf das Ernstlichste bedrohte, hieß es, dieses habe ihr schon lange in den Gliedern gesteckt, und deshalb sei sie so hinfällig und traurig in der letzten Zeit gewesen.
Von dieser Krankheit wieder hergestellt, erhielt sie die erste Ahnung davon, daß Friedrich sie liebe. Marie, die man, ihrer eigenen Kränklichkeit und der Furcht der Ansteckung wegen, fast mit Gewalt davon hatte zurückhalten müssen, die treue Pflegerin der Schwester während dieser Krankheit zu sein, erzählte ihr nämlich, daß dieser junge Mann nicht nur alle Tage gekommen sei, sich nach dem Befinden Clementinens zu erkundigen, sondern daß er vorzugsweise sie aufgesucht habe, in der Hoffnung, genauere Auskunft von ihr zu erhalten, die er dann mit Aengstlichkeit entgegen genommen habe; ja, als er sie an einem Tage,[239] es war der vierzehnte der Krankheit, in Thränen gefunden, weil die Aerzte an der Rettung Clementinens fast verzweifelt waren, habe er mit ihr vereint geweint und im höchsten Schmerze die Hände gerungen, auch dringend von ihr gefordert, daß sie ihn zu der Sterbenden führe, damit er sie nur noch einmal sähe, was sie aber nicht gewagt habe, da es ihr so streng verboten gewesen wäre, das Krankenzimmer zu betreten.
Diese Erzählung gab Clementinen ernstlich zu denken, und der junge Mann erhielt dadurch eine Wichtigkeit für sie, die er nie zuvor gehabt hatte; diese wurde noch dadurch vermehrt, daß Friedrich sich von jener Zeit an keine Mühe mehr gab, die ihn lange schon in's Geheim verzehrende Leidenschaft für Clementine vor den Blicken der Andern zu verbergen, und es so dieser nicht an Neckereien von Seiten der übrigen Geschwister fehlen konnte.
Friedrich kam jetzt alle Tage; er brachte die besten Bücher mit, er las Clementinen seine Ausarbeitungen vor, und erklärte, als diese bei einer Veranlassung halb im Scherze einmal geäußert hatte: sie würde nie einen Prediger heirathen, daß er umsatteln und Jura studiren wolle.
Aus allem diesen ließ sich die Liebe nicht verkennen, die er für Clementine im Herzen trug,[240] und die ihr lange kein Geheimniß mehr war, obgleich sich Friedrich noch nie gegen sie darüber erklärt hatte.
Liebte sie ihn wieder? – Ich glaube diese Frage, sobald sie auf's Gewissen gethan wird, verneinen zu müssen, und die Folge wird zeigen, daß sie sich über die Art der Theilnahme, die sie ihm weihte, zu ihrem unaussprechlichen Unglück, selbst täuschte, und er, der ganz Gluth, ganz Leidenschaft war, ihr in der Heftigkeit seiner Gefühle weit mehr Mitleid, denn wahre Neigung einflößte. Zu diesem Mitleid gesellte sich späterhin auch noch die Furcht: ja sie fürchtete diesen jungen Mann, dessen nahe an Wahnsinn grenzende Leidenschaft ihn sogar dazu bewog, einen Selbstmord zu versuchen, als er bei einer Gelegenheit einen Andern bevorzugt glaubte und sich so allen Qualen der Eifersucht preis gegeben sah. Er nahm eine starke Dosis Opium; der Hausarzt von Clementinens Eltern, sein Beschützer, wurde von seinen Hausgenossen herbeigerufen, und wandte die zweckmäßigsten Mittel zu seiner Rettung an, nachdem er sein unglückseliges Geheimniß, so wie die Veranlassung desselben, von ihm erpreßt hatte.
Friedrich genas, behielt aber noch lange eine Schwäche und Hinfälligkeit, die nur dazu dienen[241] konnte, ihn in den Augen Clementinens interessanter denn je zu machen, da sie wußte, was die Veranlassung dazu war.
Ihre Eltern, durch den Hausarzt von der Leidenschaft des jungen Mannes unterrichtet, der es für seine Pflicht gehalten hatte, ihnen diese Mittheilung zu machen, weil er es gewesen war, der Friedrich in die Familie eingeführt, würden mit Ernst und Nachdruck auf die Entfernung des letztern gedrungen haben, wenn diese nicht ohnehin schon nahe bevorstehend gewesen wäre, indem Friedrich seine Vorstudien am Gymnasium beendet hatte und zur Universität abgehen sollte. Viel weniger war es der Umstand, daß der junge Mann wenig eigene Mittel besaß und noch einen langen Weg vor sich hatte, ehe er der Geliebten seines Herzens seine Hand anbieten durfte, als die große Leidenschaftlichkeit desselben, die die Eltern zu dem Wunsche bewegte, eine Verbindung zwischen ihm und Clementinen zu hintertreiben. Allein es war schon zu spät und die Würfel waren bereits gefallen.
Die Eltern Clementinens, Rücksicht auf den eigenthümlichen Gang der Bildung und die ungewöhnliche Richtung ihres Geistes nehmend, hatten überdies seltsame Beschlüsse in Hinsicht ihrer gefaßt,[242] und es sollte etwas Besonderes aus ihr werden.
Die Zeitumstände hatten einen sehr gelehrten Mann, einen berühmten Professor der Physiologie, der ein naher Anverwandter der Mutter war, in das Haus geführt, und dieser setzte seine Studien dort fort. Es konnte nicht fehlen, daß die nach Wissen dürstende Clementine sich nicht an ihn anschloß, zumal da sie eine besondere Vorliebe für die von ihm betriebenen Wissenschaften hatte. Ihre Kunstfertigkeit im Zeichnen, besonders die, nach der Natur aufnehmen zu können, und die gleichsam nur zum Scherze von ihr betriebene Künstelei, mit der Krähenfeder und mit Tusche kleine Stücke auf Art des Kupferstichs zu radiren, machte dem gelehrten Manne die junge Cousine interessant, und es dauerte nicht lange, so entwarf sie ihm für seine Hefte durch Hülfe des Mikroskops die artigsten Blätter.
Dabei lernte sie viel, besonders da er aus Dankbarkeit sich herabließ, sie in manchen Dingen zu unterrichten, die Frauen sonst nicht lernen, und so wurde ihre Vorliebe für seine schöne Wissenschaft fast zur Leidenschaft und sie brachte jeden freien Augenblick im Zimmer des Onkels zu.
Sich darauf stützend, wie überhaupt auf die[243] Lernbegierde und Lernfähigkeit Clementinens, kam der Stiefvater zuerst auf den Einfall, diese solle studiren, und zwar Medicin, vorzüglich aber Accouchement, um für die Frauen eine neue Bahn zu brechen und den Männern einen Theil der medicinischen Praxis zu entreißen, der, wie er glaubte, sich schicklicher in den Händen von Frauen befinden würde. Es fehlte bei diesem abentheuerlichen Plane nicht an den zur Ausführung gehörigen Geldmitteln, noch fand man bei Clementinen selbst ein Hinderniß, und so wurde er, durch Anwerbung der erforderlichen Lehrer, sogleich in's Werk gesetzt. Clementinens Unterricht wurde jetzt von dem der andern Kinder getrennt und erhielt eine streng wissenschaftliche Richtung.
Da, als Alles recht schön im Gange war, erwachte plötzlich, ihr selbst unbewußt wie und auf welche Veranlassung, ein unüberwindlicher Widerwille gegen die neue Bestimmung in ihr, und sie erklärte den erstaunten Eltern mit der ihr eigenthümlichen Offenheit und Festigkeit, sie wolle die neu betretene Bahn nicht weiter fortsetzen, weil sie auf ihr dahin gelangen werde, ein Zwitterwesen, das nicht Mann noch Weib sei, zu werden; und dabei blieb es, trotz aller Gegenvorstellungen.
In die Zeit, wo Clementine noch mit den Eltern[244] über ihre künftige Bestimmung völlig einverstanden war, fiel, als diesen unwillkommene Episode, Friedrichs Liebe, und sie wurde mit Recht als störend betrachtet, obgleich sie es in der That nicht war, da Clementine die Flammen nicht theilte, die den jungen Mann für sie verzehrten.
Dieser ging endlich zur Universität ab, ohne daß es ihm vorher vergönnt gewesen wäre, sich gegen Clementine zu erklären; denn von dem Selbstmords-Versuche Friedrichs an bewachte man diese mit großer Sorgfalt und ließ die jungen Leute keinen Augenblick allein.
Kaum war jedoch Friedrich an seinem neuen Bestimmungs-Orte, auf der Universität H., angelangt, so schrieb er an Clementine, und sein Brief athmete solche Gluth, daß diese davor erschrack: er forderte ihre Gegenliebe oder den Tod –! Sie wußte, daß er Wort halten würde; seine Liebe, seine Verzweiflung rührten sie; die Furcht, zur Mörderin an einem Manne zu werden, der ihr die Erstlinge seines Herzens weihte, Alles, Alles trug dazu bei, sie zu verwirren, und sich über sich selbst täuschen zu lassen. So log sie sich in eine Liebe hinein, die nicht in ihrem Herzen war – so wurde sie die Verlobte Friedrichs, und zwar ohne Wissen der Eltern, die selbst von diesem Briefwechsel[245] keine Ahnung hatten, da er durch die Hände eines Dritten ging. Nur Marie war, und zwar unter Angst und Zittern, die Vertraute dieses Verhältnisses.
Der Zustand im elterlichen Hause veränderte sich in dieser Zeit auf eine traurige Weise: ein Schiff mit reicher Ladung, das unversichert war, wurde von den Wellen verschlungen; andere Unfälle, denen der Kaufmann so leicht unterworfen ist, kamen hinzu, und B. mußte sein Vermögen oder vielmehr den Rest desselben seinen Gläubigern cediren, ohne jedoch bankerott zu machen. Die Sorge, die Noth traten jetzt plötzlich in ein Haus, in dem bisher der Ueberfluß geherrscht hatte; man sah mit trübem Auge in die Zukunft; die kriegerischen Zeiten ließen die Hoffnung auf baldige Wiederherstellung der frühern Verhältnisse nicht zu, und Alles erschien im trübsten Lichte.
Clementine verlor bei allem Diesen die Fassung nicht; ihr Herz hing wenig oder gar nicht am Wohlleben und die Genüsse, welche der bloße Reichthum gewährt, waren nie welche für sie gewesen; übrigens hatte sie ja auch entbehren gelernt. Rührend für sie war überdies auch noch die Freude, ja, der Jubel, mit dem Friedrich die Nachricht von dem Verluste des Vermögens der Familie[246] aufnahm, und er drang jetzt mit Ernst darauf, daß den Eltern ihre Verbindung erklärt werde, jetzt, wo man nicht mehr sagen könne, er habe sich aus niedern Rücksichten um die Hand eines reichen, angesehenen Mädchens beworben, und als Clementine, trotz seiner Aufforderung, mit der von ihm gewünschten Erklärung zögerte, schrieb er selbst an die Eltern derselben und verlangte ihre Einwilligung zu dem gewünschten Bunde.
Dieser Schritt, in einem solchen Zeitpunkte, gewann ihm Achtung und Zuneigung, gewann ihm, wenn auch immer noch nicht die Liebe, doch die ungemessene Dankbarkeit Clementinens.
Diese, die als das Unheil im Hause ausbrach, etwas über fünfzehn Jahr alt war, war zu stolz, einem Manne noch ferner zur Last sein zu wollen, der jetzt mit der eigenen Existenz zu kämpfen hatte und den sie nicht einmal mit dem Vater-Namen hatte begrüßen können. Für ihre einzige noch übrig gebliebene rechte Schwester, Johanna, hatte der Tod gesorgt, der sie in der Blüthe der Jugend dahingerafft, für sich selbst sorgte Clementine, indem sie, ohne die Eltern zuvor davon zu benachrichtigen, sich um die Stelle als Erzieherin in einem sehr reichen Hause bewarb, wo man sie, trotz ihrer großen Jugend, mit Vertrauen aufnahm.[247] Erst als Alles abgeschlossen und verabredet war, zeigte sie den bestürzten Eltern an, daß sie sie verlassen und von nun an für sich selbst sorgen würde, und diesen Entschluß führte sie, trotz aller Gegenrede, mit Festigkeit aus.
Es wurde in ihren neuen Verhältnissen viel von ihr gefordert, und sie konnte Manches leisten; allein was sie leisten konnte, war ihr noch immer nicht genug, und so bemühte sie sich in den von ihren Geschäften freien Stunden, ja selbst während der Nacht, so unablässig um Kenntnisse, daß ihre sonst so starke Gesundheit darunter zu leiden anfing und der Arzt des Hauses, der zufällig Rahels geistreicher Freund, der Doctor D. Veit war, der auch der ihrige ward, mit Nachdruck darauf drang, daß sie ihren Eifer mäßigen und ihre Studien einschränken sollte; zu gleicher Zeit verordnete er ihr das strengste Regime, verbot ihr gänzlich den Tanz, den sie sehr liebte, und das Tragen eines Schnürleibchens, was überflüssig war, da sie nie eins hatte tragen wollen, zum großen Kummer ihrer Mutter. Ein so strenges Verhalten war um so nothwendiger, da sie außerordentlich wuchs und überdies schon mehre Male heftiges Blutspeien gehabt hatte, was auf eine Anlage zur Schwindsucht hinzudeuten schien; vor[248] dieser blieb sie wohl auch nur durch das strenge Verhalten nach den Vorschriften ihres ärztlichen Freundes, so wie durch ihren überaus glücklichen Wuchs bewahrt; sie war, obschon hoch und schlank gewachsen, doch breit von Brust und stark von Muskeln.
In diesen neuen Verhältnissen war es, wo Clementine eine Bekanntschaft machte, von der sie nicht nur den größten Gewinn für ihr Herz, sondern auch für den fernern Gang ihrer Bildung ziehen sollte.
In einem Hause, das dem nahe verwandt war, in dem sie die Stelle einer Erzieherin zweier hoffnungsvollen Töchter bekleidete, lebte Rosa Maria, die Schwester Varnhagens von Ense, gleichfalls als Erzieherin. In einem dritten Hause, dem der Großeltern der von Beiden erzogenen Kinder, kam Freitags Abends die ganze Familie zusammen und beide Erzieherinnen fanden sich daselbst mit ein. Schon bevor Clementine Rosa Maria sah, hatte man ihr viel von dieser erzählt und sie auf den überlegenen Geist derselben aufmerksam gemacht, den man zwar anerkannte, von dem man sich aber doch gedrückt fühlte, namentlich in dem Hause, worin Clementine lebte. Sie war daher sehr begierig, die neue Bekanntschaft zu machen und empfing gleich den angenehmsten[249] Eindruck von deren anmuthigen Persönlichkeit, konnte aber doch eine geheime Furcht vor der Ueberlegenheit dieser Fremden nicht in sich unterdrücken und wagte so nicht, ihr nahe zu treten, obgleich sie innerlich vor Begierde brannte, es zu thun.
Ein Zufall brachte beide Frauen näher, und es wurde ein Bund geschlossen, der Beiden nicht nur viele schöne, erhebende Stunden geben, sondern für das ganze Leben Dauer gewinnen sollte.
In der Familie, worin Clementine lebte, und wo man ihr übrigens die ihr zukommende Achtung nicht versagte, ja, wo man sie sogar liebte, hielt man sie für poetisch überspannt und für unklar in ihren Ansichten über Leben und Welt, kurz, von dem Gewöhnlichen im Handeln und in der Gesinnung abweichend, und darin mochte man sich nicht irren. Nun werden ächt prosaische und gewöhnliche Menschen durch solche allemal genirt, die das Leben aus einem höhern Gesichtspunkte betrachten und ihren Handlungen einen, aus der Poesie ihres Gemüths hervorgehenden ungewöhnlichen Anstrich geben, und das war auch hier der Fall. Man erlaubte sich, wiewohl mit großer Mäßigung und mit dem Anscheine wohlwollender Theilnahme, kleine Spöttereien über die poetischere Richtung,[250] die Clementinens Geist genommen hatte, und prophezeihte ihr, »auch sie werde vom Leben mit der Nase noch recht auf die Prosa gestoßen werden,« wenn sich erst das erste Feuer ihrer jugendlichen Begeisterung gelegt haben und sie den wahren, reellen Werth der Dinge erkennen lernen würde, eine Prophezeihung, die nicht in Erfüllung gegangen ist, da Clementine noch zur Stunde viele Dinge aus einem ganz andern Gesichtspunkt betrachtet, als viele Andere, und über den Werth derselben ganz anders denkt.
In Folge einer kleinen Neckerei der oben angeführten Art, die sich Madame O., die Mutter der von Clementinen erzogenen Kinder, über Tische gegen diese erlaubte, erhob sich Rosa Maria und vertheidigte mit eben so viel Geschick als Lebhaftigkeit das arme, tief beschämte und vor Blödigkeit verstummte Kind, das es jetzt zuerst wagte, einen dankbaren Blick auf ihre freundliche Vertheidigerin zu werfen. Dadurch kam man sich näher, und da man sich oft sah, entstand eine Freundschaft, trotz der Verschiedenheit des Alters zwischen Beiden – Rosa Maria war um neun Jahre älter, als Clementine – die von Seiten der letztern fast den Charakter der Leidenschaftlichkeit annahm, ohne jedoch der Freundschaft, die sie[251] für ein sanftes, himmlisch-gutes Wesen, Caroline, schon seit Jahren hegte, Eintrag zu thun.
Mit dem ihr eigenthümlichen schnellen und sichern Blick übersah Rosa Maria, wo es ihrer neuen Freundin fehlte, und suchte dem durch die sanfte Erziehung der Liebe, die sie ihr angedeihen ließ, abzuhelfen. Sie war ruhig und besonnen weit über ihre Jahre hinaus, während es in Clementinen stürmte und gährte; da mußte denn oft ein Dämpfer aufgesetzt werden, damit der brausende Most das Gefäß nicht gar sprengte; denn in Clementinen waren Sturm und Drang so heftig, daß sie Gefahr drohten, selbst für ihr Leben.
Nie hätte der Himmel ihr also eine zugleich würdigere und passendere Freundin geben können, als die von Herzen und Gemüth warme, zugleich aber auch so ernste und besonnene Rosa Maria, und wie oft hat sie ihm unter Thränen für das Geschenk einer solchen Freundin gedankt!
Durch Rosa Maria wurde Clementine auch mit deren Bruder, Karl August Varnhagen, so wie mit manchen andern bedeutenden Jünglingen bekannt, die jetzt zu trefflichen und berühmten Männern herangereift sind; darunter sind besonders Justinus Kerner, Chamisso und D. Assing zu nennen, welcher letztere der Gatte[252] Rosa Maria's geworden und noch jetzt Clementinen ein über Alles theurer Freund ist.
Justinus Kerner war damals ein langer, schmaler, bleicher Jüngling, der ein großes Leid mit sich herum trug und schon dadurch Clementinen hätte interessant werden müssen, wenn sie sich nicht auch von seinem Geiste und Talente, von seinem sanften, liebevollen Wesen auf's Lebhafteste angezogen gefühlt hätte. Das Verhältniß zwischen ihm und den Freundinnen wurde so innig, daß sie sich Du und Schwester und Bruder nannten, ein lieber Gebrauch, der zwischen ihnen noch nicht abgekommen ist.
Varnhagen hatte zu jener Zeit einen kleinen Anflug von Satyre, eine Art von Muthwillen, die ihn einigermaßen gefürchtet machten; er war sich bereits seiner großen geistigen Ueberlegenheit bewußt, und übte sie gern aus; das merkwürdige, von ihm und gleichgesinnten Freunden herausgegebene Buch: »Karls Versuche und Hindernisse,« legt von der damaligen Stimmung und Richtung seines Geistes ein genügendes Zeugniß ab. Späterhin hat sich Alles in ihm in den edelsten Ernst umgewandelt.
Adalbert von Chamisso war eine schöne, ächt ritterliche Erscheinung, die eben sowohl imponirte,[253] als durch das sanfteste, edelste und liebevollste Gemüth zur Liebe zwang. Trotz seines bedeutenden Geistes hatte er einen wahrhaften Kindessinn, eine Seelen-Güte und Seelen-Unschuld, wie man sie wohl selten mehr findet; auch liebte man ihn schwärmerisch, was man jetzt wohl gestehen darf, da das Haar bereits an zu grauen fängt.
Diese bedeutenden Männer zogen natürlich andere, die ihnen ähnlich waren, in den Kreis, und so bildete sich nach und nach ein Dichter-Verein, der sich vorzüglich an die beiden Schlegel anschloß, und den man späterhin wohl die romantische Schule nannte. Alle diese Jünglinge, Männer und Jungfrauen waren productiv und es entstanden die artigsten Sachen, die bereits auf künftige große Bedeutendheit schließen ließen, und zu Hoffnungen berechtigten, die in Erfüllung gegangen sind.
Da Alle einen gemeinschaftlichen Kampf gegen die damals in der schrecklichsten Prosa untergegangene Welt zu bestehen hatten, schloß man sich fest an einander an und Einer stand immer für Alle, Alle für Einen; man liebte, man hob, man trug, man beförderte einander; man ließ auch nicht das kleinste poetische Blümchen unbeachtet am Wege stehen[254] und flocht Alles in den schönen, farbigen Kranz, den man zu winden bemüht war, um die abgestandene Prosa der damaligen Zeit damit zu verdecken.
So entstanden Sammlungen wie der »poetische Almanach« und der »Dichterwald,« in denen die Gleichstrebenden und Gleichgesinnten freundlich zusammen traten, und wo man selbst dem kaum sich zeigenden Talente willig ein Plätzchen einräumte, um ihm Muth zu verleihen, sich frei zu entfalten. In beiden erschienen auch kleine, in der Form noch sehr mangelhafte Gedichte von Clementinen, die ihr, wie die, welche durch die Freunde in das Tübinger »Morgenblatt« befördert wurden, eine unendliche, und eine weit größere Freude gewährten, als alle die zahllosen Bände zusammen, die sie nachher, von einer fast quälenden Productivität getrieben, schrieb und ins Publicum schickte.
Man kann sich vorstellen, welchen Einfluß das nähere oder entferntere Zusammenleben mit Menschen von solcher Bedeutsamkeit auf Clementinens Bildung haben mußte, und wie begierig sie Alles ergriff, was ihr von diesen dargeboten wurde. Bis dahin hatte sie gleichsam nach geistiger Nahrung schmachten und sich allein auf das beschränken[255] müssen, was ihr entweder durch den Unterricht zufloß oder ihr aus dem Innern quoll, und dieses letztere konnte sie nicht einmal mittheilen, da ihre Umgebung sie nicht darin verstanden haben würde. Jetzt strömte plötzlich die größte Fülle der erhebendsten Genüsse auf sie ein, und sie, die bisher immer hatte unter sich blicken müssen, mußte hoch empor schauen und aufwärts streben, um nicht zurück zu bleiben.
Dieses unaussprechliche Glück, das größte, welches ihr im Leben zu Theil geworden ist, verdankte sie ihrer Bekanntschaft mit Rosa Maria, und wird es dieser bis zum letzten Hauche ihres Lebens danken. Doch nicht allein der Geist fand seine volle Befriedigung bei derselben, sondern auch ihr nach Liebe schmachtendes Herz, das die Freundin, wenn sie auch seine unbändige Gluth nicht zu theilen vermochte, doch zu würdigen verstand, und das sie wieder liebte mit jener sanften, geläuterten Liebe, die ihr eigenthümlich ist. Freilich fehlte es auch dieser Freundschaft nicht an Stürmen, die durch Clementinens Heftigkeit heraufbeschworen, aber von Rosa Mariens Besonnenheit immer wieder beschwichtigt wurden, welche letztere es nie verkannte, daß sie aus einer an sich liebenswerthen Quelle, aus einem zu mächtigen Liebesbedürfnisse,[256] ihren Ursprung nahmen, und so nur bemüht war, den gewaltig daher brausenden Strom richtig zu lenken.
Der immer mehr und mehr sich verschlimmernde Gesundheits-Zustand Clementinens und einige andere Gründe bewogen den dieser sehr befreundeten und sich für sie interessirenden Doctor Veit zu dem Ausspruche: daß sie ihre jetzigen Verhältnisse verlassen und vor allen Dingen in ihrem elterlichen Hause der Ruhe pflegen müsse, da theils die sehr leidende Brust durch den zu gebenden Unterricht, theils durch das geräuschvolle und glänzende Leben in den Kreisen, in denen sie sich jetzt bewegte, allzusehr angegriffen würde, und obgleich man sie nur sehr ungern scheiden sah und sie selbst nur ungern von den ihr überaus theuer gewordenen Kindern schied, befolgte sie diese Vorschrift ihres ärztlichen Freundes.
Einige Zeit der vollkommensten Ruhe, die nur durch die nicht von ihr erwiedert werden könnende Neigung eines jungen Künstlers in Etwas getrübt wurde, reichte hin, ihre Gesundheit wieder zu heben, und so sah sie sich schon bald wieder im Stande, eine andere Stelle anzutreten, die ihr in einem Provinzial-Städtchen angetragen wurde. Hier fühlte sie sich aber nicht glücklich, obgleich[257] die Verhältnisse im Hause angenehm waren und man sie mit der größten Auszeichnung behandelte: das geistige Leben stand in diesem Städtchen unter Null, und sie war in dieser Hinsicht verwöhnt worden. Eine andere Stelle bei gebildeten und ihr sehr gewogenen Verwandten wurde ihr angetragen und sie nahm sie an.
Ihr neuer Aufenthalts-Ort war reizend belegen, die Verhältnisse im Hause die angenehmsten; das Leben in der Stadt bot Abwechselungen und bald auch die schönsten geistigen Genüsse durch eine bedeutende Bekanntschaft dar, die sie machte.
Hier aber war es auch, wo sie, noch so jung und wieder zum vollkommenen Genusse ihrer Gesundheit gelangt, in einige Bekanntschaften gerieth, die nicht gut auf sie einwirkten, indem sie die ihr sonst unbekannte Vergnügungssucht in ihr erweckten und machten, daß sie sogar der Eitelkeit Raum gab. Sie fing an, sich mehr als sonst zu putzen; sie hörte es gern, wenn man ihr über ihr Aeußeres Artigkeiten sagte; sie machte Gesellschaften, Bälle und kleine Landparthien mit und ergötzte sich ungemein an dem schlagenden, oft aber auch verletzenden Witz einer jungen, sehr vornehmen Freundin, die sie fast mit ihrer Frivolität angesteckt hätte, weil ihr das geistreiche,[258] belebte Wesen über die Maßen und so sehr gefiel, daß sie die Fehler derselben übersah. Die edlern Beschäftigungen wurden fast gänzlich an die Seite gesetzt und dem Vergnügen zu viel Raum gegeben; kurz, Clementine war auf dem besten Wege, ihrer leichtfertigen, aber durchaus nicht unsittlichen, Umgebung ähnlich zu werden.
Davon errettete sie ein Besuch Rosa Mariens, die mit schnellem Blick das Unheil übersah und ihr die ernstesten Vorstellungen machte, so wie eine neue Bekanntschaft, die sie wieder hob und in die gewohnten Kreise zurück führte. Indeß blieb die Erinnerung an diese jugendlich-heitern Tage, da sie unverletzt aus denselben hervorging, für sie stets eine angenehme, und sie gehörten auch wirklich mit zu ihrem Leben, indem sie ihr manche Zustände klar machten, die ihr sonst unenthüllt geblieben wären.
Die Befehle des Verlobten, der von der Universität zurückgekehrt war und sich häuslich einzurichten beabsichtigte, riefen Clementine nach ihrer zweiten Vaterstadt zurück. Eine trübe Ahnung sagte ihr, daß dort kein Glück ihrer waret und sie ging in Erfüllung. Der ernste Kampf mit dem Leben begann hier für sie, und bald darauf auch der mächtigere mit sich selbst und[259] mit der einzigen wahren Liebe, die ihr Herz empfunden hat, und der sie, als Verlobte eines andern Mannes, nicht Raum geben durfte, obgleich die gleiche Flamme Beider Herzen entzündet hatte.
An diesem Unglück ihrer Jugend – denn wie dürfte man es anders nennen? – ging die Ruhe ihres Herzens und die Zufriedenheit mit sich selbst unter; an ihm scheiterte auch das Glück ihrer Ehe; denn Der, dem sie sich theils aus Furcht vor seinem heftigen Charakter und seiner wilden Leidenschaftlichkeit, theils aus einem schlechtverstandenen Pflichtgefühl zu eigen gab, fühlte immer, daß er ihr Herz nicht ausfülle, nicht so von ihr geliebt werde, wie er sie liebte; er fühlte dies, obgleich weder Er, noch sonst irgend Jemand, außer dem wirklichen Gegenstande ihrer Liebe, diese ahnete, selbst nicht einmal die vertrautesten Freundinnen. Clementine besaß Kraft und Selbstbeherrschung genug, ihr Leid still in sich zu verschließen und es ungeklagt durch das Leben zu tragen.
Was Clementinens Gatte in Folge des ihn zerreißenden Gefühls des Nichtgeliebtseins sich auch späterhin gegen diese zu Schulden kommen ließ; in welche Verirrungen er auch versank, sie[260] hat kein Recht, ihn anzuklagen und hat es, so schwer er sie auch verletzte, im Gefühl ihres unfreiwilligen Unrechts gegen ihn, nie gethan. Alles war Schicksal, und mußte so ruhig und mit Ergebung hingenommen werden.
Ein früher Tod trennte endlich das Band einer sehr unglücklichen Ehe, in der es Clementinen oft schwer wurde, die äußere Würde zu behaupten; die innere ist, trotz allen Stürmen, nie in Gefahr gerathen.
Seit ihrem fünfzehnten Jahre darauf hingewiesen, durch ihre Kenntnisse und Fähigkeiten für ihre eigene Existenz, später sogar für die ihrer ganzen Familie, zu sorgen, ist die ihr angeborene Thätigkeit ihr sehr zu statten gekommen, um diese, sonst für eine Frau nicht eben leichte, Aufgabe zu losen.
In einem reizenden Hause und schönen Garten lebend, dessen sorgsamste Pflegerin sie ist, und von dem Geräusche der Welt gänzlich zurückgezogen, fließen ihre Tage jetzt still und unter den abwechselndsten Beschäftigungen dahin. Zwei Söhne, die ihr von dreien blieben, sind fast erwachsen und gehen bereits ihrer Bestimmung entgegen. In ihren Bedürfnissen so einfach als möglich, in ihrem Hauswesen geregelt und durch[261] ihre Thätigkeit bürgerlich fest gestellt, gehen ihr die Jahre unglaublich schnell dahin. Sie sieht nur wenige auserwählte Freunde bei sich, verschließt aber ihr Haus und ihr Herz der aufstrebenden Jugend nicht, die sich gern um sie versammelt und gern bei ihr ist, weil sie sich selbst da von ihr verstanden weiß, wo Andere sie nicht verstehen würden.
Ihre Freundinnen hat sie mit in's reifere Alter hinüber genommen und verlebt schöne Stunden der Erinnerung mit ihnen.
In vielen Dingen weicht sie von dem Gewohnten ab und weiß sich darin ihre volle Freiheit und Unabhängigkeit zu bewahren; zu der kleinen falschen Münze der Convenienz, womit man sich im gewöhnlichen Leben so oft bezahlt, hat sie sich im geselligen Verkehr nie bequemen können, weshalb sie sehr oft anstößt. Im Ausgehen ist sie bis zur Unart träge und eine nothwendig zu machende Visite kann sie Wochen vorher ängstigen, was ihr manchen gerechten Vorwurf von den liebevollen Freunden zuzieht, die ihre Gegenwart wünschen. Ihr Haus, ihr Garten, ihre Blumen, Vögel und Bücher sind ihre Welt; gute Bücher ihr auch die liebste Gesellschaft. Im gewissen Sinne ist sie eine Epikuräerin:[262] Wohlgerüche, besonders von schönen Blumen, gehören mit zu ihrer Existenz, und sie zieht daher eine Unzahl der letztern, so im Sommer, als im Winter. Ueberhaupt muß ihre Umgebung so geordnet und anmuthig als möglich sein; ein auf dem Sopha verkehrt liegendes Kissen, eine offenstehende Schrank-Thür oder eine halbgeöffnete Commode würden ihr die Fähigkeit rauben, sich geistig zu beschäftigen; das ist zwar kleinlich, aber ihr so eigenthümlich, wie das Athmen zum Leben.
Im Sommer früh mit der Sonne auf, und sich gleich beschäftigend, kann sie unglaublich viel thun und bewegt sich auf die mannigfachste Weise; selbst anhaltende körperliche Arbeiten sind ihr Bedürfniß und zugleich Erholung. Es trifft sich oft, daß sie Besuchende sie mit dem Grabscheit in der Hand rüstig in ihrem Garten arbeitend antreffen, und noch vor einiger Zeit ereignete sich der komische Vorfall, daß eine reisende Schwester in Apollo, die, wie dies gewöhnlich der Fall ist, das Handwerk bei ihr begrüßte, sie beim Holzsägen antraf und, in ihr ein untergeordnetes, dienendes Subject vermuthend, sie nach der Frau vom Hause befragte.
– »Das bin ich selbst,« sagte Clementine[263] heiter, und die Säge hinhängend, die Handschuhe abstreifend, womit sie, auf ihre einst viel bewunderten Hände noch immer etwas eitel, stets arbeitet, führte sie die Erstaunte in ihr Wohnzimmer. In allen kleinen Nöthen des Hauses wendet man sich an sie, die mit mancherlei Geräthschaften umzugehen weiß und sogar die Uhren in Ordnung hält, mit deren Mechanismus sie sich einigermaßen vertraut gemacht hat.
Unter so abwechselnder und steter Beschäftigung ist sie gesund geworden und kräftig geblieben.
Obgleich sie eine so große Menge von Romanen und Erzählungen, wie keine andere Frau, geschrieben hat, ist ihr doch jede Art von Sentimentalität verhaßt und die sogenannte Schönrednerei ihr in tiefster Seele zuwider.
Mit dem Gange der neuern Literatur ist sie vertraut geblieben und dieser mit Freude nach allen Richtungen hin gefolgt. Sie erwartet große Resultate von den neuern Bestrebungen, und ist ganz damit einverstanden, daß auch ihr kleines Kohlgärtchen von dem gewaltig daherbrausenden Strome mit fortgerissen werde.[264]
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