In der Kirche.

[55] Auch einem minder scharfen Beobachter muß es auffallen, mit welchem geteilten Interesse die meisten dem Gottesdienste beiwohnen. Sie lassen die Augen frei umherschweifen und sehen und hören alles genauer, wie das Wort Gottes.

Durch das Gebahren dieser Nebenbeschäftigten werden häufig auch diejenigen zerstreut, welche das Gotteshaus in ernster Absicht betraten, und das ist vielleicht das Schlimmste dabei.

Der feingebildete Mensch tilge alles Störende an sich und befleißige sich jener bescheidener Demut, welche allein dem Christen an dieser Stelle ziemt.

Die Kleidung sei sorgfältig, doch ohne Prunk.

Zuspätkommen ist in der Kirche sehr vom Übel. Wem es wirklich nicht möglich ist, bei Beginn der Andacht zu kommen, der stelle sich wenigstens vor der Predigt ein und störe dieselbe nicht durch sein plötzliches Erscheinen. Größere Kirchen werden beim Anfange der Rede geschlossen. Nur eine kleine Seitenthür bleibt offen, und an dieser steht der Küster und schärft es dem Nachzügler ein »ja recht leise« zu machen. Wie beschämend! Als wenn es sich nicht von selbst verstände, so geräuschlos wie möglich aufzutreten und still den nächsten Platz einzunehmen!

Bemerkt man beim Eintritte Bekannte, so grüßt man sie durch ein leichtes Neigen des Hauptes mit ernstem Anstande. Große Begrüßungsscenen[55] in der Kirche, womöglich mit Händedruck und Kuß, sind gar nicht nach unserem Geschmacke. Uns erscheint es sogar am angemessensten, sich beim Durchschreiten der Kirche nicht nach rechts und links umzuschauen, sondern ruhig vor sich hinzublicken. Auf diese Weise kommt man gar nicht erst in den Fall, jemanden grüßen zu müssen. Beim Eintritte in die Bank, welche man mit Bekannten oder Verwandten zusammen inne hat, wird ein Gruß allerdings nicht zu umgehen sein, doch vereinfache man denselben thunlichst.

Während der Andacht eine Unterhaltung mit seinen Nachbarn anzuknüpfen, ist sehr unschicklich, sogar vor Beginn derselben ist es nicht angängig. Jeder verharre in ernster Sammlung auf seinem Platze, lese eifrig im Gesang- oder Gebetbuche und vermeide alles, was andere stören und ihnen die Überzeugung beibringen könnte, die Erbauung und innere Einkehr, welche der Kirchenbesuch erheischt, seien ihm recht nebensächlich.

Beginnt das Lied, so singe man mit; jeder nach Können und Verstehen, schlecht und recht, eine hervorragende Kunstleistung wird nicht verlangt oder er wartet. Ist man aber durchaus nicht aufgelegt zum Singen oder nicht imstande, es zu thun, so folge man wenigstens andächtig mit den Augen dem gedruckten Liede und lausche dem Gesange der Gemeinde.

Während der Rede verhalte man sich vollständig laut- und bewegungslos. Die Kirche zu verlassen, ehe die Predigt zuende ist, wäre durchaus unpassend. Jeder bleibe bis nach dem Segen, und ist es dringend nötig, vor Schluß des Gottesdienstes fortzugehen, so geschehe es frühestens im letzten Liedverse.

Da die Gebräuche während der Andacht nicht überall dieselben sind, sondern oft stark von einander abweichen, so hat man an fremden Orte aufmerksam achtzugeben, was die anderen thun, um ja keine Störungen zu veranlassen. Besonders leicht kann dergleichen vorkommen, sobald man an dem Gottesdienste anderer Religionen teilnimmt. Auch hier thut man am besten, sich genau au das zu halten, was man sieht und es mitzumachen.

Opferspenden werden zuweilen ein Stein des Anstoßes für Feingefühl und Takt. Wie häufig bemerkt man dabei ein unwürdiges Prahlen, welches weder dem Orte noch dem Geiste des Christentumes entspricht. Jeder gebe nach seinem besten Können, ohne auf die Anerkennung der lieben Nächsten zu rechnen, einzig in dem Bestreben, mitzuteilen und zu helfen, wo es notthut.

In der katholischen Kirche geschieht es zuweilen, daß junge Damen mit dem Einsammeln der Kollekten betraut werden. Das betrachtet man als ein Ehrenamt, welches unter keinen Umständen[56] abgelehnt werden darf. Die Betreffende sei bei dieser Gelegenheit dunkel und einfach gekleidet und gehe mit ruhigem Ernste von Reihe zu Reihe, von rechts nach links. Einen Dank für die Gaben auszusprechen ist unstatthaft, höchstens darf derselbe durch ein Kopfneigen ausgedrückt werden.

Reisende, welche eine Kirche der Sehenswürdigkeit wegen besuchen, sollten es so einrichten, dieses nicht während des Gottesdienstes zu thun. Läßt es sich jedoch nicht anders machen, so mögen sie wenigstens die Rücksicht üben, sich lautlos zu bewegen und keinerlei Störung hervorzubringen. Findet in einer der zahlreichen Seitenkapellen eines großen Domes gerade eine Andacht statt, so ist es besser, hier nicht gewesen zu sein, als den Andächtigen ein Ärgernis zu geben.

Sehr wesentlich für die Schar der Beter ist es, daß die Kirche gut gelüstet und im Winter angenehm durchwärmt ist. Dumpfe, verdorbene Luft beeinträchtigt die Andacht vieler. Sie verhindert eine rechte Sammlung und ist häufig Anlaß zu sehr unangenehmen Störungen, weil zart angelegte Personen dadurch Ohnmachtsanwandlungen bekommen.

Das Herumgehen des Klingbeutels, wie es noch an manchen Orten üblich, ist wenig fördernd für Aufmerksamkeit und Andacht. Schon die dadurch bedingte allgemeine Bewegung ist unfeierlich, und das Klappern mit Geld, das Geräusch der Schritte des Einsammelnden, wie das Tönen des kleinen Glöckchens vollenden die Profanation des Gotteshauses. Wir wären dafür, lieber allmonatlich eine Hauskollekte zu veranstalten und den fatalen Samtsack in den Ruhestand zu versetzen.

Quelle:
Schramm, Hermine: Das richtige Benehmen. Berlin 201919, S. 55-57.
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