Weihnachten.

[98] Es wurde nun bald Weihnachten. Am 24. Dezember hatten wir Abendgottesdienst. Am Mittag erhielten wir unsere bestellten Weihnachtsviktualien, die wir am letzten Sonntag bestellt. Wir wurden namenweise aufgerufen und jeder erhielt seine bestellte Ware. Einen Weihnachtskarpfen (Salzhering) und Priem hatte ich mir bestellt und mittags am Heiligabend erhalten. Die Wurst oder was an 30 Pfennig wert war, das Geschenk des Direktors, bekamen wir mit. Die Kirche war mit zwei großen Tannen geschmückt, welche mit bunten Papierstreifen behängt waren und durch brennende Kerzen magisch den Raum beleuchteten. Der Anstaltsgeistliche predigte: »Ehre sei Gott in der Höhe und den Menschen ein Wohlgefallen.« Auch für uns sei heute der Heiland geboren in Bethlehem, der Sohn Gottes. Auch wir hätten ein Recht, ein Anteil daran, uns zu freuen.

Ein jedes Wort war für mich wie Spott und Satire.

Ja, heute, an diesem Festtag der Liebe, hatte ein kleiner Teil der Menschen die Mittel, wie im Paradies zu leben – die Anderen hatten kaum das liebe Brot. – Dies alles sollte göttliche Weltordnung sein.

Der Herr Direktor saß in der Nähe, wo der Pfarrer stand, von meinem Platz konnte ich ihm in die Augen sehen. Manchen tückischen Blick sandte ich ihm zu.

Die Predigt widerte mich an und es klang in meinen[98] Ohren, als wenn Teufel hineinschrieen: »Und den Menschen ein Wohlgefallen.«

Nach dem Gottesdienst wurden wir mit Warmbier, einem Präsent des Herrn Pfarrers, traktiert. Ein paar Tropfen trank ich, den Rest gab ich dem langen, steifen Schneider.

Die Korrigenden hatten mit Transparenten Arbeits-und Schlafsäle mit folgenden Sätzen auf durchscheinendem roten Papier geschmückt, wie: »O du selige, o du fröhliche gnadenbringende Weihnachtszeit!« oder: »Ehre sei Gott in der Höhe und den Menschen ein Wohlgefallen!« u.s.w.

Die Aufseher begleiteten uns nach den Schlafsälen, zählten uns, schlossen ab und entfernten sich schnell. Sie wollten ja auch Weihnachten im Kreise ihrer Familie feiern.

Die Schilderungen von Dostojewsky »Aus einem Totenhause«, dem Ostrog, sind nicht so schmachvoll erniedrigend, wie meine Erlebnisse dieses Weihnachtsfestes in Deutsch-Sibirien. Im Ostrog hatten doch die Sträflinge noch ein bischen Bewegungsrecht. Diese erhielten doch noch ihren Weihnachtskuchen, ihre Spanferkel u.s.w., Gutes und Liebes von ihren Bekannten und Verwandten, und von den Einwohnern des Ortes große und kleine Wohltaten. Dies stimmt doch auf alle Fälle zu einem Fest der Liebe.

Waren wir zu schlecht, um einen Anspruch auf Festesfreuden zu haben?

Mit nichten! denn nicht ein einziger Mörder war unter uns. In jenem Ostrog aber war durch Geben und Nehmen, durch die vereinigte gegenseitige Liebe Weihnachten ein Fest der Liebe.

Was war es für uns? Der letzte Wischer, der mir kalt den letzten ersterbenden Funken von Glauben an einen Heiland nahm.

Ja, im Ostrog, da holten sich die Sträflinge jedes Jahr neuen Glauben und Mut durch die gegenseitige Liebe und das Mitleid. Was holte ich mir? Ein verbittertes Gemüt und die Einsicht, daß die christliche Religion – eine leere Phrase sei.[99]

Am 25. Dezember gab es ein Stück Fleisch. Bei mir seit fünf Monaten das erste viertel Pfund. Wir aßen es bedächtig. Ein Glaser saß neben mir, der hatte zwei Jahre Ueberweisung. Er zog Ketten zu Läuferdecken. Dieser aß sein Fleisch so bedächtig, als wenn er den Genuß doppelt genießen wollte. Ich lachte darüber und von ihm fiel mir etwas ein:

Es war vor zwei Wochen am Sonntag passiert. Es gab Weißkohl und Kartoffeln. In meinem Essen fand ich eine Schnecke – von den schwarzen, die kein Gehäuse haben. Ich zeigte ihm das gekochte Tierchen. Er nahm es von mir und ich sah, wie es bedächtig hinter seinen defekten Zähnen verschwand.

Wir hatten drei Feiertage. Den dritten Feiertag füllte der Sonntag aus. Nach den Feiertagen machten wir Inventurarbeit. So schloß mit der Weihnachtswoche die 22. Woche meiner Strafe.


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Mein Freund, der Wilhelmshavener Zimmermann, den ich zum letzten Mal Weihnachten traf, nahm am dritten Feiertag Abschied von mir. Wir wünschten uns beide Glück und daß wir uns draußen einmal treffen würden. Er kam drei Wochen früher los als ich und ließ auch seinen Schnurrbart stehen. Er war einer meiner ehrlichsten Freunde und Leidensgenossen in dieser Anstalt.

Quelle:
Schuchardt, Ernst: Sechs Monate im Arbeitshaus. Erlebnisse eines wandernden Arbeiters, Berlin [1907], S. 98-100.
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