Meine Verhaftung.

Es war während der Wahlkampagne in Magdeburg im Jahre 1903. Der Haupttag der Wahlen lag hinter uns. Der Reichstagskandidat der Arbeiterpartei Wilhelm Pfannkuch erhielt wohl die meisten Stimmen, aber nicht genügend, um seine Gegner abzutrumpfen, – deshalb war in 14 Tagen die Stichwahl.

Meine Wohnung lag in der »Kleinen Klosterstraße« im Hinterhaus eine Treppe hoch bei einer Frau Sch., übrigens eine armselige Schlafstelle.

Parterre vorn in diesem Hause war ein Restaurant. Im Flur linker Seite war eine große hölzerne Tafel. Auf dieser Tafel prangten die Namen der hiesigen Gewerkschaften, die Namen der leitenden Personen und ihrer Kassierer. Im Hofe links lag die »Fremdenstube«, ein Rast- und Ruhepunkt für reisende Arbeiter und für hiesige Existenzlose, welche kein Logis, keine Schlafstelle bekommen konnten. Es war ein dumpfer, mit Rauch und Alkoholdunst geschwängerter Raum. Der Boden sah aus, als ob er seit der Legung der Dielenbretter niemals mit Wasser getauft wurde. Ein alter Mann, schon viel vom Elend und der Sorge herumgeworfen, führte die Bedienung, er spielte den Vizeboß (Hausdiener). Am Tage war es so einigermaßen ruhig und auch dieser Raum nicht stark überfüllt. Kam aber der Abend, dann ging es laut zu. Es[7] kamen dann Zugereiste aus allen Windrichtungen. Auch hielten sich Leute acht bis vierzehn Tage da auf, um sich Arbeit zu suchen und sich von den Strapazen der Landstraße auszuruhen, und dann wieder solche, die auf Hilfsmittel von zu Hause warteten; oder es waren Leute, welche stadtbekannt waren und keine Lust hatten, den Staub Magdeburgs von ihren Füßen zu schütteln.

Wie in allen solchen Sumpfbudiken wurde auch hier dem Alkohol stark zugesprochen und es kam dann zu lauten, aufgeregten Gesprächen; dazwischen wurde auch gesungen. Manchmal des Abends hörte ich lauter sozialistische Lieder, wie: »Die Marseillaise«, »Ein Sohn des Volkes will ich sein und bleiben«, »Wer schafft das Gold zu Tage«, oder »Die Arbeiterreveille« u.s.w. Letztere wurde gesungen nach der Melodie »Braunschweiger Leberwurst«. Es kam aber auch vor, daß ab und zu ein religiöses Lied gesungen wurde: »Wie schön leuchtet der Morgenstern«, oder »Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesu offenbart« u.s.w. Wenn solche Lieder gesungen wurden, dann wußte ich jedesmal, daß der Anreger des Liedes ein geistig schwacher Heimatbruder (Besucher der Herbergen zur Heimat) oder auch Windenbruder (Arbeitshäusler) war.

Die Gesänge dauerten dann solange an, bis eine Erschlaffung der mit Schnaps gebeizten Kehlen eintrat. Manchmal dehnten sie sich auch bis Mitternacht hin, je nachdem das Moos (Geld) vorhanden war.

In dieser Lokalität waren immer drei Parteien; die eine, welche dem Schnaps stark zusprach, weil sie sich jeden Tag die Mittel teils durch Minutenarbeit verdienten, oder sich das Geld zusammentalften (bettelten), die andere Partei, welche kein Geld zu Schnaps übrig hatte, sondern nur mit Ach und Krach ihren Schlummerkies (Schlafgeld) zusammenbringen konnte, und endlich eine Minorität, welche entweder noch grün in Vagabundenverhältnissen oder noch »sittenrein« (unverdorben oder schüchtern) waren und aus »lauter Anständigkeit«[8] sehr geringe Quanten Bier tranken oder gar bloß »Dachstubenporter« (Wasser) hinter die Halsbinde gossen.

Nun kam es bei den Fuseltrinkern öfters zu Wortreibereien, fast keinen Abend ging es ruhig und sachlich zu. Das Traurigste dabei war, wenn zwei ihr Geld zusammen vertranken, sich ihr Sündenregister vorwarfen und dann manchmal in eine Keilerei gerieten. Am Morgen, wenn wieder Geld getalft (gebettelt) war, wurde die gerissene Freundschaft durch einen Versöhnungsschnaps ins Lot gebracht. Nur ab und zu artete es zu offenem Haß aus, daß das Stänkern und Schimpfen periodenweise wieder zum Ausbruch kam.

Ich selbst mischte mich selten ein und unterhielt mich meistens mit dem solideren Element. Gewöhnlich saß ich abseits und grübelte vor mich hin:

»Diese ewige Arbeitslosigkeit bringt mich vollständig auf den Hund!«

So suchte auch ich in dem elenden Kartoffelfusel mich zu betäuben. Kein Wunder, daß der Teufel gar manchmal auf meinen Nervensträngen Guitarre spielte. Die Türe hinter mir zuschlagend, stieg ich dann auf die Fahrt. Meine Schlafstelle hatte ich aufgeben müssen, aber auch ein Teil der Gesellschaft ekelte mich an. So ging ich dann wieder auf die »Heiligkeit«, bezahlte 25 Pfennig und legte mich nach 9 Uhr auf mein hartes, nicht allzu sauberes Lager.

Hungrig stand ich auf. Es war ein warmer Sommermorgen, wie man es vom letzten Drittel des Juni verlangen kann. Meine Tasche war leer, nicht ein roter Pfennig war darin. Am Abend schon hungrig in die Klappe und am Morgen Kohldampf (Hunger) im Magen. Mein Magen knurrte wie der Wirbel von einem Tambour.

In mißmutiger Laune ging ich in die Altstadt am Petriförder, trat in eines der Häuser und klopfte parterre an eine Stubentür. Eine Frau öffnete. Ich bat um »etwas warmen Kaffee«. Kaum war mein Wunsch erfüllt worden, trat aus derselben Tür ein Schutzmann, ein schon ältlicher Mann von[9] etwa fünfzig Jahren, und schnauzte mich in barschem Tone an: »Sie haben hier gebettelt und gehen mit zur Wache!«

Wir gingen vom Petriförder durch die Jakobstraße. Da fragte mich ein Bekannter von unserer Organisation – ich war Mitglied des deutschen Metallarbeiter-Verbandes –:

»Na, Ernst, wat ist Dir denn passiert?«

Gleichgültig sagte ich: »Ich habe gebettelt!«

Seine Antwort: »Dies hast Du doch gar nicht nötig, Du bist doch im Verband!« Der gute Mann wußte natürlich nicht, daß ich für das Jahr 1903 ausgesteuert war. Er wünschte mir Glück zu einem guten Verlauf meiner Sache und ging.

Von der Jakobstraße über den »Alten Markt« durchschritten wir den Breiten Weg, das Ulrichstor und langten am Polizeipräsidium an. Dort auf der Polizeiwache visitierte man mich. Viel hatte ich nicht, meine leere Geldtasche und meine notwendigsten Papiere. Man schob mich dann parterre in eine Zelle. Ein kahler, unfreundlicher Raum, durch zwei niedere Fenster erhellt, welche mit schwedischen Gardinen versichert waren; wie gesagt, man haite mich wieder in ein »Safe Deposit« untergebracht. Die Türe flog zu, der Siegel knarrte.

Allein war ich nicht. Ein alter Mann lag auf der Pritsche. Das alte Lied des Vagabundenelends war es wieder, was ich da zu hören bekam. Wegen Bettelns viel bestraft, fünfmal auf der Winde (Arbeitshaus) gewesen. Vor einigen Tagen entlassen. Sich mit Fusel vollgesoffen aus Hunger, Gram, Sorge und Elend. Im Rinnstein gestolpert, gestürzt, liegen geblieben wie ein schwerer, abgesägter Stamm. Die Polizei hatte ihn dann gefunden und in diese Zelle geschafft. Viel konnte er nicht sagen, das Gift des Fusels hatte seine Zunge schwerfällig gemacht.

Durch den penetranten Geruch dieser menschlichen lebendigen Leiche war die Luft verpestet. Ich öffnete beide Fenster.

»Ja,« sagte er zu mir, »wo kommst Du denn her?« Dabei dehnte er seine alten Knochen.[10]

»Ich habe am Petriförder gebettelt, ein Putz hat mich erwischt und jetzt bin ich hier!«

»Du bist ja noch in dufter Schale, wieviel Mal haben sie Dir denn gekappt?«

Meine Antwort war: »Siebenmal habe ich die Hafträume verschiedener Gefängnisse absolviert.«

»Ja, da wirste wohl Winde bekommen«, war sein Schlußwort; er drehte sich auf die Seite und versuchte zu schlafen.

Man steckte von draußen einen Schlüssel in unsere Zelle. Ein Polizeiinspektor trat ein, frug mich, ob ich Ernst Schuchardt aus Gotha wäre.

Die Frage bejahte ich.

»Sie geben doch zu, gebettelt zu haben?«

Ich erwiderte: »Was nützt das Leugnen, der Schutzmann hat ja eine Frau als Zeugin!«

»Wieviel Mal sind Sie denn schon vorbestraft?«

»Die erste Strafe erhielt ich 1900. Siebenmal bin ich wegen Bettelns vorbestraft!« sagte ich.

»Na, dann werden Sie wahrscheinlich Ueberweisung an die Landespolizei erhalten!«

Der alte Mann bekam sein Donnerwetter vom Schließer, weil er die Nacht im Delirium in der Zelle getobt hatte. Der Polizeiinspektor ging. Wir erhielten jeder ein Stück Brot. Die Türe wurde zugeschlagen und der Riegel vorgeschoben.

Zwei Stunden hatte ich dagesessen und gegrübelt über diese göttliche Weltordnung, welche es den Seinen bloß im Schlafe gibt, der übrige Teil kann sich für Hungerlöhne schier zu Tode quälen oder in Arbeitshäusern zu Grunde gehen! Ja, es war zum Verzweifeln, keine ehrliche Arbeit und wenn, dann noch schlechter abgelohnte, als eine Dirne ...

Lebt eine Dirne nicht besser als die Arbeiter, welche 10 bis 12 Stunden ihre Arbeitskraft für den Moloch Kapital opfern müssen für einen Hungerlohn? – – – –

Was hatte ich begangen![11]

Für eine Bitte sollte ich 6 Monate wie ein sächlicher Gegenstand behandelt werden.

Es war zum Rasendwerden ....

Der Schließer öffnete die Türe. Mein Name wurde aufgerufen. Ich trat hinaus. Ein Schutzmann begleitete mich mit noch drei Personen nach einem dunkelblauen Wagen, dem »blauen August«. Der Wagenschlag war auf. Wir stiegen ein: zwei Männer, ein Mädchen von 19 Jahren, ich und der Behelmte. Der schloß die Türe und gab ein Zeichen. Der Kutscher gab den Pferden das Signal zur Fahrt und holpernd fuhr der Wagen nach dem »Tränensberg«, so heißt das Gefängnis. – – – –

Quelle:
Schuchardt, Ernst: Sechs Monate im Arbeitshaus. Erlebnisse eines wandernden Arbeiters, Berlin [1907], S. 7-12.
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