[192] Je näher ich Hamburg kam, je mehr fühlte ich in mir ein – ich weiß nicht was, das mich beunruhigte. Der Anblick des Hafens, wo die prächtigen Schiffe lagen und für so viele Fremde ebensoviel Augenweide ist, hatte für mich keinen Reiz. Alles machte mich beben. Alles zog und zerrte und preßte mein Herz zusammen. Ich selbst war mir ein unbegreifliches Wesen. Wir landeten an und traten ins Baumhaus. H. Ackermann ließ Erfrischungen reichen; ich aber eilte aus dem Zimmer, setzte mich in die erste beste Stube, die ich leer von Menschen fand, und ließ meinen schmerzhaften Empfindungen ihren Lauf. Meine Mutter, die nicht wußte, wo ich hingekommen, suchte mich; endlich fand sie mich auch. Doch wie erschrak die gute Frau, als sie mich fast in Tränen schwimmend fand! »Was ist dir, Kind? Was hast du?« »Ach, meine beste Mutter! Ich weiß es nicht. Ach, lassen Sie uns forteilen, fort, weit fort von diesem abscheulichen Ort!« »Rasest du? Ort? Hast ihn ja noch nicht gesehen.« »Will, mag ihn nicht sehen. Hab schon an dem genug. Oh, Mutter, Mutter, wie komme ich von hier weg? Muß ich hier bleiben, so bin ich gewiß zu meinem Unglück hergekommen. Diese Ahnung meines Herzens trügt mich nicht. Haben Sie mich je so gesehen?« »Du weinst um deine Fleischer.« »Nein, Mama, gewiß nicht. Weinte ich, als ich nach Hannover kam? Weiß ich nicht, daß ich in Braunschweig nicht immer bleiben konnte? Sind Sie nicht auf der Reise besser geworden? War ich nicht darüber so außer mir vor Freuden, daß ich gewiß auf keiner Reise mehr Spaß gemacht habe wie auf der? Sprang ich nicht mit Lachen und Singen in den Ewer? Aber Hamburg ganz vor mir liegen zu sehen und Todesangst zu fühlen, war eins. O Mutter, Mutter, es ist eine Warnung von meinem guten Engel. Fort, fort! Hier ist mehr für mich als Tod und Grab. Unsichtbares Elend auf mein ganzes Leben! Oh, verflucht der Augenblick, da Ackermann den höllischen Gedanken gefaßt!«[192] Meine Mutter stand da, weinte und sagte: »Du bist mir unbegreiflich,« als Herr Ackermann zu uns ins Zimmer trat. »Wo, Teufel, steckt ihr? Aber was ist das? Was gibt's, was fehlt?« Meine Mutter sagte: »Gott weiß, was meiner Karoline ist, sie sagt, hier ohne ihr ihr Unglück.« »Hier? Possen! Hat was Liebes in Braunschweig gelassen.« »Jawohl, was Liebes; aber nicht in Ihrem Verstande! Sonst würde ich nicht so lustig auf der Reise gewesen sein. Kurz, H. Ackermann, hier bleibe ich nicht bei Ihnen, wo Sie nicht machen, daß wir alle bald wieder fortreisen.« »Mädel, bist du närrisch geworden? Mach mir ja keinen Streich!« »Ja, Herr Ackermann, hier stehe ich Ihnen nicht dafür; denn hier kann ich nicht bleiben.« Mad. Ackermann kam auch dazu, wollten mich aufmuntern; aber da war an kein Aufmuntern zu denken. Ich war und blieb in den tiefsten Gram versenkt. Nun führte mir H. Ackermann einige Hamburger zu und wollte mich mit ihnen bekannt machen. Aber alle bekamen von mir sehr kurzen Bescheid; denn ich konnte mir nicht helfen, nicht Empfindungen lügen, und alle hatten das Glück oder Unglück, wie man's nehmen wollte, mir von Herzen zu mißfallen. Wir setzten uns in die Kutschen, die H. Ackermann kommen lassen, und fuhren in die Stadt. Das Gewirr erregte mir Ekel, kurz, ich blieb bei derselben Empfindung. Wir traten bei einem Bekannten von Ackermann ab. Die Leute mochten in ihrer Art gut sein, mir aber waren sie so hölzern wie möglich. Man setzte sich zu Tische. »Ach, Taschenkrebse, Taschenkrebse,« sagte Mad. Ackermann am Tische, wie sie aufgetragen wurden. Ich fand keinen guten Bissen daran. Die gewöhnlichen Krebse sind mir lieber. »Ja, hier kann man alles haben.« »Auch ein vergnügtes Herz?« »Hier sind Fische, Fleisch, kurz, was man nur wünscht, im Ueberfluß; hier ist am besten leben in der ganzen Welt.« »Für die, die ihre Glückseligkeit im Magen haben, und da sitzt die meinige nun eben gar nicht.«
Nun wurde eine Wohnung gesucht. Wir fanden solche ziemlich nach Wunsch, und nun saß ich darin, wie in einem Kerker. Den 6. September wurde die erste Komödie gegeben; wir gefielen alle und besonders das Ballett, das[193] rasend Lärm machte. Aber ich war und konnte nicht vergnügt werden. Nur der Trost blieb mir, daß unseres Dableibens von keiner langen Dauer sein sollte. Wir spielten am Dragonerstall in einem dazu eingerichteten Komödienhaus, wo immer auch vor uns deutsche Komödie war, und ein Tag wie den andern war immer dasselbe gleich voll. Nun kam der Advent heran, und wir machten die letzte Komödie. Da war ich denn wieder ganz dasselbe muntere, lustige und mutwillige Mädchen und was noch mehr. Es sollte wieder nach Hannover. Wie wir die letzte Komödie machten, ja, das war für mich der erste und beste Tag, den ich in Hamburg erlebt hatte. Als ich nach Hause kam, sagte ich: »Nun, Gottlob, nun ist es hier alle. Mich soll man einpacken sehen. So geschwind will ich gewiß noch nie fertig geworden sein.« Alle Tage lauerte ich nun, daß es uns gesagt werden sollte: Den und den Tag reisen wir.
An einem Morgen stand ich und packte Kästchen ein. H. Ekhof trat zu mir ins Zimmer: »Guten Morgen!« »Wieder so viel!« »Was machen Sie?« »Was ich mache? Da sehen Sie, ich packe, Gott sei Dank, ein; übermorgen reisen wir ja.« »Nun, so packen Sie nur wieder aus; wir reisen nicht.« »Nicht?! Ei was, Sie spaßen.« »Nein, nein, ich sage die Wahrheit. Ackermann läßt den Konzertsaal zurechtmachen. Darum fangen wir gleich nach dem Fest wieder an zu spielen.« »Nun, so wollte ich – –!« So aufgebracht war ich lange nicht. Ekhof machte ich alle möglichen Vorwürfe; denn der allein war schuld, und dem war Hamburg an die Seele gewachsen. Ich war so aufgebracht, daß, wenn man mir in dem Augenblick einen anderen Kontrakt zu einem anderen Direkteur vorgelegt hätte, ich würde solchen ohne Bedenken unterschrieben haben.
Ekhof wollte wissen, was mir denn in Hamburg nicht anständig sei. »Alles! Menschen, Vieh, alle Elemente! Alles ist mir zuwider vom ersten Augenblick an. Ackermann hat uns hier 2 Gulden die Woche zugelegt, und bei unserer Haushaltung, die gewiß von jeher aufs sparsamste eingerichtet, kommen wir hier mit 16 Gulden die Woche nicht so[194] weit, als wir sonst mit 12 gekommen sind. Muß man nicht jeden Tropfen Wasser bezahlen? Hab' noch in meinem Leben nicht Wasser gekauft. Ja, hier muß man den Mist ins Haus und wieder heraus kaufen. Mag sein, für die hiesigen Einwohner, die das gewohnt sind und nicht besser verstehen, ja, die gewohnt sind, im Gelde zu wühlen. Mir kann's nicht gefallen. Hier setzt man zu, was man sich sauer und mühsam seit Jahren erspart hat.« »Ach was, schmähen Sie mir auf Hamburg nicht! Sie kennen es noch nicht. Es wird Ihnen schon gewiß gefallen, wenn Sie nur erst sieben Jahre hier gewesen sind.« »Ei, so hol' Sie der Teufel! Sieben Jahre! Gott, strafe mich nicht so sehr! Sieben Jahre! Also sieben Jahre soll ich warten? Da fange ich an, alt zu werden. Nein, die Schulzen ist eines Besseren gewohnt. Nicht sieben Wochen war ich an anderen Orten und war bekannt in den ersten und besten Häusern in der Stadt. Dankt man oder vielmehr verstehen Eure Einwohner einem nur zu danken, wenn man auf der Straße geht und solche grüßt? Ich weiß gewiß, ich grüße keinen mehr und bleibe stehen, wenn sie mir in ihren vergüldeten Wagen vorbeirollen. Hier heißt es, wie in dem Boockesbeutel: Hat der Hund Geld? Hat er das nicht, so achtet man einen nicht. Geld, heißt es, ist die Losung.« »Aber Sie sind ja noch nirgends gewesen!« »Ja, einmal in Harvestehude. Ich wollte nicht; die Hausleute überredeten mich. Wir kamen halb 3 Uhr an. Nun gab man Kaffee, dann Tee. Eins wie das andere war nicht zu genießen; denn in allem war Salz. Wie die Stube endlich warm wurde, hieß es, wir müssen machen, daß wir in die Stadt kommen.« »Warum?« »Ja, in den kurzen Wintertagen wird das Tor 4 Uhr geschlossen.« »So zahlt man Sperrgeld.« »Nein, hier geh das nicht, hilft kein Sperrgeld, und wenn's ein Fürst wäre. – Nun, die Angst noch, die vergeß' ich nicht. Des Nachts aus dem Hause zu sein, ohne meiner Mutter Wissen! Ich weiß, was ich lief, und kamen noch so eben zur Stadt. Solch ein Spaziergang kann einem alle Spaziergänge verbittern.«