Augsburg.

[94] Den 26. Juni reisten wir von Innsbruck und kamen den 29. glücklich in Augsburg an. Wir bekamen Herrn Starke zur Gesellschaft. Starke war von ihm ein angenommener Name. Sein eigentlicher Name war: Amsing; er war von Geburt ein Hamburger. Er studierte, wie ich bei Koch in Leipzig war, daselbst, und ich lernte ihn in dem Hause des H. Brücknert kennen. Ob Lust zum Schauspiel oder zerrüttete Glücksumstände ihn bewogen, Schauspieler zu werden, weiß ich nicht. Doch ich glaube eher das erste, wie das letzte. Er war ein Mann von entschieden großen Verdiensten; seine Sprachkenntnisse waren das wenigste. Ein Mann, der so viel wußte, so viel gelernt hatte, hätte außer dem Theater überall sein Brot haben können. Er war ein grundrechtschaffener, ehrlicher Mann. Er hatte seine Ursachen, warum seine Familie in Hamburg nicht wissen sollte, wo er wäre. Das erstemal, als er mich besuchte, nannte ich ihn Amsing; er ersuchte mich, ihn jetzt Starke zu nennen, nichts von ihm nach Hamburg zu schreiben. Ich versprach's. Jetzt ist der gute Mann tot und ich meines Versprechens, weil es ihm auf keine Art schaden kann, entlassen. Mademoiselle Weißinn, die ein gutes, rechtschaffenes Mädchen war, heiratete er in Augsburg. Nach wenigen Jahren habe ich erfahren, daß er in Karlsruhe gestorben. Gestorben wie Sokrates. Wenigstens kann ich mich keines anderen erinnern, mit dem ich ihn vergleichen könnte, als mit dem, was ich einmal von dem Tode des Sokrates gehört. Er war Schauspieler auf dem Theater, spielte mit Kunst und Einsicht. H. Seipp gewann durch ihn, wie wir alle, denn wir hatten durch ihn einen guten Schauspieler mehr.

Den ersten Juli fingen wir mit dem Stück »Die Reue nach der Tat« an. Für eine so große Stadt und reiche Inwohner[94] stutzten wir alle nicht wenig, daß das Haus beim ersten Male nicht voller war. Wir spielten, und es wurde nicht viel besser. Wir frugen, und es hieß, ja, man wollte erst von denen, die uns spielen sähen, hören, ob was an uns wäre oder nicht. Wir spielten fort, und von dem, zwar nicht zahlreichen, Publikum hatten wir Beifall. Alles lobte uns in der Stadt, und doch war das Haus oft leer.

Der Ursachen des Nichtkommens waren viele. Endlich hieß es, man würde sich zahlreicher einstellen, wenn wir den Winter da blieben. Ob das Gespräch oder was sonst Ursache war, genug, H. Seipp und H. Bulla wollten nicht mehr nach Innsbruck zurück. Das glaube ich gerne, daß, wenn es in Augsburg nur zweimal die Woche ganz voll war oder auch nur einmal, es mehr Geld einbrachte wie in Innsbruck, weil der Einlaß dort sehr geringe ist. Kurz, ich weiß es nicht; denn ich war zu sehr mit meiner Arbeit und meinen Rollen beschäftigt. Und fragen war meine Sache nie, was die wahre Ursache war.

Wir blieben in Augsburg. Die Innsbrucker wurden böse, die Garderobe, nebst Demoiselle Haller und allem, was Innsbruck zugehörte, mußte auch hin. H. Seipp hatte sich vorgesehen, fand einen Kaufmann, mit Namen Herr von Very, der ihm aus seinem Laden alles überließ, was er zu einer neuen Garderobe brauchte, und es wurde eine recht artige gemacht. Jetzt, dachten wir, wird es recht gut werden und – es wurde schlechter. Ich konnte den Aufenthalt mit zweien, die ich schon bei dem Theater erlebt hatte, vergleichen: Bei Doebbelin in Düsseldorf und bei Ackermann in Colmar. Auch da spielten wir mit Beifall – vor leeren Bänken. Was gaben wir uns alle für Mühe! Nun hieß es, ja, warum man in die Komödie gehen sollte, bei dem guten Wetter, das ohnedies bald vorbei war, da wir den Winter blieben.

Wenn Direkteurs nichts zuzusetzen haben, sich kein Freund findet, der eine Summe wagen will, um ihnen aufzuhelfen, ja, dann gerät die ganze Maschine ins Stocken. Wenn die Woche keine richtige Gage mehr fällt, so fällt der Mut. Und doch arbeiteten wir alle und dachten: Wir wollen's erzwingen.[95] Aber es erzwang sich nichts. Jetzt wollte man Opern haben, Ballette wollte man missen. H. Bulla trennte sich von Herrn Seipp und nahm das ganze Ballett mit, reiste mit solchem nach Linz. Neue Leute wurden verschrieben, die auch singen konnten, unter anderen Herr und Madame Smitt, sie ein sehr gute Sängerin, auch er, ein Mann in seinen Fächern, recht gut. Aber nun sollten mehr solche gute Sänger da sein, und wo die hernehmen, wenn der Direkteur nichts einnimmt? Er mußte zugrunde gehen.

Nachgerade wurde unter Administration der Schuldleute gespielt. Auch für uns wurden zwei Stücke gegeben. Das Haus wurde beide Male sehr voll, und das war gut, sonst würde mein Verlust noch größer gewesen sein.

Herr von Very hatte viel zu fordern, der Garderobe wegen. In Innsbruck sollte wieder Komödie sein, und zwar Winter und Sommer, wegen der Ankunft der Königin Elisbeth, Königliche Hoheit, welche daselbst in Zukunft residieren würde. Herr Betge, auch ein Schauspieler bei unserer Gesellschaft, war die Haupttriebfeder, Herrn von Very zu überreden, eine Gesellschaft nach Innsbruck zu liefern. H. von Very konnte seiner Handlung wegen (die aber schon auf schwachen Füßen gestanden haben soll, wie ich nach der Zeit sehr spät erfuhr) nicht mit. H. Betge dachte also Regisseur zu werden. Ich kannte H. von Verys Umstände nicht; denn nie habe ich einen Mann mehr von Tausenden und Tausenden sprechen hören, man mußte glauben, er sei reich. – – Noch so reich! Wirst du Direkteur von einem Schauspiel, und du verstehst es nicht, so wirst du ein armer Mann.

Ich wollte die Sünde nicht auf mich laden: schrieb Herrn v. Very ein Billett mit der Bitte, zu mir zu kommen. Meine Absicht war, Herrn v. Very mündlich zu sagen: »Sehen Sie zu, wer Ihnen die Garderobe abkauft! Leiden Sie lieber den Verlust! Aber wenn Ihnen Ihre Ruhe lieb ist, werden Sie nie Direkteur von Schauspielern!« Er kam. Kaum hatte er sich niedergelassen, so sagte ich: »Ich bitte Sie um Gotteswillen, Herr v. Very, werden Sie nicht –«, und in dem Augenblick treten Mad. Paartl. und H. Betge in mein Zimmer. Was sollte ich tun? Von den glänzendsten Aussichten[96] wurde gesprochen; ich konnte nicht widersprechen; sie hatten Briefe, ich keine. Wahrscheinlich war's, daß es sehr gut in Innsbruck werden könnte, wenn ein Hof da wäre, so daß der Adel und die übrigen der Stadt nicht alles allein bestreiten sollten, weil die Stadt klein ist. Doch schwieg ich und wollte mich in nichts bemengen.

Noch gestehe ich es, es war schade, daß die Gesellschaft zu Trümmern ging, so wie wir alle im Anfang beisammen waren. Lange waren sie geduldig, wie ich bei so traurigen Umständen noch wenige gesehen.

Herr Seipp war ein Mann von vielem Kopf, und durch seinen Kopf erhielt er es auch so lange beisammen. Seine liebe, gute Frau jammerte mich; denn das war so ein herzensgutes Weibchen, wie ich wenige bei dem Theater gekannt. Hätte H. Seipp mehr Glück und Segen gehabt, wäre vielleicht manches anders gewesen. Gewiß, auch damals sah ich, daß es nur eines einzigen Menschen bedarf, um alles zu verwirren – ich übergehe vieles, will es übergehen.

Die Verwirrung war groß. Ein Teil von der Gesellschaft sagte: »Wir spielen nicht mehr.« Wollten mich dazu haben; ich sagte zum Fenster hinaus: »Laßt mich in Ruhe und macht, was ihr wollt.« So lief ein ganzes Rudel bei meinem Fenster vorbei nach einem Herrn Bürgermeister. Was da gesagt und abgehandelt worden, weiß ich nicht. Den Morgen darauf sollte auch ich zum Herrn Bürgermeister. Ich wollte nicht. Ich mußte. Da war ich. Man frug mich, was mein Entschluß wäre. »Wird fortgespielt, und sie spielen alle, so spiele ich mit. Wenn ich nun sagte, ich wollte spielen, und die anderen nicht, nun, so wissen Sie ja selbst, daß ich allein keine Komödie spielen kann. Nun bitte ich, das einzige zu bedenken, wenn es morgen bei dem Stück bleibt, dann spiele ich nicht auf, weil ich in demselben nichts habe. Es ist eine Oper. Jetzt kann jedes tun, was es will, und ich nehme weiter nichts und von nichts Anteil.« Und damit machte ich mein Kompliment und ging nach Hause. – Wurde dem ohngeachtet behauptet, ich hätte gesagt, ich wollte nicht spielen. Und durch die Lüge – ach, was erfuhr ich alles! Wie fielen die schon halb geöffneten Masken ganz![97]

Eine ganze Woche ging hin, und man wußte nicht, wer Koch oder Kellner war. Endlich wurde beschlossen, daß so gespielt werden sollte: zwei Schauspieler eine Komödie für sich, welche die Einnahme davon nach Abzug der Unkosten sich teilen sollten. Das erste Stück war den 8. Februar 1781, die Einnahme für H. Starke und Peyerl, – es waren keine 5 Gulden in der Kasse. Herr Starke fühlte das, trat aus und spielte nicht wieder mit. Was bat ich Madame Paartl und Herrn Betge, sie möchten wieder mitspielen! Aber nein, durchaus nicht. Nun, wer blieb noch? Ich wäre geblieben; denn das wußte ich, das Stück »Miß Sara Sampson«, das ich für mich gewählt, war zu beliebt in Augsburg, und gewiß, das Haus wäre voll geworden. Ich wäre nicht allein zu meiner zurückstehenden Gage gekommen, sondern hätte noch Vorteil gehabt.

Aber es war mir nicht möglich; die zwei oder drei, die man noch Schauspieler nennen konnte, wenn sie standen, wo sie hingehörten, mußten Rollen nehmen, wo sie nicht stehen konnten. Wäre auch das eine Stück wegen der wenigen Personen noch zur Not gegangen, so wär's schlecht von mir gewesen, mich bezahlt zu machen und dann auszutreten. Ich konnte mich nicht überwinden, mitzuspielen unter solchen Menschen, die sich Schauspieler wollten nennen lassen. Vielleicht sind sie's nach der Zeit geworden, damals waren sie es nicht. Wenn das Ohngefähr einen Fremden durchführte, der dich kennt, und du ständest da mitten unter! Fort! Schade um das Geld! Hast mehr verloren in deinem Leben. Ich sagte also: »Ich kann so nicht mitspielen. Teilen Sie untereinander auch den Abend, der zur Hälfte für mich sein sollte. Und der, der mit mir spielen sollte, hatte das meiste zu fordern, es war der Souffleur, ein guter Mann; mich dauerte er. Auch konnte ich denken, daß er mich bitten würde, mitzuspielen, um zu dem Seinigen zu kommen. Was tue ich? Ich entschloß mich, nach München zu reisen.«

Herrn v. Very schrieb ich ein Billett, daß ich ihm mein Wort gegeben, wenn er noch mit Innsbruck richtig würde, er sich auf mich sicher zu verlassen hätte. Inzwischen nähme ich an der ganzen Sache keinen Anteil. Und wenn sie zurückginge,[98] sollte es mir auch recht sein. Denn ich wollte keine Verantwortung haben, wenn es ihn heute oder morgen reuen sollte und es nicht nach Wunsch ausschlüge.

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 94-99.
Lizenz:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Frau Beate und ihr Sohn

Frau Beate und ihr Sohn

Beate Heinold lebt seit dem Tode ihres Mannes allein mit ihrem Sohn Hugo in einer Villa am See und versucht, ihn vor möglichen erotischen Abenteuern abzuschirmen. Indes gibt sie selbst dem Werben des jungen Fritz, einem Schulfreund von Hugo, nach und verliert sich zwischen erotischen Wunschvorstellungen, Schuld- und Schamgefühlen.

64 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon