35. Kapitel.

[160] Mein Büchlein, das ich nur schreiben wollte, ist nach den vielen Bogen, die ich bechrieben, herangewachsen zu einem Buch. Daß solches einer Feilung von mir bedürfte, glaube ich gern. Ich mache ja aber keinen Anspruch, ein gelehrtes Frauenzimmer zu sein, das sich durch ihr Talent als Schriftstellerin berühmt machen will, und wünsche, daß dieses, mein dreistes Kind, das so ganz ungerufen in die Welt tritt, allein bleibe, ohne ihm noch einen Bruder oder eine Schwester geben zu müssen. Ich lebe meinen Kindern und meiner Arbeit und bin ängstlich genug, daß ich seit 4 Monaten – solange ich an diesen Blättern geschrieben und nun noch abzuschreiben habe, muß meine Kunden auf ihre mir zugeschickte Arbeit länger warten lassen, als es sonst meine Gewohnheit ist. Ganz und voll, im Vertrauen auf ihre Güte, hoffe ich, werden sie mich entschuldigen, wenn ihnen die Ursache bekannt wird.

Hätte also ein gelehrigerer Kopf als der meinige, eine geübtere Feder als die meinige vieles besser gesagt als ich, habe ich nichts dagegen. Schöner, besser hätte er's sagen können, aber nicht wahrer, nicht so ganz aus dem Herzen wie ich. Wollte Gott, ich stiftete auch damit noch etwas Gutes. Vielleicht! Ich wenigstens lebe ganz der Hoffnung, und wär's auch nur das Theater betreffend.

Ich bin bei dem Theater geboren, erzogen worden. Dies war Zufall. Aber da ich das zweitemal meine Zuflucht zu solchem nahm, so verdanke ich dem Theater den Rock, das Hemd, das ich rettete aus dem Schiffbruch. Denn ich verdiente es mir wieder und bezahlte es zum zweitenmal. Das[160] verdient meinen ganzen Dank; das kann ich ebensowenig vergessen, wie die kleinste Gefälligkeit, die man mir erwiesen. Ich wünsche also dem Stande Gutes. Doch wünschen würde zu wenig sein. Ich will bitten, will alle bitten, diejenigen zuerst, für die das Theater soviel Reizendes, soviel Anlockendes hat: Lesen Sie mit Aufmerksamkeit diese Blätter durch, nur nicht als Roman, als eine wahre Geschichte. Und dann prüfen Sie sich, ob Sie Ihren Stand, zu dem Sie ihre Eltern, Ihre Vorgesetzten erzogen, Geld, Sorgen, Fleiß und mehr angewandt, ob Sie solchen mit dem Stand des Schauspielers vertauschen sollen.

Laßt ab, ich bitte euch! Wie viele Jahre der Bildung werden erfordert, Meister in der schwersten und undankbarsten aller Künste zu werden! Und wieviele können es werden? Ist ein traurigerer, betrübterer Gegenstand in der ganzen Welt zu finden, als ein Schauspieler, der nichts kann? Dem die Natur alles versagte, Künstler sein zu können? Welcher Stand hat es denn nicht besser? Der Schuhknecht, der nicht das Talent hat, Meister in seiner Arbeit zu werden, wird Schuhflicker. Keiner lacht und verspottet ihn; er flickt ruhig seine Schuhe, hat sein täglich Stückchen Brot und kann ruhiger schlafen, wie mancher verdienstvolle Schauspieler. Welches Unglück kann sich über ein Land verbreiten, das den Schauspieler nicht mittrifft? Jeder Handwerker, jede Profession bleibt in ihrem Gewerbe. Nur der Schauspieler muß seinen Wanderstab ergreifen, herumirren, seine besten Habseligkeiten der Schulden wegen zurücklassen und sehen, wer ihn wieder aufnimmt. Ja, für manchen ist solch ein Fall die Ursache seines gänzlichen Ruins geworden.

Laßt ab, ich bitte euch! Laßt es doch nicht immer den Endzweck sein, warum ihr das Theater wählt: weil man bei dem Theater in der Woche mit so viel weniger Mühe doch soviel Geld verdienen kann. Ihr irrt. Der Schauspieler, bei dem Ehre im Spiel ist, hat die größte Mühe, die mühsamste Mühe.

In dem zweiten Auftritt des ersten Aufzugs der »Agnes Bernauerin« kostete mich die eine erste Rede der Agnes drei schlaflose Nächte. Ich schäme mich nicht, das zu sagen. Ich[161] fühlte, wie sie gesagt werden mußte, aber sagen konnte ich sie noch nicht. In der vierten Nacht gelang es mir erst, und nun schlief ich froh ein, wie nach einem Siege. So teuer sein muß dem Schauspieler sein Ruhm, seine Ehre. Und auch die Mühe, die Ehre der Autoren, daß die nicht sagen müssen, wie Lessing: »Schöne Freude, wenn man sein Kind an dem Galgen findet.« Und dann, wenn der Schauspieler ein Publikum findet, das ihm nachsinnt, jede Schönheit mitfühlt, so leise horcht um nicht ein Wort zu verlieren, weil die Schauspielerin nicht schreien, nicht Spektakel machen darf, und wenn es dann nach geendeter solch schwerer Rede, von solch einer Stille zu dem lautesten Beifall übergeht, längere Zeit braucht, um wieder zu seiner vorigen Stille zu kommen, dann kann sich die Schauspielerin sagen: Hast es getroffen, deine drei schlaflosen Nächte dauern dich nicht. Hast Kenner vor dir. Und dieses war in Augsburg. Wieviele, die die Agnes spielten, haben in diesem Monolog einen solchen Triumph erlangt? Wen trifft die Schuld?

Die Schauspieler haben Kinder genug. Laßt diesen, die dabei erzogen und geboren werden, ihr Brot! Nehmt es ihnen nicht durch euer Zudringen, auch Schauspieler zu werden. Jetzt stirbt er gewiß nicht mehr aus, dieser Stand. Es ist, leider, möchte man wohl sagen, zu leicht gemacht worden, Schauspieler, und noch leichter, Direkteur zu werden. Sonst kostete es mehr Mühe. Man hatte weniger Schauspieler und Direkteure. Aber da fand man auch unter den wenigen mehr, die Kenntnis von der Kunst hatten, fleißiger waren und mehr Aufmerksamkeit auf sich selbst und für das Publikum hatten.

Welche große und kleine Stadt hat jetzt nicht ihr stehendes Schauspielhaus? Das war sonst nicht. Der Direkteur mußte reisen. Und kam er an Ort und Stelle, mußte er sein Haus oder Theater erst bauen lassen, alle Dekorationen mitnehmen. Was erforderte das für Geld! Neuntehalb Jahr war ich bei Ackermann; in 19 Städten habe ich bei ihm mitgespielt und mehr nicht wie 5 stehende Theater gefunden. Und selbst das Hamburger, das zu den fünfen mit gehört, kann nur für ein halbes gerechnet werden; denn es hatte keine Dekorationen.[162]

Schauspieler mußten mit vielen Kosten verschrieben werden. Jetzt kommen die meisten selbst zugefahren oder zu Fuß angewandert. Die Direkteure sehen dann nicht mehr auf Sitten und Charakter, auch nicht mehr, ob der, der so kommt, auch Verdienste hat und, was er spielt, spielen kann. Oh, nein! Ob er recht viel spielt und wenig kostet.

Attestate mußten die Direkteurs, ihrer und der Gesellschaft guter Führung wegen, von dem Fürsten oder dem Magistrat, wo sie zuletzt gespielt, mitbringen. Daher auch die Wichtigkeit der Privilegien, wenn ein Prinzipal solches hatte, um sich die Tore in einer neuen Stadt zu öffnen. Mithin, wollten die Prinzipale und Gesellschaften Brot haben, mußten sie auf eine anständige Aufführung halten. Wie viele Tore wurden der Ackermannschen Gesellschaft geöffnet, die für alle Direkteure überhaupt, sie mochten gut oder nicht gut sein, geschlossen waren! (Schweiz, Freiburg im Breisgau, Karlsruhe, Göttingen und mehr Städte und Länder noch.) Mithin ist es jetzt leichter, Direkteur und Schauspieler werden zu können, in unseren so hochbelebten, aufgeklärten Zeiten. Daher die Menge. Jetzt, wenn man sie alle zählen könnte, gibt es mehr Direkteure, als es sonst gute Schauspieler gab.

Und nun ihr, ihr, die ihr einmal bei dem Theater seid, seid doch nicht so sehr einer des andern Teufel! Hat ein Direkteur einen Redlichen gefunden, so denke er, daß er nicht sein Sklave ist, den er despotisch tyrannisieren müsse. Begegne ihm so, wie der alte Vater Koch und wie es überhaupt bei dessen Theater Sitte war!

Und ihr Schauspieler, die ihr halbwegs ein ruhiges Brot findet, denkt doch um eurer eigenen Ruhe und Glückseligkeit willen nicht, wenn ihr auch das ganze Publikum zum Freunde habt, daß ihr die Direktion scheren könnt, daß euch die Freundschaft des Publikums noch zu wenig ist, daß ihr wollt angebetet sein, daß ihr euch mit eurer Kunst einbildet, mehr zu sein, wie der erste Staatsminister! Trotzt nie mit Weggehen, mit Aufsagenwollen! Denkt nicht, daß euer Verlust nicht zu ersetzen ist! Oh, in diesen fruchtbaren Schauspielerzeiten seid ihr zu ersetzen. – Der vernünftige Teil des Publikums denkt und muß denken: Wie hätten wir tun müssen,[163] wenn er gestorben. Seht ihr guten Leutchen, das letzte dachte ich immer bei allem Beifall, den ich hatte. Und darum schor ich nie meine Prinzipale, noch Direkteure. Darum war ich bescheiden bei dem Lobe, dienstfertig, gefällig, verträglich mit meinen Kameraden. Darum wollte ich nicht allein glänzen, biß keinen fort und gönnte es andern, wenn auch sie gefielen. Wollen denn nicht alle leben? Seid also verträglich, laßt euren Neid und begegne einer dem andern mit Achtung, dann können sie alle der Achtung des Publikums wieder versichert sein. Ihr vergebt sonst euren Respekt. Die unter euch stehen, versagen euch solchen. Bei Vater Koch ging die Ehrfurcht des Theatermeisters und seiner Gehilfen so weit, daß der alte Mann, wenn er, mit Dekorationen belastet, solche bei einem Schauspieler vorbeitragen mußte, er seine Pelzkappe auf die Dekorationen legte, um nicht mit bedecktem Kopf vor dem Schauspieler vorüberzugehen. Nennt es pedantisch! Oh, es wäre gut, wenn noch manche Pedanterie in unseren aufgeklärten Theaterzeiten Sitte wäre. Zieht euch von denen zurück, wenn welche darunter sind, die nicht ganz gut denken! Lacht darüber, wenn sie euch Spitznamen anhängen, wie man sie mir anhing. »Antworte den Narren nicht, damit du ihnen nicht gleich wirst,« dachte ich. Ich schwieg zu vielem. Macht es auch so! Und könnt ihr nicht Freunde sein, so seid wenigstens ruhige Menschen!

Bald werden es 9 Jahre, daß ich in Weimar bin, und nahe an 8 Jahre, daß ich mich von meiner Hände Fleiß und meiner Schule zu erhalten so glücklich bin. Diese letzten 8 Jahre sind mir die kürzesten geworden, die ich gelebt, folglich kann ich niemals zufriedener gewesen sein. Und wem verdanke ich's. Den Guten, den unzähligen Guten, die an mich gedacht, diese mit Arbeit, jene durch die Zuschickung ihrer Kinder. Ich versprach und habe nicht mehr versprochen, als was ich leisten, was ich halten konnte. Die Zahl meiner Schülerinnen ist bis jetzt 85 gewesen. Von den vornehmsten bis zu den geringsten sind sie mir alle gleich lieb geworden.[164]

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 160-165.
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