Gang und Haltung.

[21] Wie ich schon andeutete, ist der Gang eines Menschen ein gewisses Aushängeschild seiner inneren Beschaffenheit. Nicht als ob man sich hier nicht irren könnte, doch ich darf dir sagen, daß ich mich selten in der diesbezüglichen Beurteilung getäuscht.

Gehe nicht schleppend und nachlässig.

Hebe die Füße vollständig auf, um den für andere so unangenehmen schlürfenden Schritt zu vermeiden.

Bewege Kopf und Arme nicht hin und her; ich erinnere mich lächelnd, daß mein guter seliger Vater einst in etwas derber aber trefflicher Weise solch bewegliche Arme mit Dreschflegeln verglich. Wenn man jungen Männern diese Beweglichkeit zuweilen verzeiht, ein junges Mädchen darf sie sich nie gestatten.

Halte Arme und Hände ungezwungen und frei und vermeide alle unnützen und übertriebenen Bewegungen die bei einem jungen Mädchen so leiht aus Eitelkeit hervorgehen.

Selbstredend darfst du dir nicht im Gesicht, an Mund, Nase usw. herumfahren.

Den Körper halte gerade, frei und ungezwungen. Du darfst nicht den Eindruck machen, als stecke eines deiner Glieder in einem eisernen Panzer. Häßlich[21] ist es auch bei jedem Schritt den Kopf in den Nacken zu werfen. Doch auch nicht starr und steif soll der Kopf gehalten werden; ich kann deshalb diese entsetzlich hohen steifen Kragen nicht leiden, die eine leichte, natürliche Bewegung unmöglich machen.

Beim Stehen lehne das nicht an die Wand.

Ebenso gewöhne Dich nicht daran, beim Sitzen nachlässig an die Rücklehne des Stuhles oder des Sofas anzulehnen. Setze dich jedoch auch nicht auf die äußerste Kante.

Die Füße stelle nebeneinander auf den Boden.

Niemals gestatte dir, die Beine übereinander zu schlagen. Stütze auch beim Sitzen den Kopf nicht, in die Handfläche; es macht dies einen trägen Eindruck.


Für Gang und Haltung möchte ich dir noch einen Rat geben:

Suche niemals, dich durch eine Besonderheit auffällig zu machen; das ist das sicherste Mittel, dein Auftreten einfach und natürlich zu gestalten.
[22]

Brief meiner Nichte Hildegard.

Liebe Tante Lisbeth!


Was wirst Du wohl denken, wenn Brigitt Dir schon wieder ein Briefchen aus H....... bringt, da doch erst vorgestern eines bei Dir eingelaufen? Ja, es ist auch etwas ganz Besonderes vorgefallen; – Du hast recht wenn Du dieses annimmst. Aber erschrick nicht, wenn ich Dir auch gleich sage, daß es etwas ist, das mich recht, recht tief erschüttert hat.

Wir sind alle gesund, – also so etwas ist es nicht, nein, nur eine bittere Erfahrung, die mich so schmerzlich berührt hat, daß ich nicht anders kann, als gleich zu Dir zu kommen. Mama ist nicht hier – sie weilt seit zwei Tagen bei Tante Tonia – ihr hätte ich es sonst wohl sagen können, aber anders auch, keinem als Dir Du bist meine herzige Tante Lisbeth und hast Pflästerchen auf alle Wunden.

Gestern war ich zu einem Tee geladen, weißt Du, bei Rockers auf Thomashill, wohin ich immer gern gegangen bin, denn Mary und ich verstehen uns sehr gut. Es waren nicht nur junge Mädchen da, auch mehrere Frauen und ältere Damen. Auch hatte Mary ihre beiden Cousinen bei sich, die in B. in Pension waren. Eine von ihnen spielt sehr gut Klavier, und Lilli, die jüngere, hat eine liebe, sanfte Stimme.[23] Sie bekommt auch Gesangstunden, und Mary sagte mir, daß ihre Lehrerin ihr versichert habe, Lilli sei eine ihrer begabtesten Schülerinnen. Beide, Lilli und ihre Schwester, sind sehr liebenswürdig, und obgleich letztere sie heißt Marga – ein glänzendes Examen gemacht, spricht sie nie davon; ich weiß es nur von Mary, die ganz voll von ihren Cousinen ist. Aber nun höre.

Eine der älteren Damen schlug vor, daß wir etwas musizieren sollten, und sie bat Lilli, zu singen. Lilli war sogleich bereit – sie sowie Marga kennen gar keine Ziererei – und sang »Das erste Veilchen« von Mendelssohn. Ihre Stimme klang sehr sympathisch, und wir lauschten atemlos, bis ich auf einmal ein leises Räuspern höre. Es ging von der Dame aus, die Lilli zum Singen aufgefordert hatte: sie lächelte so merkwürdig und klimperte mit dem Teelöffel gegen ihre Tasse, was ich schon sehr ungezogen fand. Dann neigte sie sich zu ihrer Nachbarin und flüsterte, aber so deutlich, daß ich es gut verstehen konnte: »Wie kann man nur von einer solchen Stimme Aufhebens machen? Nichts ist es, als ein widerliches Krächzen. Solch albernes Geschöpf.«

Tante Lisbeth, mir wurde heiß, ich biß mir auf die Lippen. Aber es sollte noch besser kommen. Lilli hatte ihr Lied beendet; man applaudierte; einige erhoben sich und – denke Dir, – auch jene, die so häßlich gesprochen hatte, gingen auf Lilli zu, und gerade diese Person, – o Tante, ich kann sie nicht anders nennen – machte ihr ein Kompliment, von dem ich nur »herrlich und entzückend« verstand. Mir[24] schwirrte der Kopf. Unauffällig bin ich hinausgegangen (vielleicht hat man es doch bemerkt), ich konnte nicht anders. Du glaubst nicht, wie mir zumute war, und ich kann es auch schwerlich richtig sagen. Ich hinterließ bei dem Mädchen, mir sei nicht gut uno einige leere Ausflüchte; ich war froh, daß ich bald im Freien war; ich hätte mich bei der Gesellschaft nicht zu halten vermocht; ja, ich hätte laut aufweinen und räsonieren, aber auf keinen Fall jener Heuchlerin höflich begegnen können. Ich habe nicht geglaubt, liebste Tante Lisbeth, daß man so etwas erleben könne; nun habe ich es leider erfahren, aber es macht mich sehr betrübt. Du weißt, daß ich jetzt nach einem Wort von Dir verlange; schreibe mir alles, auch das was ich nicht frage, Du kannst ja zwischen den Zeilen lesen. Ich bin aber noch zu erregt, um mehr zu fragen. Immer

Deine

Hildegard.


An meine Nichte Hildegard.

Mein liebes Kind!


Ich hätte aufrichtig gewünscht, die schmerzliche Erfahrung die Deine heitere Jugend so jäh durchzuckte, wäre Dir erspart geblieben. Und ich, meine Hildegard, wollen wir darin eine Zulassung Gottes sehen, aus der Dir wie aus allem, was uns begegnet, Segen erwachsen kann. Gottlob, solche Fälle wie der Deine kommen nicht allzu häufig vor; wohl[25] aber zeigen sie sich in gelinderer Form fast täglich in unseren gesellschaftlichen Kreisen.

Ich glaube, ich hätte an Deiner Stelle auch nicht anders handeln können, wie Du es getan, obschon uns dann beiden ein wenig mehr Selbstbeherrschung zu wünschen gewesen wäre. Vielleicht auch mehr Mut, um unsere Mißbilligung durch Mienen und Verhalten zu zeigen. Doch nun, die Sache kam Dir zu unerwartet, und für solche plötzliche Situationen läßt sich kaum ein bestimmtes Verhaltenvorschreiben.

Dir aber, mein Kind, laß das Vorgefallene ein Beweis sein, wie verabscheuungswürdig eine heuchlerische, ja bloß schon eine unaufrichtige Gesinnung im Verkehr mit unseren Mitmenschen ist. Und wenn eine strenge Aufrichtigkeit einem jeden zur Pflicht gemacht wird, so doch besonders der unberührten Seele eines jungen Mädchens, die nie ein Schatten von Heuchelei, Verstellung und Unaufrichtigkeit trüben sollte.

Ich werde Dir später mehr darüber sagen, mein Kind; Du hast recht: ich habe zwischen Deinen Zeilen gelesen: Du möchtest jetzt auch noch gerne wissen, wie Du Dich Deinen Freundinnen gegenüber zu verhalten hast. Wenn Du glaubst, weder Mary noch eines der anderen jungen Mädchen haben den Vorgang bemerkt, so schweige auch Du darüber; ist er ihnen aber nicht entgangen, so gestehe ohne Scheu, wie überaus peinlich er Dich berührt und sogar Dein plötzliches Zurückziehen veranlaßt habe.

Vielleicht findest Du es zu schwer, über jene Sache zu schweigen? Auf keinen Fall sei hart und[26] schonungslos in Deinem Urteil; schreibe den Fehler auf Kosten einer mangelhaften Erziehung oder auch eines erregten, nervösen Gemütszustandes. Es steht uns allen so wohl an, Milde und verzeihende Liebe in unserem Urteil walten zu lassen

So gerne ich gerade heute noch mehr schriebe, es geht nicht; aber ich hoffe, daß diese wenigen Zeilen Dir in etwas wohltun und Dir sagen, wie ich immer von ganzem Herzen und in herzlicher Liebe an all Deinen Leiden und Freuden Anteil nehme als


Deine alte

Tante Lisbeth.[27]

Quelle:
Tante Lisbeth: Anstandsbüchlein für junge Mädchen. Regensburg 4[o.J.]., S. 21-28.
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