1. Benehmen in der Gesellschaft.

[77] 1. Wenn Du in Gesellschaft bist, oder in dieselbe gehst, so gib Dir alle Mühe, Dich nach den Regeln des Anstands und der guten Sitte aufzuführen. Hier bist Du, wie auf einem öffentlichen Schauplatz, den Augen und dem Urteil der Welt ausgesetzt und Du kannst Beifall, Ehre, Vergnügen, Vorteil, oder Schande, Mißvergnügen und Schaden ernten.

2. Es ist zu unterscheiden, ob man in eine Gesellschaft geladen ist oder ob man zufällig in dieselbe kommt. Die allgemeinen Regeln für das Benehmen sind in beiden Fällen dieselben, nur für den Eintritt in eine Gesellschaft, zu welcher man geladen ist, sind einige besondere Regeln anzuführen.

3. Hast Du eine Einladung in eine Gesellschaft erhalten, so erkläre bestimmt, ob Du die Einladung annimmst oder ablehnst; bei späterer[77] Verhinderung hast Du den Gastgeber rechtzeitig davon in Kenntnis zu setzen. In der Regel hat man, sofern man mit dem Gastgeber nicht schon ziemlich bekannt ist, durch einen Besuch kundzugeben, ob man kommen kann oder nicht.

4. Bist Du zu einer Gesellschaft geladen, so kleide Dich sorgfältig und geschmackvoll an, wenn Du gleich von vornherein einen guten Eindruck bei den Anwesenden hervorrufen willst.

5. Erscheine nicht mit dem Glockenschlag, aber laß auch nicht auf Dich warten; erscheine etwa eine Viertelstunde vor der festgesetzten Zeit.

6. Beim Eintritt in die Gesellschaft begrüße zuerst die Wirtin und den Wirt und zwar erstere zuerst durch eine Verneigung, dann die übrigen Damen und dann erst die Herren, indem Du ebenfalls nach den verschiedenen Seiten hin eine Verbeugung machst.

7. Bekleidet einer unter den Gästen einen höheren Rang, so mußt Du diesen vor dem Hausherrn, nicht aber vor der Hausfrau begrüßen.

8. Bei der Begrüßung der Hausfrau bediene Dich der folgenden oder ähnlicher Höflichkeitsformeln: »Ich bin so frei, von Ihrer ehrenvollen (gütigen, freundlichen) Einladung Gebrauch zu machen.«

9. Befinden sich im Zimmer Gäste, die den Anwesenden fremd sind, so sollen sie in angemessener Form vorgestellt werden. Sind zwei Personen einander vorzustellen, so wird der Niedere dem Höheren, der Jüngere dem Aelteren, der Herr der Dame vorgestellt, indem man Namen und[78] Stand des Vorzustellenden laut und deutlich nennt. Die sich Vorgestellten machen eine Verbeugung gegeneinander und dann wartet der Niedere, beziehungsweise Jüngere, bis der Höhere oder Aeltere ein Gespräch mit ihm anknüpft. Das gleiche gilt, wenn Du Dich selbst vorstellst.

10. In jeder Gesellschaft, seiest Du in dieselbe eingeladen oder zufällig dazu gekommen, mache es Dir zum Grundsatz, Dich anderen gefällig und angenehm zu machen; gib durch Dein Betragen in allem Wohlwollen und Achtung zu erkennen; sei gegen andere, wie Du wünschest, daß man gegen Dich sei, und werde, soweit es Sittlichkeit und Unschuld erlauben, allen alles. Zeige allen, mit denen Du umgehst, ein zuvorkommendes, liebevolles Benehmen.

11. Bescheidenheit laß Deine vornehmste Tugend sein in Ausübung Deiner gesellschaftlichen Pflichten; sie ist der Grundstein derselben und gewinnt die Herzen aller derer, die uns kennen; sie empfiehlt unseren wahren Wert desto nachdrücklicher, je mehr sie ihn zu verbergen sucht.

12. Setze Dich, wenn Du den Platz wählen darfst, nicht auf den vornehmsten, sondern an einen geringeren Platz; umgekehrt weigere Dich aber auch nicht zu lange, wenn man Dich einladet, einen besseren oder den ersten Platz einzunehmen.

13. Setze Dich nicht gleich, sondern warte, bis sich etwa anwesende höhere Personen gesetzt haben. Setze Dich nie, ehe die anwesenden Damen sich gesetzt haben.[79]

14. Schaue im Gesellschaftszimmer nicht überall umher und mustere alle Gegenstände, betrachte nicht neugierig den einen oder anderen Gegenstand.

15. Stehe von Deinem Sitze auf, wenn jemand mit Dir sprechen will, besonders wenn es ein Höherer oder ein Vornehmerer ist.

16. Personen, mit denen Du sprichst, mußt Du ins Gesicht sehen und ihnen ja nicht den Rücken kehren. Das letztere würde Geringschätzung und Verachtung anzeigen; anderseits mußt Du der angesprochenen Person deshalb ins Gesicht sehen, um den Eindruck wahrnehmen zu können, den Deine Rede auf sie macht. Tritt jedoch nicht so nahe an den anderen heran, daß Du ihm den Atem ins Gesicht hauchst oder gar der Speichel ihn trifft.

17. Sprichst Du zu der ganzen Gesellschaft, so richte Deine Blicke nicht auf eine einzelne Person, sondern auf die ganze Gesellschaft.

18. Fällt einer Dame oder dem Nachbarn etwas auf den Boden, so bücke Dich alsbald, um es aufzuheben; entfällt Dir selbst etwas, so hebe es ebenfalls rasch auf.

19. Niest ein Höherer in der Gesellschaft, so verbeuge Dich höchstens, ohne etwas zu sagen.

20. Willst Du in einer Gesellschaft jemand etwas geben, so stehe auf und mache eine leichte Verbeugung. Reiche aber die Sache nicht vor einer höheren Person, sondern hinter ihr her.

21. Mußt Du von einer Seite zur anderen gehen, so gehe nicht, wenn irgendwie möglich, vor anderen Personen vorüber, sondern hinter ihrem[80] Rücken weg; kannst Du dies nicht thun, oder wären sie genötigt, von ihrem Platze zu rücken oder aufzustehen, so erbitte Dir höflich die Erlaubnis, vor ihnen vorüber zu gehen.

22. Einen Höheren, mit dem Du sprechen willst, am Kleide zu zupfen oder ihm von ferne zuzurufen oder zu winken, wenn Du mit ihm sprechen willst, wäre sehr unartig; warte unter allen Umständen, bis er Dich bemerkt.

23. Hüte Dich, zu schlummern, während andere reden, oder Dich zu setzen, während sie stehen, oder auf und ab zu gehen, während sie an einem Platze bleiben.

24. Ueber Husten, Räuspern, Niesen, Ausspucken siehe das unter »Reinlichkeit« (S. 25, 7 u. 8) Gesagte.

25. Mußt Du gähnen, so geschehe es geräuschlos und indem Du das Taschentuch oder die Hand vor den Mund hältst und das Gesicht ein wenig zur Seite wendest. Im übrigen ist das Gähnen in einer Gesellschaft ganz verpönt.

26. Gib jedem seinen gebührenden Titel und verwechsle sie nicht (siehe S. 73, 2 u. 3). Frauen werden mit dem Amtstitel ihres Mannes angeredet: »Frau Direktor, Frau Rat, Frau Lehrer.«

27. Sei nicht furchtsam und blöde in der Gesellschaft, nicht allzu schüchtern. Ein Mensch von guter und seiner Lebensart tritt mit einem ungezwungenen und angenehmen Wesen und mit einer bescheidenen Zuversicht auf, redet selbst Leute, die er nicht kennt, auf eine zwanglose, natürliche Weise, ohne die mindeste Verlegenheit an, ahmt[81] die Manieren der gesitteten und seinen Welt nach und schickt sich mit Gewandtheit und Leichtigkeit in ihre Sitten und Gebräuche.

28. Dränge Dich aber anderseits auch nicht vor; übernimm nicht unaufgefordert die Rolle eines Erzählers und suche nicht mit Deiner Rednergabe zu glänzen.

29. Ist eine Gesellschaft in mehrere Parteien geteilt, so dränge Dich nicht bei solchen ein, die über Dir stehen, es sei denn, daß sie Dich zur Teilnahme an ihrem Gespräch einladen; halte Dich vielmehr an Deinesgleichen.

30. Sei aufmerksam auf die Person, mit welcher Du sprichst, vorab wenn es ein Höherer ist; durch Unaufmerksamkeit gibst Du stillschweigend zu erkennen, daß das, was Dein Gesellschafter mit Dir spricht, für Dich keinen Wert habe. Es ist Gesellschaftspflicht, denen, mit welchen man spricht, willig das Ohr zu leihen, auch wenn das Gespräch noch so unbedeutend wäre, wenn es nur nicht die guten Sitten verletzt.

31. Schenke namentlich jenen Personen doppelte Aufmerksamkeit, welche an Geist, Rang und Geburt unter Dir stehen, und begegne ihnen mit solcher Achtung und Annäherung, daß die Herzen gewonnen werden und keine unangenehmen Empfindungen entstehen.

32. Es ist eine Pflicht der Höflichkeit und Nächstenliebe, den Bescheidenen, Verdienstvollen, der oft nur über die Achsel angesehen wird, wo Rang und Glanz anderer seinen inneren Wert verdunkeln und der Schwätzer den Weisen überschreit, den,[82] der stumm und verlegen dasteht, von niemand angeredet, mit Verachtung behandelt, gedemütigt, ja vielleicht lächerlich gemacht wird, aus seinem Dunkel hervorzuholen und ihn durch ehrenvolles, freundliches Zureden in gute Laune zu setzen. Man gibt ihm dadurch Gelegenheit, sich von seiner ausgezeichneten Seite zu zeigen.

33. Sei überhaupt aufmerksam auf alles, auf jeden kleinen Vorfall in der Gesellschaft. Beobachte die Bedürfnisse und Verhältnisse, den Charakter der Gesellschaftsmitglieder, wie die Gegenstände ihrer Unterhaltung, sowie alles, was geredet und gethan wird. Die Bemerkungen benutze sowohl jetzt als später und richte Dich weislich nach ihnen im gesellschaftlichen Umgang.

34. Während der Unterhaltung mit jemand mit etwas zu spielen, Briefe zu lesen oder irgend ein anderes Geschäft zu treiben, ist sehr unanständig und ungezogen.

35. Unterbrich einen Sprechenden nicht und widersprich ihm vorsichtig, werde ihm auch nicht durch vieles Fragen lästig. Schäme Dich jedoch nicht, da und dort bescheiden eine Frage zu stellen, wenn es zu Deiner Belehrung dient. In diesem Falle entschuldige Dich, daß Du Dir zu fragen erlaubst.

36. Gib Dein Urteil bescheiden ab und so, daß es nicht den Anschein gewinnt, als seiest Du unfehlbar.

37. Mische Dich nicht ohne Not in die Gespräche anderer und ganz besonders antworte nicht, wenn Du nicht gefragt wirst; Du könntest sonst in die[83] Lage kommen, daß man Dir bedeutet, die Sache gehe Dich nichts an.

38. Wenn Du auf eine Frage zu antworten hast, so antworte bescheiden, klar, deutlich und vollständig. Gib nie eine halbe, verdächtige oder spöttische Antwort, namentlich keine, wodurch der Sprechende selbst oder ein Abwesender beleidigt werden könnte. Es wäre das höchst lieblos.

39. Fängt ein Aelterer oder Höherer mit Dir zugleich zu sprechen an, so bitte ihn, sich zuerst auszusprechen, und warte dann bescheiden, bis er fertig ist.

40. Bist Du mit jemand im Gespräch begriffen und es kommt ein Dritter hinzu, so muß dieser von dem Gegenstand des Gespräches unterrichtet werden. Dasselbe gilt, wenn jemand während eines Gespräches in eine Gesellschaft tritt. Nie aber darfst Du selbst fragen: » Wovon sprechen Sie?« oder: »Wovon spricht man?« Wirst Du von jemand zur Seite gerufen und in ein Gespräch verwickelt, so brich das Gespräch nicht ab, wenn ein Dritter hinzutritt, setze denselben vielmehr ebenfalls von dem Inhalt des Gesprächs in Kenntnis, damit er nicht etwa glaubt, es werde von ihm gesprochen.

41. Ist ein anderer mit jemand in einem Gespräche begriffen und Du kommst hinzu, so mußt Du in angemessener Entfernung das Ende des Gesprächs abwarten.

42. Bist Du mit jemand in einem Gespräche begriffen und es fällt in der Nähe eine Lächerlichkeit vor, so lache nicht; laß Dich überhaupt[84] nicht im Gespräche stören; der andere könnte sonst meinen, das Benehmen gelte ihm.

43. Wird irgend ein Gegenstand in der Gesellschaft vorgezeigt, so warte bescheiden, bis die Reihe, ihn zu besichtigen, an Dich kommt und greise ihn dann behutsam an.

44. Ist das, was vorgezeigt wird, etwas Merkwürdiges oder Außerordentliches, so bewundere es nicht zu sehr und zu laut; es verrät dies Mangel an Verstand, und es sieht aus, als ob Du noch nie Gelegenheit gehabt hättest, merkwürdige Dinge zu sehen. Umgekehrt zeige auch nicht zu große Gleichgültigkeit, sondern beweise die dem gezeigten Gegenstand gebührende Aufmerksamkeit; lobe, was Lob verdient.

45. Lache nicht zu laut und lache nicht heimlich; dies ist beleidigend, besonders wenn es scheint, als sei ein anderer, auf den man zufällig hinblickt, der Gegenstand Deines Gelächters.

46. Wenn Du von einem anderen in der Gesellschaft Anwesenden sprichst, so sieh' ihn nicht an oder weise gar mit Fingern auf ihn.

47. Sprich nicht zu laut und nicht zu leise, jedoch so deutlich, daß Dich jedermann versteht.

48. Mische Deine Reden nicht mit Fremdwörtern; dies ist einerseits sehr abgeschmackt, anderseits kommst Du in Gefahr, ein Fremdwort am unrechten Platze oder in unrechtem Sinne anzuwenden und machst Dich dadurch lächerlich.

49. Sprich richtig. Vermeide alles Stammeln, Stottern, Verschlucken der Silben.

50. Sprich mit niemand heimlich, flüstere[85] niemand ins Ohr, besonders nicht Damen, und nichts über anwesende Personen.

51. Hast Du mit jemand leise etwas zu sprechen, was jedoch nur in ganz dringenden, wichtigen Angelegenheiten geschehen darf, so benütze dazu einen Augenblick, wo die übrige Gesellschaft unter sich so lebhaft beschäftigt ist, daß sie ihr Augenmerk nicht auf Dich richtet. Die gegenseitige Mitteilung muß in aller Kürze und möglichst unauffällig geschehen.

52. Sei nicht zu empfindlich und gleich beleidigt; andere machen oft diese oder jene Bemerkung, ohne daß es ihnen in den Sinn kommt, Dich beleidigen zu wollen. Ist die Beleidigung geringfügig, so nimm sie mit Spaß auf; ist sie erheblich, so verteidige Dich und zeige höflich, daß man Dir Unrecht thue; fährt man dessenungeachtet mit der Beleidigung fort, so suche Dir Ruhe und Schutz zu verschaffen, aber ohne daß die übrigen Gesellschaftsmitglieder mehr als nötig belästigt werden.

53. Entsteht ein Wortwechsel zwischen anderen, so suche zu vermitteln, indem Du das Gespräch auf andere Gegenstände lenkst; richtest du durch Deine Vermittelung nichts aus, so ist Schweigen das beste.

Quelle:
Vogt, Franz: Anstandsbüchlein für das Volk. Donauwörth [1894] [Nachdruck Donauwörth 21987], S. 77-86.
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