X. Rückfällig.

[54] Während der Zeit der Haft ist von uns durchaus keine Verabredung getroffen worden, später gemeinsam Verbrechen zu verüben.

Da wir ungefähr zu gleicher Zeit entlassen wurden und ich vorläufig noch in Posen blieb, so führte er mich in seine Familie ein. Dadurch wurde der Verkehr mit ihm noch intimer. Schließlich war ich mit meiner Barschaft zu Ende, meine Stellung hatte ich verloren, und man kann eine neue unter solchen Umständen nicht gleich erhalten.

Allmählich trat mir nun Kallenberg mit dem Ansinnen näher, ein neues Geschäft mit ihm zu machen.

Anfangs sträubte ich mich dagegen, aber wie steter Tropfen den Stein höhlt, so ließ ich mich, mit Rücksicht auf den bevorstehenden Winter und die augenblicklichen Bedrängnisse, in der ich mich mit meiner Kasse befand, hinreißen. Es ist mir heute noch nicht verständlich, wie er mich, der ich doch älter und auch erfahrener war, so auf seine Seite bekommen hat!

Genug, wir begaben uns nach Wongrowitz, brachen dort in die Gerichtskasse ein und öffneten die Behältnisse. Während wir dabei beschäftigt waren, bemerkte die Frau des Oberaufsehers, daß in dem Kassenzimmer Geräusch war. Sie weckte ihren Mann, dieser rief noch einige Beamte zu Hilfe und sie umstellten das Kassenzimmer.[55]

Ich hörte noch rechtzeitig genug das Geräusch der herannahenden Leute, und es entstand nun die Frage für uns: Was sollen wir tun?

Mein Genosse war gewillt, von seiner Waffe Gebrauch zu machen, nicht etwa um zu töten, sondern weil er sich des Eindrucks bewußt war, den ein abgefeuerter Schuß mitten in der Nacht immer ausübt!

Ich aber sah weiter, oder ich glaubte wenigstens weiter zu sehen. Der Schuß konnte treffen und einem oder mehreren Menschen das Leben oder die Gesundheit kosten.

Ich rechnete auch damit, daß der Gerichtshof diesem freiwilligen Verzicht auf den Gebrauch der Waffe Rechnung tragen würde, und zog es deshalb vor, keinen Widerstand zu leisten.

Wie die spätere Entscheidung zeigt, hatte ich mich im Urteil der Richter getäuscht. Und das war nicht die einzige Überraschung, die mir bevorstand. Wir ließen uns also ohne Widerstreben in die Gefängnisräume überführen, der Kassenbestand blieb natürlich in den Räumen des Kassengebäudes zurück.

Nachdem die Räumlichkeiten von den Beamten geschlossen waren, wurde noch in der Nacht der Rendant der Kasse geholt.


Er überzählte und rechnete, und da fehlte plötzlich ein Betrag von mehreren hundert Mark!


Es gab nur zwei Möglichkeiten: entweder der Kassenbeamte hat die fehlenden Gelder unterschlagen, oder aber die Beamten haben die Gelegenheit benutzt, um sich vorerst die Taschen zu füllen.


[56] Unsere Taschen sind natürlich auf das sorgfältigste untersucht worden, die Taschen der Beamten jedoch nicht!


Ich muß hier bemerken, daß wir nicht etwa über Höfe und Straßen, sondern direkt aus dem Gewölbe in die Gefängnisräume übergeführt worden sind.

Bei der Aufzeichnung meiner eigenen Gegenstände vermißte ich am folgenden Tage meine Taschenuhr.

Der Gefängnisaufseher, der die Uhr selbst von mir übernommen hatte, behauptete auf das entschiedenste, daß ich überhaupt keine Uhr bei mir gehabt hätte, sondern nur eine Kette.

Auf meinen energischen Protest beim Untersuchungsrichter unternahm derselbe in eigener Person die Visitation des ganzen Hauses, wohl in der stillen Hoffnung, daß vielleicht mit der Uhr die Spuren noch anderer Verbrechen zu finden seien, die ich begangen hätte.

Am vierten Tage nach meiner Verhaftung fand er


die Uhr in einem Unratkübel unter Menschenkot.


Und zwar war er durch den harten Schlag, den der Gang der Uhr hat, wie er selbst erklärte, aufmerksam geworden.

Da meine Uhr aber nach einmaligem Aufziehen nur 36 Stunden läuft, so war es klar, daß die Uhr im Besitze anderer Personen gewesen und im letzten Moment, aus Furcht vor dem Untersuchungsrichter, in den Eimer versenkt worden war.[57]

Unter diesen Umständen drang ich dem Untersuchungsrichter gegenüber auf die weitgehendste Nachforschung, aber leider ohne Erfolg!

Die Untersuchung betrat schon im Anfang Bahnen, die unmöglich zum Ziel führen konnten. Und ich hatte leider damals noch zu wenig Kenntnis von der Strafprozeßordnung, sonst hätte ich mich energischer gewehrt.

Der Termin war kurze Zeit nach meiner Verhaftung. Die bei der Verhaftung zugegen gewesenen Personen waren als Zeugen geladen; auch der geschäftsführende Landrichter von Wongrowitz.

Ich hatte das größte Interesse daran, daß die Zeugenvernehmung vor den Richtern stattfand.

Der geschäftsführende Richter wünschte, schon um die Kassenangelegenheiten genügend aufklären zu können, die weitgehendste Untersuchung.

Nichtsdestoweniger schloß der Vorsitzende die Beweisverhandlung mit Ausschaltung der gesamten geladenen Zeugen, ohne dazu von mir, wie es die Prozeßordnung doch vorschreibt, die Genehmigung einzuholen und sie protokollarisch festzulegen. Heute könnte mir so etwas nicht mehr passieren.

Der Richter hat hier offenbar unter dem Eindruck gestanden, daß, wäre er wirklich zur Zeugenvernehmung geschritten, es höchstwahrscheinlich notwendig geworden wäre, einige Zeugen aus dem Zeugenraum in die Anklagebank überführen zu lassen. Daß ihm das unter solchen Umständen, wo es sich um Beamte handelte, sehr unangenehm gewesen wäre, ist begreiflich.[58]

Mir und meinem Genossen aber wurde dadurch jede Aufklärung und Verteidigung unmöglich gemacht.

Selbst die wichtigste Frage, ob wir auf den Gebrauch der Waffe freiwillig verzichtet hätten oder durch die Beamten an unserem Vorhaben gehindert worden seien – was bei der Strafabmessung von größter Bedeutung war –, konnte aus den vorbezeichneten Gründen nicht entschieden werden.

Ich stand nun unter dem Eindruck, daß der Gerichtshof meinen Ausführungen, wie ich sie in der Voruntersuchung zu den Akten gegeben hatte, vollständig Glauben schenkte und deshalb auf das Beweismittel der Zeugenvernehmung verzichtet hatte.

Man kann sich denken, welch eine an Entsetzen grenzende Überraschung mich erfaßte, als der Staatsanwalt bei seinem Plädoyer darauf hinwies, daß wir nur durch Überraschung am Gebrauch der Waffe gehindert worden seien, und ein Strafmaß von


fünfzehn Jahren Zuchthaus


beantragte.

Auch meine Hoffnung, daß ein offenes Geständnis, das ich sowohl wie mein Genosse abgelegt hatten, uns auf Grund des Strafgesetzes zu einem milderen Urteil verhelfen würde, erfüllte sich nicht. Der Gerichtshof schloß sich nämlich dem Antrage des Staatsanwalts voll und ganz an. Der Gerichtshof hatte also ein Urteil gefällt, das nach meiner Meinung weder mit dem Strafgesetze noch mit der Strafprozeßordnung in Einklang zu bringen war.

Ich hatte das Gefühl, daß durch verschiedene Umstände ein Urteil geschaffen wurde, das durch Rechtsmittel angreifbar[59] sein mußte. Leider aber wußte ich nicht, welchen Weg ich betreten oder welches Rechtsmittel ich anwenden mußte, um eine Aufhebung oder Abänderung des Urteils herbeizuführen.

Ich hatte wohl dunkel davon gehört, daß man gegen ein Urteil appellieren oder Revision einlegen könne, wußte aber nicht, welchen Weg ich dazu einschlagen mußte.

Nach meiner Zurückführung in die Gefängnisräume bat ich sofort um einen Gerichtsschreiber, um das erforderliche Rechtsmittel einlegen zu können. Dieser erschien jedoch erst am neunten Tage nach meiner Verurteilung, und schon am elften wurde ich in die Strafanstalt Rawitsch übergeführt.

Quelle:
Voigt, Wilhelm: Wie ich Hauptmann von Köpenick wurde: mein Lebensbild. Leipzig; Berlin 1909, S. 54-60.
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