10. »Och, das sieht ja doch keiner«

[50] Der Rückweg meines Nachmittagsspaziergangs führt mich heute an dem Siedlungshaus meines Freundes Adalbert Rübenkraut vorbei und da fällt mir ein, daß ich ihn etwas fragen wollte. –

»Jawohl«, sagt die Gattin bei der Begrüßung, »er ist da. Er ist erst vor zehn Minuten aus dem Garten gekommen. Sie müssen schon entschuldigen, daß er nicht angezogen ist.«

Adalbert sitzt im Wohnzimmer am Tisch und liest die Zeitung. Sofort kommt er, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, auf mich zu. Unwillkürlich mustere ich ihn mit einem Blick. Sein Haar ist arg zerzaust, der schöne Scheitel ist futsch. Seine linke Backe ziert ein zarter Schmutzstreifen. Einen Kragen hält Adalbert für entbehrlich, ebenso zwecklos wird er es gefunden haben, Kragen und Krawatte einzubinden. Auch den Rock hält er für überflüssig, so daß ich seine Hosenträger »bewundern« kann.

Die Reinigung der Hände scheint nur oberflächlich vorgenommen zu sein, denn die Fingernägel – brrr!

»Du mußt schon entschuldigen«, meint er, »daß ich so aussehe, aber hier zu Haus sieht es ja doch keiner.«

Was ist dazu zu sagen? – Selbstverständlich hat jeder das Recht, sich das Leben in seinen eigenen vier Wänden so bequem und behaglich wie nur möglich einzurichten. Aber zwischen Bequemlichkeit und rücksichtsloser Lodderigkeit ist doch ein himmelweiter Unterschied. Einem Mann wird es niemand verübeln, wenn er daheim eine leichte, bequeme Hausjacke trägt und an den Füßen leichte Schuhe mit Absätzen.

Auch die Frau wird sich im Kreise der Familie anders kleiden als zu einer Teegesellschaft. Grundsätzlich sollte es die Frau vermeiden, abgetragene seidene oder andre Gesellschaftskleider im Hause ganz »aufzutragen«. Vielleicht läßt sich etwas andres daraus machen, aber in die Hauswirtschaft gehören solche Sachen nicht.[50]

Eine feinfühlende Frau wird auch daheim immer sauber und ordentlich gekleidet sein. Ein einfach gehaltenes, waschbares Hauskleid mit geschmackvoller Schürze läßt sie stets anmutig erscheinen. So angezogen braucht sie auch keinen Besuch zu scheuen.

Auch ihr Kopf soll gut aussehen. Die Frau braucht keineswegs immer hoch frisiert zu sein. Aber das Haar soll doch immer einen straffen und gepflegten Eindruck machen.

Der elegante Schuh ist im Haus entbehrlich. Eine praktische, bequeme Fußbekleidung ist angebracht. Pantoffeln gehören aber grundsätzlich nur ans Bett.

Wenn der Herr des Hauses mit strubbeligem Haar, ohne Kragen und Krawatte, mit sichtbaren Hosenträgern und zerschlissenen Filzpantoffeln am Tisch sitzt, so ist das rücksichtslos, unästhetisch und töricht.

Rücksichtslos ist es insofern, als Adalbert seinen Angehörigen einen Anblick zumutet, den er bestimmt andern Menschen ersparen wurde. Wir werden über das Taktgefühl gegenüber den eigenen Familienangehörigen im nächsten Abschnitt noch mancherlei zu sagen haben.

Unästhetisch ist solch eine Nachlässigkeit in hohem Maße, denn ein Mann mit Geistes- und Herzensbildung wird immer Feingefühl und Geschmack haben und zeigen. Sein ästhetisches Empfinden wird Unsauberkeit und Lodderei am eigenen Körper in keinem Falle dulden.

Außerdem ist solch ein Verhalten, wie wir es bei Adalbert beobachteten, töricht, denn wer im Verkehr mit Menschen, in Beruf und Gesellschaft gern gesehen sein will, wer überall einen guten Eindruck machen möchte, bedarf in erster Linie straffer Selbstzucht. Sein Grundsatz muß sein, sich in keiner Lebenslage gehen zu lassen. Wer nur unter fremden Menschen, vielleicht verzweifelte, Anstrengungen macht, einen »gebildeten Menschen 'rauszubeißen«, sich sonst aber seinen übertriebenen egoistischen und unästhetischen Gewohnheiten rücksichtslos hingibt, der wird auch in Beruf und Gesellschaft stets ein Benehmen an den Tag legen, dem das Talmi auf die Stirn geschrieben ist.

Ein wirklich feines Benehmen hat nur der, der immer auf Formen und guten Ton hält, der sich daheim im Kreis[51] der Familie, ja auch, wenn er ganz allein ist, ebenso beträgt und bewegt, wie in einem Kreis von Freunden oder Fremden.

Das ist eher eine Feststellung als eine Lehre, denn Taktgefühl und Feinsinn sind in erster Linie Regungen des Herzens. Das Äußere entwickelt sich ja aus dem Innern, sonst ist es unecht. Man wird also in der Regel annehmen können, daß es einem Menschen, der sich zu Haus in rücksichtsloser und ungebührlicher Weise gehn läßt, an allgemeiner Bildung mangelt.

Fraglos ließe sich über den Bildungsgrad eines Menschen dann am besten urteilen, wenn man einmal beobachten könnte, wie er sich benimmt, wenn er allein, wenn er also ohne Aufsicht der Umwelt ist. Dann nämlich ist der Mensch wahrhaft echt.

Der Dichter I. L. Evers begann Ende des 18. Jahrhunderts seine 400 Lieder, die er der »geselligen und einsamen Fröhlichkeit« gewidmet hat, mit dem Wort:

»Was ist der Mensch? – Halb Tier – halb Engel.«

Wir wollen uns nicht täuschen und auch nicht übertreiben, aber es gibt genug Zeitgenossen, die allein mehr Tier, in Gesellschaft mehr Engel sind.

Bitte folgen Sie uns einmal auf einer besinnlichen Gebirgswanderung. Aber Sie müssen die Augen recht schön aufmachen. Was sehen wir da neben den uns vielleicht überwältigenden Naturschönheiten? – An vielen Lagerplätzen liegen Stullenpapier, Eierreste und Apfelsinenschalen herum. Wegweiser sind von Bubenhand beschädigt oder ganz abgeschlagen, Bänke in rohester Weise zertrümmert, kleine zarte Fichten ihrer schönen Kronen beraubt. – Und nun treten wir in jene Schutzhütte ein, die naturliebende Menschen in uneigennütziger Weise dem Wanderer bauen ließen, der Erholung und Schutz vor böser Witterung sucht. Sämtliche Fensterscheiben sind eingeworfen, die Wände sind verunziert oder beschädigt und auf dem Fußboden liegen neben leeren Büchsen und andern Speiseresten die Trümmer der Bänke herum. Vielleicht ist nur der schwere Tisch in der Mitte noch heil, weil er der Zerstörungswut tierischer Menschen trotzte.[52]

Menschen, die hier gehaust und gewütet haben, wußten, daß sie allein waren, sonst hätten sie es bestimmt nicht getan. Als sie aber vielleicht eine Stunde später in einer gut besuchten Gaststätte sehr brav und züchtig saßen, da bemühten sich die Tier gewesenen Menschen als Engel zu erscheinen.

Beim Menschen ist nicht immer das gut, was einen guten Eindruck macht. Vieles, was gut erscheint, wird nur darum getan, weil es die andern sehen oder erfahren. Oft auch meidet der Mensch das Schlechte und Böse nur darum, weil er sonst mit Unannehmlichkeiten oder Strafe rechnen müßte.


10. »Och, das sieht ja doch keiner«

Wer in einem belebten Park einen Briefumschlag mit fünfhundert Mark findet und den Fund sofort abliefert, soll sich seiner Ehrlichkeit nicht allzulaut rühmen, denn wahrscheinlich handelt er so, weil er damit rechnen muß, beobachtet zu sein. – Wer aber den gleichen Fund in fremder und völlig einsamer Gegend macht und die Gewißheit hat, daß niemals ein Mensch davon etwas erfahren wird und trotzdem das Geld der Polizeibehörde übergibt, der ist ehrlich. – Maßgebend ist also nicht immer die Handlung, sondern die Überlegungen und Motive, die den Menschen dazu veranlaßt haben. Das, was der Mensch in seiner Einsamkeit ohne Beobachtung und Wissen der Umwelt tut, ist also in gutem wie in schlechtem Sinne echt.

So läßt also auch das Verhalten und Benehmen des Einzelnen innerhalb seiner vier Wände mancherlei Schlüsse zu. Es ist aber, wie bereits angedeutet, nicht zu leugnen, daß ein Mensch in Gesellschaft seiner Mitmenschen niemals sympathisch erscheinen wird, wenn er sich daheim gehn läßt.[53]

Von der Kleidung sprachen wir bereits, haben aber noch nicht alles gesagt. Unverzeihlich und zugleich töricht ist es, nur auf das Wert zu legen, was die andern sehen und alles zu vernachlässigen, was die andern nicht sehen. Wer in einem eleganten Anzug und modischem Oberhemd aber schmutziger und zerrissener Unterwäsche herumläuft, kann sich selbst nicht achten und darf sich nicht wundern, für einen Snob gehalten zu werden.

Wer sich zu Hause dauernd am Tisch herumflegelt, beim Essen die Unterarme auf den Tisch legt, die Suppe schlürft, auch mal mit dem Messer ißt oder mit dcm Fingernagel zwischen den Zähnen herumstochert, alles in dem Bewußtsein »och, das sieht ja doch keiner«, wird sich auch in guter Gesellschaft nicht richtig benehmen. Seinen Mangel an Taktgefühl wird er nie verbergen können.

Jeder hat wohl den Wunsch, gewandt sprechen und lebendig plaudern zu können. Das wird aber nur der erreichen, der »immer strebend sich bemüht«, wie der Engel in Goethes Faust sagt, sich auf dem Gebiet der Redekunst zu vervollkommnen. Jede Möglichkeit einer Veredlung seiner Sprache soll er suchen, jede Möglichkeit der Verflachung aber meiden.

Höchst verwerflich ist es, egal mit Kraftausdrücken um sich zu werfen, wie man es bei Menschen beobachten kann, die entweder von roher Lebensart sind oder andern »imponieren« wollen. Wir meinen jene Leute, die in der geringsten Unordnung »eine verfluchte Sauerei« sehen und jede kleine Unannehmlichkeit mit »Das ist ja zum Kotzen!« kritisieren. Das sind meist sehr unleidliche Volksgenossen. Natürlich wenden sie diese häßlichen Kraftausdrücke meist nur in kleinstem Kreis im Beruf oder in der Familie an. Sie fühlen dabei offenbar gar nicht, daß sie mit solchen üblen Angewohnheiten sich selbst die Chance zerschlagen, in einer gediegenen Gesellschaft nett plaudern zu können.

So gibt es noch eine ganze Anzahl häßlicher Angewohnheiten, auf die wir übrigens noch zu sprechen kommen werden, die der Mensch trotz guten Willens nie ablegen wird, wenn er ihnen zu Haus rücksichtslos freien Lauf läßt.

Gang und Haltung sind ebenfalls stark davon abhängig, wie man sich zu Haus bewegt. Wer auch in dieser Hinsicht[54] nach dem Rezept verfährt »och, das sieht ja doch keiner«, in seiner Wohnung immer mit lässig gesenktem Kopf und krummem Rücken, mit schlenkernden Armen und Beinen herumlatscht, der wird in der Öffentlichkeit sich auch nicht anders bewegen können. Es sei denn, daß er sich dort gewaltig zusammenreißt. Dann aber läuft er Gefahr, eine lächerliche Figur zu machen.

Der Mensch soll, wenn er allein ist, nicht nur auf seine körperliche Haltung achten, sondern sie immer zu bessern versuchen. Dies Ziel erreicht er am besten durch regelmäßige Gymnastik. Vor allem sollte er auf eine Gelenkigkeit der Hüften hinarbeiten. Hat er das erreicht, so wird er stets gelenkig sein und einen körperlich guten und elastischen Eindruck machen.

Was sonst noch alles mit einem schlechten Benehmen im Kreis der Familie angerichtet werden kann, darüber wollen wir jetzt plaudern.

Quelle:
Volkland, Alfred: Überall gern gesehen. Mühlhausen i. Thüringen 1941, S. 50-55.
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