Rund um die Lüge

[98] Baccalaureus sagt in Goethes Faust im zweiten Teil, zweiter Akt:

»Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist«

und Max Nordaus brachte 1883 das damals viel gelesene Buch »Die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit« heraus. Schon zwanzig Jahre früher sprach der Kultur- und Literaturhistoriker Johannes Scherr von dem »hölzernen Joch der konventionellen Lüge«.

Was ist nun damit? – Nun, es hat Zeiten gegeben, in denen man die konventionelle Lüge für durchaus statthaft hielt. Heute ist solch eine Auffassung nicht mehr am Platze. Da sie aber längst noch nicht tot ist, sollte man ihr überall entgegentreten.

Die konventionelle Lüge kennt keine bestimmten Grenzen. Darin liegt die wesentliche Gefahr. Unter ihrem Deckmantel kann frisch drauflosgelogen werden. Konventionellen Zwang, wie ihn sich früher bestimmte Gesellschaftskreise selbst vorschrieben, brauchen und wollen wir nicht mehr, denn Taktgefühl ist etwas ganz andres, und Herzensbildung kann auf die konventionelle Lüge durchaus verzichten.

Setzen wir an die Stelle des überlebten Begriffs liebenswürdige Offenheit mit dem bewußten Körnchen Lebensklugheit, dann haben wir das, was uns not tut und einer fortschrittlichen Kulturnation würdig ist. Damit kommt auch[98] der Einzelne weiter und verscherzt sich nicht die Sympathie seiner Mitmenschen, die oft viel schlauer sind, als wir annehmen und die konventionelle Lügen lächelnd durchschauen.

Ähnliches gilt für die Notlüge, die in den meisten Fällen auch nichts weiter ist als eine faule Ausrede, eine verkappte Unwahrheit, eine in der Not geborene Lüge. Die Notlüge öffnet kleinen, manchmal sogar großen Lügen Tür und Tor. Auch damit sollten wir aufräumen. Mit Aufrichtigkeit kommen wir immer am weitesten.

Allerdings gibt es auch einzelne Fälle, in denen eine Notlüge berechtigt ist, in denen sie gewissermaßen zu einer frommen Lüge wird. Wenn nämlich einer unsrer Angehörigen schwerkrank ist und der Patient viel Kraft und Selbstvertrauen zur Wiederherstellung braucht, so werden wir ihn nicht darüber aufklären, daß der Arzt den Krankheitsfall vielleicht für ernst hält. Sonst könnte er jedes Selbstvertrauen verlieren und den Willen zum Gesundwerden, den besten Heilfaktor, wesentlich schwächen.

Der griechische Philosoph Plato sagt: »Den Ärzten ist allein die Lüge erlaubt, denn sie müssen zu manchem Patienten sprechen, daß es gut steht, obgleich sie wohl wissen, daß der Kranke sterben muß.«

Quelle:
Volkland, Alfred: Überall gern gesehen. Mühlhausen i. Thüringen 1941, S. 98-99.
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