[114] Die Wohnung zu finden, war nicht ganz leicht. Der Marktflecken Prökuls bestand eigentlich nur aus einer Kirche, dem Pfarrhause mit Wirtschaftsgebäuden, dem Pfarrwitwenhause, der Schule mit der Wohnung für den Lehrer (Präzeptor genannt), einem Wirtshause mit Kramladen und Stallungen und einem Gutshofe, sämtlich auf und dicht neben einem mässigen Hügel um einen grossen, ungepflasterten Markt herum gelegen, über welchen von der Chaussee ab ein Weg führte, der sich auf der anderen Seite nach dem etwa eine halbe Meile entfernten Haff fortsetzte. Unterhalb des Hügels traf man gleich rechts auf einen neugebauten zweiten Krug und links auf das Gerichtsgebäude mit dem dahinterliegenden Gefängnis. In dem unteren Stock befanden sich die Räume für das Gericht, Verhandlungs- und Bureauzimmer, der obere Stock diente dem Richter als Amtswohnung. Sie war übermässig geräumig, besonders wenn noch die vier dazu gehörigen Dachstuben in Betracht gezogen wurden, und es hätten gut zwei Familien darin Platz gehabt, aber es war da leider nur eine Küche vorhanden, und an den Umbau zu den Zwecken einer zweiten Wohngelegenheit konnte bei der bekannten Sparsamkeit des Fiskus um so weniger gedacht werden, als ja noch nicht einmal feststand, dass eine zweite Richterstelle[115] werde genehmigt werden. Im Gerichtshause konnte ich also mit Frau kein Unterkommen finden.
Hundert Schritte weiter folgte ein kleines Häuschen, in welchem der Rechtsanwalt Schulz schon recht beschränkt wohnte. Es gehörte zum »Gut Prökuls«, das über ein zweites Mietshaus nicht verfügte. Damit war in dieser Richtung überhaupt die Grenze erreicht. Wendete man sich wieder der Chaussee zu, so hatte man jenseits des sich in einer Schleife nahe heranziehenden Mingeflüsschens eine Windmühle und in einiger Entfernung die dazu gehörigen Häuser. In dem einen derselben, dicht am Wege gelegen, befand sich die Apotheke. Der Apotheker war ein Junggeselle und bei ihm wohnte der Doktor, gleichfalls ein Junggeselle. Auch hier war für mich kein Raum frei.
Es wurde hin und her beraten. Endlich meinte der freundliche Rechtsanwalt eine Möglichkeit entdeckt zu haben. Meine Ansprüche müssten aber jedenfalls sehr bescheiden sein. Er führte mich nun um den Ort herum, durch ein Kiefernwäldchen mit dichtem Unterholz, liess mich einige Gräben überspringen und zeigte mir auf der anderen Seite der sandigen Landstrasse (es war dieselbe, welche über den Markt hin die Richtung nach dem Haff fortsetzte), ein kleines Haus mit rotem Ziegeldach hinter einem recht sauberen, von einem Staketenzaun eingefassten Gärtchen, nach den Bäumen darin zu schliessen noch sehr junger Anlage. Es gehörte nebst einigen Morgen Ackerland dem früheren Gendarm Wetzker, welcher jetzt die Gefangenen bespeiste. Er habe davon gesprochen, dass er eine Wohnung vermieten könne.
Das Haus lag ganz allein, eine achtel Meile vom Ort, aber es sah jetzt im Frühling recht einladend aus, und auch das nahebei sich lang hinstreckende Wäldchen gefiel mir und die weite Aussicht über die Haide, das braune, von glitzernden Wassergräben durchzogene Moor, den hellen schmalen Haffstreifen, auf die Nehrung und geradeaus auf die dunklen Berge von Schwarzort. Wir gingen also hinein,[116] die Wohnung zu besehen. Da sollte nun links vom Flur die blaugestrichene zweifensterige Stube für mich sein und nach dem Hof hin ein Stübchen mit einem Fenster und eine Kammer daneben mit einem halben. Die Küche erbot sich Herr Wetzker gegen eine kleine Vergütung neben der Hinterstube einzurichten, und sogar ein besonderes Entree wollte er vorn durch eine Bretterwand abschlagen, sodass ich die vordere Hausthür ganz für mich hätte. Die Miete sollte dann fürs Jahr fünfzig Thaler betragen. Über den billigen Preis war ich im Herzen sehr froh.
Aber auch darüber, dass eine teuerere und geräumigere Wohnung gar nicht zur Wahl kam. Wir wären in Verlegenheit gewesen, sie zu möblieren. Denn unsere Mittel waren knapp. Da war es nun gut, dass die kleinen Räume sehr bald besetzt sein mussten. In der schmalen Kammer hatten gerade zwei Betten und ein Waschtisch nebst zwei Stühlen Platz, für die einfensterige Stube reichten die Möbel meiner früheren Königsberger Junggesellenwohnung aus, in das blaue Zimmer konnte aber auch nicht viel mehr als ein Sofa mit Tisch, ein Schrank, ein Schränkchen, ein Spiegel und ein halbes Dutzend Stühle hinein.
Es blieb doch ein Kunststück, mit so wenigem ein auch nur halbwegs standesgemässes Logis herzurichten. Therese brachte es fertig. Ich selbst war später ganz erstaunt, wie hübsch und freundlich unser blauer Salon mit den helleschenen Möbeln aussah. Sogar ein passender Teppich fehlte nicht. Und jeder von den Prökulser Honoratioren musste ja sich selbst sagen, dass ein kostbares Mobiliar in diesen Räumen schlecht angebracht gewesen wäre!
Die Hochzeit wurde nun auf den 20. Juli festgesetzt. Am 18. fuhr ich über Memel nach Königsberg, hatte mich aber erkältet und kam recht unwohl an. Ich logierte bei Freund Bohn, der damals bereits praktischer Arzt war. Zum Polterabend, der freilich seinem Namen wenig Ehre machte, fanden Verwandte und Freunde sich ein. Die Trauung fand[117] in der Wohnung der Schwiegereltern statt; ich fühlte mich dabei so elend, dass ich mich nur mit Anstrengung auf den Füssen halten konnte. Dann folgte ein Mahl, an dem nur die beiderseitigen Eltern und Geschwister teilnahmen. Meine Stiefmutter hatte uns freundlich zum Aufenthalt für die nächsten Tage das Gartenhaus auf ihrem Hufengrundstück angeboten, und dorthin traten wir denn wirklich am Abend – unsere Hochzeitsreise an.
So waren wir nun endlich nach so langem, zuletzt schon recht ungeduldigem Warten Mann und Frau. In Prökuls mussten wir noch eine Woche die Gastfreundschaft des Kollegen Kessler und seiner liebenswürdigen Frau in Anspruch nehmen, da unsere kleine Wohnung nicht fertig geworden war. Sobald als möglich richteten wir uns häuslich ein und fanden nun unsere Idylle ganz allerliebst. Es war, als ob wir Sommerlogis bezogen hätten. Therese wusste sich mit unserem kleinen Einkommen – fünfhundert Thalern jährlich –! trefflich einzurichten, ging mit der Magd auf den Prökulser Markt und übte ihre Kochkunst. Den Vormittag brachte ich auf dem Gericht zu, dann war ich gewöhnlich frei und hatte nur noch häusliche Arbeit, die uns nie hinderte, nach Gefallen in unserem Obst- und Blumengärtchen zu lustwandeln. Schatten war da freilich nicht zu finden.
Aber drüben im Wäldchen – man brauchte nur über die Landstrasse zu gehen. Es zog sich lang und schmal zum Torfmoor hinunter und bestand meist aus Kiefern, deren Stämme abends kurz vor Sonnenuntergang goldig glänzten. Ein wenig betretener Fusspfad führte hindurch und an einer Stelle überraschte ein schon tief eingesunkenes namenloses Grab. Da liegt mein »Anton Brauser« begraben, der Sohn des hochmögenden Herrn Stadtrichters, zuletzt Diener und Jäger auf dem Gute, das aber keinen Herrn mit gleichem Namen hatte, wie in meinem Roman »Aus anständiger Familie«, der hier ausgedacht und zum Teil auch in dem kleinen Stübchen zwischen Fenster und Küchenthür geschrieben[118] ist. Den Weg hinauf nach dem Marktflecken, den er mit schwerem Herzen zum alten Heppke ging, bin ich täglich mit leichtem gegangen, und der alte Heppke lebte wirklich, nur das er Görke hiess, und seine gute Frau, die Röschen, auch, und es sah bei ihnen im Kruge und im Laden und in der Honoratiorenstube ungefähr so aus, wie da geschildert ist, auch das Gärtchen mit der Kegelbahn fehlte nicht. Es war da auch etwas wie ein Saal, lang, schmal und niedrig, aber ausreichend für das Publikum, das sich hier zu Festlichkeiten zu sammeln pflegte.
Unser Gesellschaftskreis war nicht gross, aber man konnte sich recht wohl in ihm fühlen. Mein Kollege Kessler und Rechtsanwalt Schulz mit ihren jungen Frauen, der alte fast achtzigjährige Pfarrer Zippel, der vor einigen Jahren noch einmal geheiratet hatte, sein Adjunkt Schröder mit seiner zwanzig Jahre älteren Frau, des Pfarrers Tochter, liebenswürdige und harmlose Menschen, der Gutsbesitzer Gleich am Anberge, ein soldatisch strammer Herr, und seine Frau, die treffliche immer hilfsbereite »Mutter Gleich«, der Apotheker Bannitz und der Doktor Suffert, beide Junggesellen, der Präzeptor, ein junger Theologe, der bald Hochzeit machte, weiter hinaus der Oberförster mit einer gräflichen Schwiegermutter, ein gastfreundlicher Gutsbesitzer Ogilvie auf Stragna, sein Bruder auf Mitzken, und ein paar andere Besitzer bis auf eine Meile Entfernung bildeten ihn. Auch der alte Kreisgerichtssekretär Herrmann, Vater des Memeler Aktuars und wie er litauischer Dolmetscher, betrachtete sich dazu gehörig. Bei Tanzvergnüglichkeiten waren Wirtschaftsinspektoren, Handlungsdiener und jüngere Subalternbeamte wohlangesehen. Man konnte die Gesellschaft nicht eine kleinstädtische nennen und sie hatte auch nicht die Unarten einer solchen. Jeder lebte »wie auf dem Lande«, meist für sich allein und ohne den lieben Nachbar unausgesetzt beobachten zu können. Keiner befand sich in besonders günstigen Vermögensverhältnissen. So sehr[119] wir uns einschränken mussten, konnten wir doch ungefähr Schritt halten. Die Besitzer waren durchweg Leute, die sich durch harte Arbeit selbst zu dem gemacht hatten, was sie waren. Es fehlte ihnen an Schulbildung, aber sie rechneten es sich zur Ehre, mit uns Literaten Umgang zu haben, und kamen uns auf das Freundlichste entgegen. In unseren politischen Ansichten stimmten wir gut überein: wir waren sämtlich fortschrittlich gesinnt, die im Pfarrhause ausgenommen, und wählten (in der Konfliktszeit!) oppositionell.
Die Geburtstage wurden nach alter Gewohnheit reihum gefeiert; dazu verstand sich die Einladung von selbst. An den Sonn- und Feiertagen pflegte immer hier oder dort offenes Haus zu sein. An einem bestimmten Tage in der Woche vereinten sich die Herren in der Gaststube des alten Görke, dem bereits sein Sohn assistierte, und für Herren und Damen gab es Ressourcenabende mit Tanz. Die Gastereien pflegten sehr lange zu dauern, oft bis zum frühen Morgen, und es wurde dabei entsetzlich viel gegessen und getrunken. Um die gewöhnliche Abendbrodzeit pflegte die Wirtin einen Tisch mit kalten Speisen aller Art zu beladen; erst einige Stunden darauf folgte die eigentliche Tafel. Zum Schluss ein Rundgesang war sehr beliebt und, obgleich die wenigsten in diesem Kreise je Studenten gewesen waren, erfreuten sich doch die alten bekannten Studentenlieder stets der wärmsten Berücksichtigung. Fuhrwerke zum Abbringen der Gäste standen immer bereit.
Ich kann nicht behaupten, dass uns dieses lustige und mitunter schon ein wenig wüste Treiben auf die Dauer befriedigte, aber wir huldigten verständigerweise dem Grundsatz: mit den Wölfen muss man heulen, und hielten uns ziemlich tapfer. Übrigens wurde auf mich auch freundlichste Rücksicht genommen. Man wusste, dass ich ein paar Theaterstücke geschrieben hätte, die man sogar gedruckt lesen könnte (wenn auch nicht las) und betrachtete mich nun doch immerhin als einen Menschen, dem man etwas nachsehen[120] könnte. Auch war mir von Memel her ein guter Ruf vorangegangen und Therese erfreute sich bald grosser Beliebtheit unter den jüngeren und älteren Frauen. Beim Singen hielt ich immer kräftig mit, wenn auch nicht ebenso beim Trinken und Essen, und ich that auch in meiner Weise etwas für die Gesellschaft, was mir Dank einbrachte.
Ich richtete den Prökulsern nämlich ein Liebhabertheater ein. In dem langen Saal des Görkeschen Gasthauses war allenfalls Raum für eine kleine Bühne und ein Publikum, das sich willig zusammendrängte, wenn es etwas Ungewöhnliches zu sehen galt. Der Besitzer von Mitzken lieferte nach meinen Angaben das etwa einen Fuss hohe Podium und die Gerüststangen. Ich selbst bemalte die erforderliche Anzahl Ellen grauer Leinwand für das Proscenium mit den roten Falten einer zu beiden Seiten aufgerafften Gardine, stellte unter Verwendung von Tapeten eine Zimmer-und mit etwas Berliner Blau, Schüttgelb, Ocker und Schwarzerde in kühnen Mischungen eine Garten- und Walddekoration her und sorgte für einen Vorhang und versetzbare Thüren und Fenster. Nun konnte gespielt werden. Das verwendbare Personal erwies sich freilich sehr klein: wir wählten danach die Stücke aus. Mehr als zwei Damenrollen liessen sich schwer besetzen, da ausser meiner Frau, die schon gute Übung hatte, nur noch eine kühne Gouvernante sich auf die weltbedeutenden Bretter wagen wollte. Zum Glück hatten wir in dem Apotheker einen sehr tüchtigen Komiker zur Verfügung; ich selbst wirkte in älteren und jüngeren Rollen als Schauspieler und zugleich als Regisseur. Bei einer besonderen Gelegenheit opferte ich sogar aus Kunstbegeisterung meinen Schnurrbart. Einmal hatte ich mir den Spass gemacht, ein kleines Stück zu schreiben, in welchem Doktor, Apotheker, Kreislichter u.s.w. in eigenster Person auftraten. So gelang es mir, bei diesem Vergnügen auch weitere Kreise thätig zu beteiligen.
Derselbe Saal füllte sich zu anderer Zeit mit den Wahlmännern[121] der Kreise Memel und Heydekrug, die auf der linken Seite standen. Dann wurde der Wahlsieg gefeiert, und es fehlte dabei nicht an schneidigen Reden und ermutigenden Toasten. Der stille Ort im fernsten Winkel Preussens war plötzlich in die grosse Bewegung hineingezogen, die sich aus dem Streit der Parteien um das Vorwärts und Rückwärts ergab, und auch wir fühlten uns berufen, als politische Männer Stellung zu nehmen.
Mein amtliches Verhältnis – ich war schon nach wenigen Monaten zum Kreisrichter ernannt worden – blieb dauernd das angenehmste. Bei der Gerichtskommission war für einen Richter zu viel zu thun gewesen; zwei fanden trotz der Vergrösserung des Bezirks kaum ausreichende Beschäftigung. Zwischen meinem trefflichen Kollegen und mir hat es trotz der ziemlich unsicheren Abgrenzung unserer Geschäftsthätigkeiten nie die geringste Differenz gegeben. Einige Mühe hatte ich, den alten Sekretär Herrmann (die Litauer nannten ihn wegen seiner kleinen Figur Ermank = Hermannchen) freundlich zu stimmen; er hatte bei der früheren Überbürdung des Richters in Hypothekensachen ziemlich selbständig gearbeitet und sah sich jetzt durch mich verdrängt. Man musste mit ihm gut stehen, da die Litauer, auch wenn sie wohl deutsch verstanden, am liebsten durch ihn verhandelten. Er überzeugte sich zum Glück bald, dass mir alle bureaukratischen Neigungen fehlten, dagegen seine Kenntnis der besonderen Verhältnisse von grossem Wert war. Er wurde mir so wohlgeneigt, dass er mich nun nicht nur amtlich bestens unterstützte, sondern auch ausseramtlich aufs Gründlichste über alles, was mir bei den Litauern wissenswert und interessant war, informierte. Namentlich boten mir die häufigen Fahrten in den Gerichtsbezirk zu sog. Lokalterminen die beste Gelegenheit, ihn auszukundschaften. Er war in Prökuls alt und grau geworden, kannte die ganze Bauernschaft bis in die fernsten Grenzdörfer hinein und wusste von vielen Familien höchst charakteristische Geschichten[122] zu erzählen, die mich in die Lebens-und Anschauungsweise dieses eigenartigen, gegen die andrängende deutsche Kultur hoffnungslos kämpfenden, aber zäh an Sprache und alter Sitte festhaltenden Völkchens sicher einführten; Schmugglerexcesse waren auch hier keine Seltenheit; wir fuhren dann auch wohl über die Grenze, um in den russischen Kordonhäusern russische Soldaten als Zeugen zu vernehmen. Überall sah ich mit eigenen Augen, was ich später novellistisch schilderte, und nicht flüchtig im Vorübereilen, sondern wiederholt und genau an der Hand bewährter Führer. Denn auch mein Freund, der Apotheker, kannte seine Kunden und war gern mitteilsam.
Als Richter war ich sorgsam bemüht, durch strengste Unparteilichkeit, namentlich auch in Prozessen zwischen Litauern und Deutschen, mir das Vertrauen der Gerichtseingesessenen zu erwerben. Der Litauer im Gefühl seiner Schwäche geht gern krumme Wege, und so fehlte es auch anfangs nicht an Versuchen, ein Stück Butter, eine Mandel Eier, ein Hühnchen oder dergleichen Gaben in meine Küche einzuschmuggeln, um mich durch meine Frau der guten oder schlechten Sache geneigt zu stimmen. Dass diese Spenden stets zurückgewiesen wurden, versteht sich von selbst. Es kamen aber dabei auch Irrtümer vor. So brachte eines Morgens ganz früh das Mädchen einen fetten Hasen in unsere Schlafkammer; ein Litauer hätte ihn abgegeben und gesagt, er sei damit geschickt worden. Von wem? Das sei er nicht gefragt. Sofort zurückgeben! Ja, er habe sich gleich wieder entfernt. Nun war nicht zu zweifeln, dass es sich um einen Bestechungsversuch handelte; zur richtigen Zeit werde der Geber schon an sich erinnern. Ich schrieb also sofort an den Polizeiverwalter, deponierte das Wild, das einen prächtigen Braten gegeben hätte, und stellte anheim, damit dem Gesetz gemäss zu verfahren. Er liess den Hasen noch an demselben Vormittag öffentlich versteigern. Mein Kollege kaufte ihn für ein billiges und lud zum Schmause den Doktor[123] und Apotheker ein. Dass ich den Hasen aufs Rentamt geschickt hatte, wusste auch er nicht. Tages darauf machte ich einen Besuch in der Apotheke. Nun, wie hat Ihnen der Hase geschmeckt? fragte der Doktor. Welcher Hase? Den ich Ihnen gestern früh schickte; ich konnte ihn nicht verwenden und meinte, er würde Ihnen zu Passe kommen. Tableau!
Am 11. Mai 1862 wurde uns unser erstes Kind, ein Mädchen, geboren, und nun fehlte nichts zu unserm Glücke. Um das kleine Fräulein drehte sich viele Monate lang alles. Es nebst seiner Amme, der Litauerin Ilsze, in der engen Wohnung unterzubringen, war wirklich ein Kunststück. Und es sollte auch noch grosse Taufe gefeiert werden! Zum Glück war der Tag wunderschön, sodass das Gärtchen als Festsalon mitbenutzt werden konnte. Ich hatte eine grosse Zahl von Papierlaternen angefertigt und zwischen den Bäumen angehängt; so gab's spät am Abend eine Illumination. Auf dem Balkon vor der Gartenthür wurden Gesellschafts- und Studentenlieder gesungen. Das kleine Fräulein verhielt sich exemplarisch still und artig. Die Wahrheit zu sagen, unser Gretchen war ein bischen bekneipt. Ich hatte nämlich – wer denkt auch als junger Papa an solche Möglichkeit – die Bowle in dem Hinterstübchen gebraut, in dem das Kind schlief, und der Weindunst war ihm zu Kopf gestiegen.
Zu Weihnachten wussten wir nun doch, für wen wir den Baum ansteckten.
Die Winter waren übrigens recht schwer zu überstehen. Im ersten hatten wir in der Schlafkammer nicht einmal einen Ofen und mussten während der schlimmsten Kälte mit den Betten in meine kleine Arbeitsstube ziehen, in der man sich nun kaum umdrehen konnte. Das Vorderzimmer (die sog. blaue Stube) war schlecht zu heizen und musste geschlossen bleiben. Dazu kam die Unannehmlichkeit, dass die Dielen sehr undicht waren und sich in den Stuben öfters Kröten einfanden. Es gelang mir nicht völlig, sie durch eingekeilte Holzleisten[124] auszuschliessen. Im zweiten Winter war in der Schlafkammer ein kleiner Ofen gesetzt, aber nun verengte sich dort der Raum noch mehr. Wie wir uns im folgenden eingerichtet hätten, ist schwer zu sagen, da meine Frau mir im August 1863 zu meiner unbeschreiblichen Freude ein Söhnchen schenkte. Wir hatten ihn zum Glück in Prökuls nicht mehr zu verleben. Mein alter Freund und Gönner, der Tribunalsrat Rud. Reusch, hatte sich schon längst um meine Versetzung nach Königsberg bemüht, jetzt mit Erfolg. Zum 1. Oktober 1863 hatte ich dort in mein neues Amt als Stadtrichter einzutreten.
Es gehörte einiger Mut zu dieser Übersiedelung, da sich unser Einkommen (600 Thaler) an dem viel teureren Ort nicht verbesserte. Aber daran fehlte es uns zum Glück nicht. Die ländliche Idylle, die uns in den ersten Ehejahren so viel Befriedigung gewährte, musste doch einmal ein Ende haben. Sie hatte vielleicht schon zu lange gedauert.
Im Theatersaal und seinen Nebenräumen wurde uns ein Abschiedsfest gegeben. Die Freunde überreichten mir eine Glas-Bowle, in deren Teller ihre Namen eingeschnitten waren. Es wurde noch einmal recht herzhaft gegessen, getrunken und gesungen, und es fehlte auch an Reden und Gegenreden nicht. Man entliess uns sichtlich recht ungern.
Auch ich, so notwendig mir ein Luftwechsel schien, nahm mit schwerem Herzen Abschied. Ich durfte ganz aufrichtig versichern, dass mir diese drei glücklichen Jahre unvergesslich bleiben würden.
Meine literarische Thätigkeit war im wesentlichen eine vorbereitende. Mit neuen dramatischen Arbeiten von Prökuls aus günstige Resultate zu erzielen, schien aussichtslos. Doch ist 1862 ein historisches Schauspiel »Moritz von Sachsen« im ersten Entwurf fertig geworden. Um mein unzureichendes Einkommen durch die Feder ein wenig zu verbessern, nutzte ich meine historisch-politischen Studien aus und schrieb für zwei Provinzialzeitungen, die Königsberger Hartungsche und[125] die Preussisch-Litauische, Feuilletonartikel, die sich meist mit den ständischen Verhältnissen beschäftigten, für die letztere (Redakteur war damals August Stobbe, der treffliche Gedichte in ostpreussischer Mundart verfasst hat, aber schwer bei der Arbeit festzuhalten war) auch eine längere Erzählung. Es ist gewiss bezeichnend für meine Geschäftsunerfahrenheit, dass ich mir von derselben nicht einmal Abzüge habe geben lassen, um sie durch weiteren Abdruck zu verwerten. Ich entsinne mich nicht einmal mehr des Titels. Doch weiss ich, dass sie in einem kleinen Tabaksladen spielte, aus dem ich für meinen Vater sehr oft hatte Schnupftabak kaufen müssen, und dass Hauptfigur die junge, hübsche Verkäuferin war, die mir durch ihr bescheidenes und anmutiges Wesen angenehm auffiel. Ich schrieb auch für die Memeler Kaufmannschaft eine Denkschrift zum Nachweise, dass dem dortigen Handel die Anlage eines Kanals zur Beseitigung der Gefahren, welche den Holzflössen und Wittinnen (flachen russischen Fahrzeugen zum Getreidetransport) vom kurischen Haff her drohten, dringendes Bedürfnis sei. Der Minge-Schmeltelle-Kanal ist dann wirklich gebaut. Eine Anfrage, ob ich mein Amt aufgeben und die Redaktion der Berliner Stern-Zeitung übernehmen wolle, verneinte ich; mein politisches Glaubensbekenntnis mochte ich mir nicht vorschreiben lassen.
Im Mai 1863 wendete sich der als Liederkomponist hochgeachtete Berliner Musikdirektor Richard Wüerst, in dessen Hause mein Bruder Fritz als junger Offizier verkehrte, sich an mich mit der Bitte, ihm nach der Paul Heyseschen Erzählung »Die Brüder« einen Operntext zu schreiben. Er holte die Genehmigung des Verfassers ein, der wohl damals und auf diese Weise von meinem Dasein die erste Kenntniss erhielt. Die kleine Dichtung kam im Laufe des Sommers zustande, und die Oper »Der Stern von Turan« ist darauf im Dezember 1864 im Königl. Opernhause zu Berlin mit der Lucca in der Hauptrolle aufgeführt, hat[126] auch einen sehr achtbaren, wennschon nicht durchschlagenden Erfolg gehabt. (Für denselben Komponisten, dessen Frau die mit Recht hochgeschätze und von mir sehr verehrte Konzertsängerin Franziska Wüerst war, habe ich später noch mehrere Operntexte verfasst, so den zu »Faublas« und nach einer Novelle von Barilli zu »A-ing-fo-hi«.)
Geplant wurde die Erzählung »Für tot erklärt«, welche in einem Dorf am Minge-Fluss und auf der kurischen Nehrung spielt, angefangen und etwa bis zur Hälfte ausgeführt der Roman »Aus anständiger Familie«, dessen ich schon erwähnte. Am bedeutsamsten für meine novellistische Produktion wurde aber der Umstand, dass ich in Prökuls das Material zu meinen »litauischen Geschichten« sammelte. Sie beweisen, wie nachhaltig die Eindrücke von meinem dreijährigen Aufenthalt dort waren.
Buchempfehlung
Die zentralen Themen des zwischen 1842 und 1861 entstandenen Erzählzyklus sind auf anschauliche Konstellationen zugespitze Konflikte in der idyllischen Harmonie des einfachen Landlebens. Auerbachs Dorfgeschichten sind schon bei Erscheinen ein großer Erfolg und finden zahlreiche Nachahmungen.
554 Seiten, 24.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro