Vorwort

Seit ich in hohe Jahre gekommen bin, ist immer wieder die Aufforderung an mich herangetreten, meine Erinnerungen niederzuschreiben, zuerst und besonders dringend von der Verlagshandlung, die dadurch das Vorrecht auf dieses Buch gewonnen hat. Zuerst wies ich es rund ab. Dann mahnten auch Kollegen, und so setzte ich einmal zwischen anderen Arbeiten an. Und nun erstand in meiner Frau ein Mahner, dem ich nicht widerstehen konnte, zuletzt auch ein Helfer. Sie hat den längsten Teil dieses Lebens mitgelebt und hat wohl einen Anspruch darauf, daß ich ihr nachgebe, gerade weil von unserem Zusammenleben nichts gesagt wird.

Der Ertrag eines Gelehrtenlebens steckt in den Büchern, die es hervorgebracht hat. Auch von denen rede ich nicht; ich habe mich um die abgeworfenen Schlangenhäute meiner Entwicklung niemals viel gekümmert. Fast alles, was ich geschrieben habe, ist durch einen äußeren Anlaß hervorgerufen, der mir dies und jenes Objekt in die Hände warf. Von diesen Anlässen muß ich reden, aber von dem, was so entstanden ist, mag ich es nicht. Ein Gelehrter ist man in Deutschland nur im Nebenamt, Hauptamt ist die Professur, und so habe ich sie immer behandelt. Aber was man als Lehrer ist, das lebt in den Hörern, also steht bei ihnen das Urteil. Wenn dieses Buch eine Daseinsberechtigung hat, so liegt sie darin, daß es über Zustände und Menschen berichtet, von denen kein Lebender mehr Zeugnis ablegen kann. Das habe ich gern getan, soweit es mir Gelegenheit gab, meiner Dankbarkeit Ausdruck zu geben, nicht nur Menschen gegenüber. Die innere Bereicherung, die ich fremden Ländern und dem Leben unter anderen Völkern, ihren Sprachen und ihren Dichtern verdanke, ist unschätzbar, und sie ist auch meiner Wissenschaft zugute gekommen. Vollends das Anschauen der ewigen Natur und all der Herrlichkeiten der Kunst ist nicht nur Genuß, sondern Offenbarung des Göttlichen und stärkt die Schwingen der Seele, und wenn die Bilder in dem Gedächtnisse aufsteigen, wecken sie wieder die alte Andacht.

Peinlich und schwer fiel es dagegen, von manchen Erfahrungen zu reden, die ich an der Universität und in anderen Stellungen gemacht habe, und Urteile auszusprechen, die sich darauf gründen. Und doch war es unvermeidlich,[7] schien mir sogar Pflicht zu sein. Geschehen konnte es nur von dem Standpunkte der Gegenwart, während sonst der Ausbruch des Krieges die Grenze bildet. Daß ich wohl auch bei Wohlwollenden Anstoß erregen werde, ist mir bewußt, daher habe ich lange geschwankt, ob ich das Buch noch bei Lebzeiten erscheinen lassen sollte. Wenn ich es zurückhielt, konnte ich ja über 1914 hinausgehen und auch noch freier reden. Allein dieses Warten schien mir schließlich furchtsam; das war ich doch niemals gewesen. Ehrlich und treu cum ira et studio zu bekennen, was ihm die Liebe zu seinem Volke und seiner Wissenschaft, auch seine Sorge um beide, eingibt, darf sich am Ende ein achtzigjähriger Preuße auch heute noch herausnehmen.


20. September 1928.

Quelle:
Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Erinnerungen 1848–1914. Leipzig 1928, S. 7-8.
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