V.

[78] Um die Osterzeit des Jahres 1872 übersiedelte meine Braut von Wien nach München, um bei Joseph Flüggen weiter Malunterricht zu nehmen. Ich löste meinen Vertrag mit Strampfer und folgte ihr. – Bald nach Gründung des Reiches war in Deutschland der »Kulturkampf« entbrannt. Wilhelm von [78] Kaulbach schuf seinen Riesenkarton Peter von Arbues und half durch die Darstellung des Scheiterhaufenmannes den Brand noch zu vergrößern. In allen Schaufenstern der Kunst- und Buchhandlungen Münchens war das Bild des blinden Großinquisitors, wie er mit seinen knöchernen Fingern die Totenopfer zeichnet, ausgestellt. In meinen ersten Münchner Tagen, da mir, was Malerei ist, noch ein Buch mit sieben Siegeln war, imponierte mir die bis auf die Knochen (auch auf die des Helden) konstruierte Schulweisheit dieser Kunst. Ich beschloß, den Schöpfer des Bildes aufzusuchen. Wie und wann das zu machen sei, belehrte mich eine der servierenden Kellnerinnen im »Café Probst«. Diese jungen Mädchen des berühmten Cafés in der Neuhauserstraße wußten Bescheid in diesen Dingen und standen überhaupt der Kunst näher, als man ahnen möchte. Zur guten Tradition gehörte bei ihnen, daß sie den Kunstjüngern, die sich täglich zu Dutzenden dort einfanden, nicht nur jahrelang die Zeche kreditierten, nein, daß sie die ärmsten Teufel darunter auch durch Vorschüsse unterstützten. Das berechtigte sie dann, sich mit mütterlicher Miene nach den künstlerischen Fortschritten ihrer Schützlinge zu erkundigen. Zählte doch selbst der gänzlich mittellose junge Salzburger, Hans Makart, zu den Stipendiaten und Adoptivsöhnen einer wohlwollenden Zweikannensee. – Die Königliche Akademie der bildenden Künste befand sich damals in den weiten Räumen des früheren Jesuitenklosters in der Neuhauserstraße. Kaulbach, der Direktor, besaß im Erdgeschoß sein Riesenatelier. Es hatte etwas Nüchternes, schier Magazinartiges. Die warmen Töne, die auf dem altertümlichen Trödel der Koloristen leuchten, auf Plüsch, Seide und Gami flimmern, funkeln und flunkern, an Renaissancegesimsen lustwandelnd auf und ab klimmen, um verwitterte Säulen, Ranken, Pogen und Vögelchen der Gotik irrlichtelieren, in Glas[79] oder Zinnwerk glitzern und zittern, fehlten hier. Dafür standen große Kartons und Kisten, kolossale Gipsfiguren, Menschen- und Tiergerippe in Mengen umher. Kaulbach stand auf einem zwei Meter hohen Holzgerüste und pinselte an seinem Nerobild. Ich gab meinen Gruß. Er rückte die Brille und warf mir unter derselben einen Blick zu, scharf wie ein Seitenhieb, ausdauernd, fast lauernd. Aha, dachte ich, den Blick kennst du ja, Reineke Fuchs steht ja da oben. (Der Illustrator des Goethe-Werkes.) Sich seiner Arbeit wieder zuwendend, schickte er die Frage zu mir herab: »Auch Künstler?« – »Schauspieler«, antwortete ich. »Also auch Künstler«, sagte er – und wiederholte darauf mehrmals gedehnt: »Künstler – auch ein Schauspieler ist Künstler – kann Künstler sein – kann es sein.« Die Rede versickerte langsam wie ein Steppenfluß. So verfuhr er immer: er hielt den Gedanken am Worte fest. »Nun, und was führt Sie zu mir?« – »Ihr Peter Arbues!« – »Dort« – er deutete mit dem Pinsel auf eine Fläche am Eingange des Ateliers – »sehen Sie den ersten Entwurf zu dem Bilde; ich habe ihn, von der Idee gepackt, frisch mit Kohle an die Wand skizziert. – Das Schicksal hat manchmal Humor: diese Akademie war früher ein Jesuitenkloster und die Geburtsstätte meines Arbues vielleicht ein Sitzungssaal der Inquisition.« – Ich blickte nach der bezeichneten Stelle und meinte: »Aus dem wollustartigen Grinsen dieser Grausamkeit stiert Wahnsinn.« – »Wahnsinn – Wahnsinn –«, murmelte zunickend Kaulbach. »Und Wahnsinn bei Großen sollte nie ohne Wache gehen«, zitierte ich. »Ohne Wache gehen – ganz recht, ganz recht – das ist – Shakespeare?! – Und warten Sie – ja ja, Hamlet, gelt? – Da versuche ich meine Kunst wieder an so einem Wahnsinnigen, der ohne Wache ging. Hm, wenn man denkt, daß die arme Welt oft jahrzehntelang solchem Wahnsinn ausgeliefert war – grauenvoll!« –[80] Kaulbach malte noch eine Weile schweigend weiter; hielt plötzlich inne, ließ die Arme sinken und seufzte: »Ich bin müde!« – Ich sprang hinzu und half ihm beim steilen Abstieg über geländerlose Stufen. Ich sehe ihn vor mir, den seinen Alten, wie er mit heiterem Wohlwollen mir forschend ins Gesicht blickte. Ein dunkler Überwurf – Michel Angelo, sagen wir nachempfunden – deckte den leichtgebeugten Rücken, und ein Seidenkäppchen fast vollständig das graue, schlichtgeglättete Haar. Das korrekt, wie mit dem Stichel gezogene Antlitz war fast faltenlos und glattrasiert bis auf ein graues Schnurrbärtchen, das namentlich bei pikanten Pointen leise gestrichen wurde. Auf den Wangen lag eine leichte, gesunde Röte, und die großen, grauen Augen sprühten Geist durch die Brille. »Ich komme gar nicht mehr ins Theater, erzählen Sie mir etwas von deutschen Bühnenverhältnissen«, sagte er und meinte im Grunde: wenn ich schon meine Zeit an dir verliere, so will ich doch irgend etwas dabei profitieren. Dennoch beim Abschied bemerkte der Alte: »Kommen Sie wieder, junger Freund, recht bald wieder.« Als ich nach kurzer Frist der Einladung folgte, überreichte mir Kaulbach einen Band Shakespeare mit den Worten: »Habe ich für Sie mitgebracht: Sie profitieren von meiner Kunst, ich möchte von der dramatischen profitieren.« Ich wählte den »Kaufmann von Venedig« und legte tüchtig los. Mein Hörer war sichtlich gepackt, denn er sagte: »Geben Sie uns doch nächstens im Hörsaal der Akademie einen ähnlichen Vortrag; vielleicht regt er die jungen Akademiker an, etwas anderes zu malen als angezogene Modelle.« Der Hieb sollte Piloty und seine Schule treffen, obgleich zu ihr allbereits sein eigenes, abtrünniges Fleisch und Blut, sein Sohn Hermann, zählte. Kaulbach lud mich in sein schönes patriarchalisches Heim in der Kaulbach-, damals Gärtnerstraße. Gar oft las ich daselbst Balladen von[81] Goethe, Faust, Hamlet, Lear. Ich hatte gar vornehme Zuhörer, u.a. die berühmtesten Altkatholiken jener Zeit, die alle zu Kaulbachs Freunden zählten. – Nach Kaulbach drang ich bei Karl von Piloty ein. Er malte an seinem Kolossalgemälde »Thusnelda« und hatte für den Kaiser Tiberius ein stolzes Modell: den kunstbegeisterten bayerischen Magnaten, Grafen Moy. Er hatte allbereits von meinen Erfolgen bei Kaulbach gehört und bat mich um einen Vortrag. – Als ein Alter sein Leben zu schildern, löst im ganzen das Behagen eines schnurrenden Katers am warmen Ofen aus; »will es aber die Sache«, daß man sich selbst loben muß, so hat die Situation einige Ähnlichkeit mit der eines verurteilten Delinquenten. Also mit einem Anlauf: Piloty, ein künstlerisches Temperament von exaltiertem Pathos, rief, von dem Realismus und der Unmittelbarkeit meiner Darstellung gepackt: »Meine Leute auf der Leinwand«, er deutete auf sein figurenreiches Thusneldabild, »kann ich gar nicht mehr anschauen: blutlose Geschöpfe ohne Leben.« Im Moment Feuer und Flamme, warf er seine Sammetjacke ab, fuhr hastig in den Straßenrock und nötigte mich, ohne meine Zusage abzuwarten, in eine Droschke, um mich vom Fleck weg aus Königliche Theater zu bringen. Unvergeßlich ist es mir, wie Piloty sich für mich ins Zeug legte, wie er, impulsiv durch und durch, dem damaligen Generalintendanten der Königlichen Hofbühne, Karl von Perfall, mein Talent mit erhobenen Schwurfingern beteuerte, wobei sein feuriges, braunes Auge im edlen, aber abgemagerten Gesicht leidenschaftlich aufflammte. »Den mußt du engagieren, Karl, das ist deine Pflicht; dazu bist du auf diesen Posten gestellt!« rief er determiniert und mit einer fast befehlenden Handbewegung. Darauf der andere Karl, mit der kgl. bayer. Meiruhmöchtichhaben-Gemütlichkeit: »Ja, Karl, das geht nit so, wie du[82] dir das denkst, – so wie bei dir in der Akademie; weißt, die Fächer im Hoftheater sind besetzt, ich hab meinen Etat – aber ich will den Herrn Wohlmuth für künftig im Auge behalten usw.« Nichts ist charakteristischer für Piloty als die geschilderte kleine Begebenheit: Talente zu fördern, wo und auf welchem Gebiete der Kunst er sie auch fand, war seine Luft, sein Element. Und darum war er auch der geborene große Lehrer. Kaulbachs Einfall, mich in der Akademie deklamatorische Vorträge halten zu lassen, realisierte Piloty; im geräumigen Hörsaal las ich auf seinen Wunsch und nach seiner Anordnung an mehreren Nachmittagen Balladen deutscher Dichter und Szenen aus Shakespeare. Er selbst war zugegen mit seiner ganzen Suite, auch mit denen, die schon flügge waren. Ich nenne u.a.: Gabriel Max, Makart, Lenbach, Benzur, Gysys, Kurzbauer usw. Aber auch die zwei Gewaltigen der Malerkunst: Leibl und Böcklin beglückten mich einmal durch ihre Anwesenheit. Man sieht: ein Parterre von Königen! Und, weiß Gott, die Anwesenheit von allen Gekrönten Europas – sämtliche Koburger Thrönchenanwärter eingerechnet – hätte mich nicht stolzer machen können. Einmal sprach Piloty mit mir von seinem Wallensteinbild in der Neuen Pinakothek, bei welcher Gelegenheit er mir was Häusliches vom Königlichen Hof erzählte: als das Bild fertig und in der Galerie aufgestellt war, wurde er von Ludwig II. zur Audienz befohlen. Nachdem der König eine Weile mit Feinheit sich über das Bild geäußert hatte – verschwand er für einen Augenblick ins anstoßende Kabinett, trat danach mit verschränkten Armen auf und deklamierte Piloty den großen Monolog aus dem ersten Akt der Schillerschen Tragödie vor. Ob Piloty es gewagt hat, seinem Souverän mit den Worten wie Polonius: »Bei Gott, mein Fürst, wohl vorgetragen, mit gutem Ton und gutem Anstand« Beifall zu klatschen, weiß ich nicht.[83]

In jenen Tagen stellte im Kunstverein Defregger das Bild aus, das ihm im Fluge die Herzen des deutschen Volkes eroberte: »Der Ball auf der Alm«. Von der Holdseligkeit dieser Kunst ergriffen, trieb es mich, den »neuen Mann« kennen zu lernen. In einem älteren Hause der Blumenstraße stieg ich vier oder fünf Treppen und wurde in einen kleinen Verschlag geführt, der sich den Namen »Atelier« beilegte. Hier saß in einem Lehnstuhl ein an beiden Füßen Gelähmter: Defregger. Welch erschütternder Gegensatz: Gesundheit, Freude am Leben und Schaffen im klassisch-schönen Antlitz – und die Füße Blei, wie tot! Und dennoch, just damals in dieser Nußschale und obgleich durch sein Leiden wie gefesselt, malte Defregger seine schönsten Bilder, u.a. sein wie vom Genius seines Landes Tirol diktiertes prächtiges »Letztes Aufgebot«. Die Luft, sich künstlerisch aussprechen zu dürfen, verlieh dem edlen Gesicht Defreggers den Ausdruck keuscher Freude. An seiner Seite stand ein achtzehnjähriges Mädchen mit blühenden Farben wie die Jugend selbst. Es war die Tochter seiner in ärmlichen Verhältnissen lebenden Hausleute. Vor zwölf Jahren hatte er bei ihnen Wohnung genommen, sich in ihren sechsjährigen, bildhübschen Fratzen verliebt, ihn auferzogen, auf seine Kosten lernen lassen, um ihn, als er – um biblisch zu sprechen – mannbar geworden, zu heiraten. Die Trauung wurde vom Geistlichen in jenem kleinen Raum, der Bräutigam sitzend, die Braut stehend, vollzogen. Was alle Medizinal- und Obermedizinalräte (»ein Titel muß sie erst vertraulich machen« höhnt Mephisto) in Jahren nicht fertig kriegten, Defregger zu heilen, das gelang in seiner Heimat seinem Landsmann, dem »Bauerndoktor« Wasler, in zwei Wochen radikal. Und zwar durch ein Mittel aus Väterzeit, das den Herren Professoren vermutlich unter ihrer Würde erschienen war: er schröpfte ihn an den Knien und legte dann einen dicken[84] Brei darüber. – Schnell schloß ich schon bei meinem ersten Besuch Freundschaft mit dem Maler, und sie hat standgehalten ein ganzes Leben.

Die erste Vorstellung, die ich im Königlichen Theater sah, war »Julius Cäsar«. Man pflegt gerne mit kompetenter Miene von einer »alten« und »neuen« Schule zu sprechen. Zumal nicht wenigen von jenen, deren Sache das Beurteilen ist und deren Kopf reich ist an Schubladen und Schublädchen, angefüllt mit ähnlichen Schlagworten, erleichtern solche Redensarten ihren Beruf. Geschieht es ohne Witz, bleibt's unbeachtet, geschieht es aber mit Geist, so wird's Gefahr. In Wahrheit gab es nie eine alte und neue Schule, weder in Wien am Burgtheater noch in München, ja nicht einmal in Weimar – sondern allzeit nur gute und schlechte Schauspieler; die letzteren, um ein malitiöses Kulissenwort zu gebrauchen, »führten ihr Organ spazieren« – die wirklichen bemühten sich allzeit, der Natur so nahe als nur möglich zu kommen. Der Natur im Geist und Sinn der Dichtung, meine ich, nicht der in Berlin erfundenen Gassenbüberei, die darin besteht, daß das Publikum kaum die Hälfte des Gesprochenen versteht, die dem alten Moor (Räuber) ein Spuckkästchen ans Bett stellt und dem sterbenden Attinghausen Medizin- und Wärmeflaschen. (Die Klistierspritze in dieser Szene bleibt einem Übermenschen von Spielleiter noch vorbehalten!) Das Ganze ist ein völliger Mangel an Stilgefühl, ohne das die Schauspielkunst einem scheugewordenen Pferde gleicht. Diese Kunststücke sind übrigens »alt und neu«, allzeit gehandhabt von Leuten, die bei geringem Können an der Oberfläche schwimmen möchten. In einem Briefe aus Leipzig vom 4. Mai 1800 schreibt Goethe an Schiller: »In dem Theater wünschte ich Sie bey einer Repräsentation. Ein loses, unüberdachtes Betragen, im Ganzen wie im Einzelnen, kann nicht [85] weiter gehen. Von Kunst und Anstand keine Spur. Bey der Recitation und Deklamation der meisten bemerkt man nicht die geringste Absicht, verstanden zu werden. Des Rückenwendens, nach dem Grunde Sprechens ist kein Ende, so geht's mit der sogenannten Natur fort, bis sie bey bedeutenden Stellen gleich in die übertriebenste Manier fallen.« Klingen diese Zeilen nicht so, als ob sie heute aus Berlin nach einer Aufführung an einer Reinhardt-Bühne geschrieben wären?! – Doch nein! Hätte Goethe gesehen, wie Reinhardt z.B. in der »Widerspenstigen« den Petruchio buchstäblich auf den Händen voltigierend auf die Bühne kommen, im »Sommernachtstraum« den mahagonifarben angestrichenen Puck in einer kachierten Baumkrone seine Monologe plappern läßt, Moissi bei dem Monolog »Sein oder Nichtsein«, da Hamlet, ganz Seele und Traum, schier körperlos werdend, in ein leises Schwanken geraten darf, befiehlt, den Fuß auf den Souffleurkasten zu stellen und ins Publikum zu brüllen, was es Zeug hat – seine Indignation hätte sich angesichts dieser Reinhardtschen Spekulationen zum Zorn oder Ekel gesteigert. Aber Reinhardt – seinem eigentlichen galizischen Namen habe ich nicht nachgeforscht – kann eben nicht anders: er muß spekulieren! Es ist seiner Rasse (der anderseits die deutsche Bühne ja so unendlich viel, so Entscheidendes – künstlerisch und sozial zu danken hat) angeboren wie – der Elster die Kleptomanie – man kann sagen von Aubegmn der Welt. Denn der ehrwürdige Erzvater Abraham schon, hat er nicht dem lieben Gott selbst spekulative Vorschläge gemacht, da Jehova Sodom zerstören wollte? »Herr«, marktete er, »wenn in Sodom dreißig Gerechte sind, möchtest du nicht die Stadt verschonen? – Oder Herr, wenn nur zwanzig dort sind? Oder – du weißt, mein Vetter Loth lebt dort – nur zehn, willst du Gnade nicht üben?« – Und der Schauspieler und[86] seine herrliche Kunst? Wie fahren sie dabei? O, darnach wird wenig gefragt! Was persönlich im Mimen, ist der talmudistischen Mätzchenmosaik Reinhardts und seiner Ableger nur im Wege und wird bei den Proben ausgetrieben wie bei einem Exorzismus der Teufel aus dem Leibe des Sünders; ihr Ideal wären Ammergauer Bauern und – Kriegerfrauen. Bei der »Julius Cäsar«-Aufführung im Jahre 1872 in München also gab es einige, die hoch auf dem Kothurn schritten, und andere, die völlig menschlich spielten und sprachen; zu den letzteren zählten Meister Rüthling als Brutus und vor allem Christen, der die geniale Gestalt des Erzaristokraten Casca, dem der Atem des Volkes »eine Last stinkiger Gase« ist, mit frappanter Natürlichkeit gab. – Bemerken will ich noch, ehe ich München verlasse, daß damals am Gärtnertheater ein unbedeutendes, einaktiges Literaturstückchen von mir »Lessing in Camenz« gegeben wurde und Beifall fand.

Einen Antrag nach Meiningen für den fast erblindeten Charakterspieler Weilenbeck nahm ich an. An einem Herbsttag entstieg ich in der Residenzstadt dem Zuge als einziger Passagier – und so war es dem meiner harrenden Theaterdiener nicht schwer, in mir den neuengagierten Charaktermimen zu agnoszieren. Der überlange, bandwurmschmale Alte stellte sich mir vor, indem er zur Beglaubigung seiner Würde auf den silbernen Wappenknopf der Mütze deutete. Sein Rücken, durch Amtsgewohnheit so gekrümmt, als müßte er immerfort besorgen, »nach oben anzustoßen«, duckt sich noch tiefer. Er nahm mir meine Tasche ab und geleitete mich nach dem von ihm für mich gemieteten »gemidlichen Loschi«. Auf dem Wege dahin, in der pfützigen Gosse, die mitten durch die Boulevards der Residenz schleicht, bemerkte der Theaterdiener seine auf Irrwegen watschelnden Gänse – und scheuchte sie, mit beiden Händen die[87] Frackschöße, die gleichfalls der herzogliche Wappenknopf ziert, vorschwenkend, durch »Pscht, Pscht, Ludersch, heim« seinem Häuschen zu. Ein Männlein, von der entgegengesetzten Richtung kommend, streifte uns und fragte meinen Begleiter flüsternd: »Wer?« – »Der neue Charaktermacher«, tuschelt das längliche Prunkmöbel der Herzogswürde. Der andere: »D er – keene Möglichkeit, dem paßt im Leben doch keen Kostüm, dem machern Hund; wieder so ä dummes Engagement – adjüs.« Ich hatte scharf hingehorcht und verstanden. »Wer war der Herr«, fragte ich den Theaterdiener, der darauf mit großem Respekt in Miene und Ton antwortete: »Unser Herr Obergarderobier.« – Na, dachte ich, der muß es ja wissen; mein Schicksal scheint somit hier entschieden. – Es drängte mich sogleich, die Stadt zu besehen. Schnell war die Straße, die das damalige Meiningen ausmachte, durchmessen, und weiter ging's im lieblichen Tal, am Strand der krausgewundenen Werra. Wie ein verwöhnter Liebling liegt die kleine Residenz eingewiegt, eingebettet und behütet von sanften Höhen. Ich war ganz entzückt und lief und lief ohne Ende. Von der Abendsonne waren Berg, Tal und Fluß wie in Feuer vergoldet, und als ich mich endlich zur Rückkehr wandte, brannten die Fenster des Residenzschlosses in roter Glut. – Tags darauf stellte ich mich meinem Chef vor. Chef? Ach nein: das Theater leitete der regierende Herzog selbst (damit er auch in Wirklichkeit was zu regieren habe, denn das übrige wurde seit 1870 ja doch in Berlin besorgt) – aber dem Manne, der als Leiter figurierte: dem Herrn Intendanzrat Grabowsky. In der Berliner National-Galerie hängt das lebensgroße Porträt eines spanischen Grandezzaprotzen von Velasquez; wer von meinen Lesern dieses einzige Bild gesehen, dem brauche ich Grabowsky nicht zu schildern: in dem glattrasierten, puterroten Gesicht des stramm-feisten Alten mit der von ehrwürdigem Weiß[88] umrahmten Monstreglatze, blank wie eine Billardkugel, brüsteten sich wetteifernd Bürokratendünkel und naive Borniertheit. Ein Unteroffizier a. D., der sich über die arme dramatische Kunst hergemacht. Er war die »Seele« des Ensembles: sein Korporalstock! Denn die Eigenart der Meininger lag nicht in der dekorativen Pracht allein, sondern auch im Drill der »Geister«. Eine gar lustige Posse war's, wie Grabowsky mit den dramatischen Embryos, die er allherbstlich aus Theaterschulen in Berlin und Hamburg nach Meiningen brachte, verfuhr. Beim Auftrieb auf den Markt ließ er jedem dieser Davisons und Devrients sein Fach. Nun stelle man sich die kalte Dusche eines zugereisten Coriolan oder Hamlet vor, wenn er in Meiningen zu einem »Heil-Cäsar«-Brüller degradiert wurde. Ich war einmal dabei, wie er so einen ersten Charakteristiker abführte, der sich beschweren wollte, in »Kabale und Liebe« nicht den Wurm, sondern den stummen Polizeidiener im zweiten Akt »verkörpern« zu müssen. »Nu, ist es die Möglichkeit«, donnerte er, »du lieber Himmel! Den Wurm kann jeder spielen, jedes Kehrweib möcht' ich sagen! Das ist jarnischt! Aber der Polizeidiener – hu! so 'n Schuft: will immer auf die arme Luise losgehen! Der miserable Intrigant! Den müssen Sie spielen! Der ist mir zehnmal wichtiger wie so ein lumpiges Würmchen! Na – machen Sie's!« Und wirklich! Der Jüngling verließ moralisch erhoben das Büro des alten Praktikers. Grabowsky behandelte mich mit wohlwollender Herablassung, riet mir, ein Logis mit Sonnenseite zu wählen, die wichtig sei fürs Gemüt des Schauspielers und empfahl mir am Schluß, Fräulein Ellen Franz einen Besuch abzustatten. »Unsere erste Darstellerin«, sagte er, »eine Dame von Geist und« – mit ehrfürchtiger Feierlichkeit fügte er hinzu – »unserer Hoheit, dem Herzog, nahestehend«. – Es war der Winter vor der Invasion Deutschlands durch Meiningen, da[89] noch nirgends gemeiningerl wurde als in Meiningen selbst, der Winter, wo alles zu dem großen Triumphzug präpariert und eingeölt wurde. Ich hatte keine Ahnung von dem unverständlichen Zeug, das um mich vorging und riß Mund und Augen auf, zumal bei den Proben, wo die Hauptsache dazu gekocht und gebraut wurde. Der Herzog fast immer dirigierend im Parterre. Ihm zur Seite, beratend und einflüsternd, die Ellen Franz; so wie sie nur von der Szene abkommen konnte – husch zu ihm! Mittags gegen 1 Uhr – denn die Proben dauerten endlos – labte sie den Herzog mit belegten Brötchen. Grabowsky, oben am Regiestuhl, umklammert gewohnheitsmäßig seine Kolossalstirne mit den Denkerbeulen, damit sie nicht von der Wucht seiner Ideen gesprengt werde, mit den Wurstfingern seiner Rechten. Kommandiert der Herzog vom Parterre, so erhebt sich der Intendanzrat, und da er nicht immer die kurzen Befehle der Hoheit versteht, so beugt er sich in halber Wendung zu seinem Fürsten, hebt beim Wiederniedersitzen aus Schonungsgründen den Rock in die Höhe und gerät auf diese Weise, zumal bei seiner prallanliegenden, vom Sitzen fadenscheinigen Hofe, seinem Souverän gegenüber in eine zweifelhaft ehrerbietige Stellung. Einmal schnarrte es aus dem Parkett – es war bei einer Probe vom »Kaufmann von Venedig« –: »Herr Intendanzrat, lassen Sie die Venezianer auf dem Rialto nicht geradlinig stehen wie zum Parademarsch bereit: diagonal, diagonal!« Grabowsky erhebt sich, glotz eine Sekunde ratlos ins Leere – – »diagonal?« Das Wort stand nicht im Register seines geistigen Archivs. Er räuspert sich und fragt mit halbem Zögern: »Hoheit geruhten zu meinen?« »Diagonal, diagonal!« – »Jaso? hm, ja, zu Befehl, Hoheit. Na ja, versteht sich!«, schnauzt er darauf einen armen Statistenknaben an: »Schnabel, Mensch, hören Sie nicht, sie sollen diagonal stehen.« Im Parkett verstohlenes Kichern von[90] Zweien. – Kostüme, Federn und Agraffen, Möbelkram und Requisitentrödel, Beleuchtung der Statisten von vorn und hinten usw., hieß die frischgebackene Offenbarung. Und der Schauspieler? Na ja, auch er galt, sofern er viel Person besaß und nichts Persönliches; denn letzteres war den Meiningern unbequem: es stand den Möbeln im Weg. Das sich mit beiden Ellenbogen In-den-Vordergrund-drängen und alles Allein-machenwollen des heutigen Regisseurs – ein Mehltau für alle Schauspielkunst – in Meiningen entsprang es, von hier nahm es seinen Ausgang, um in verschiedenen Variationen mit diversen aparten Tricks immer und immer wieder, bis auf den heutigen Tag, wie etwas Neues aufzuleben. Diese Herren machen es, wie die unmodernen Zahnärzte von früher: sie meinten, um zu ihrem Zweck zu gelangen, den Nerv töten zu müssen; der heutige, fortgeschrittene Arzt ist froh, ihn erhalten zu können.

Hier ein Beleg dafür, wie's zu jener Zeit in Meiningen gemacht wurde. Wir studierten – nebenher gesagt monatelang – »Romeo und Julia« ein. Ich spielte den Pater Lorenzo. Damit ich nicht eine Gartenfigur »decke«, wurde mir bei der Probe mit Kreide genau der Fleck fixiert, wo ich meinen Monolog zu halten habe. War's Bosheit, war's Galgenhumor oder beides, ich redete absichtlich ohne Stil, ohne Wahrheit, betonte unsinnig, sprach Prosa statt Verse, um zu sehen, ob mir eine Korrektur erteilt wurde. – Kein Schimmer! Weder die Hoheit im Parterre noch die von Gottes Gnaden mit dem speckglänzenden Hintern am Regiestuhl sagten ein Wort dazu. – Während Romeo von Rosalinden spricht, also während des psychologisch zarten Probepfeils, der uns auf ein Herz, geschaffen für eine mächtige Leidenschaft, vorbereiten soll, bieten ihm in Meiningen Marktweiber Orangen und Äpfel zum Kaufe an. Und das sollte eine Renaissance der Kunst sein! In Wahrheit ist es nichts als[91] das alte, schlechte Theater der Engländer, die mit ihrem Riesen aus Stratford Ausstattungsspekulation treiben. Die Ellen Franz nun, die Geliebte des Herzogs, eine geborene Engländerin, brachte dieses kunstmaskierte business als Offenbarung nach Meiningen, und der Herzog, der dadurch Gelegenheit fand, Dekoratives zu entwerfen und zu skizzieren, wofür er ausgezeichnetes Talent besaß, ist Feuer und Flamme. Den Jammer in seinem ganzen Umfang, den Meiningen angerichtet, weiß selbst der klügste Beobachter und schärfste Kritiker nicht zu beurteilen, sondern nur der, der selbst am Werk, ihn am eigenen Leib empfunden: um das reiche, kaleidoskopartige Repertoire – keine Nation macht es Deutschland nach! – das das Beste aus dem gesamten Literaturschatz aller Sprachen brachte, war es geschehen. Es mußte notwendigerweise zusammenschrumpfen, weil Meiningen ein Zeitmoloch ist. Zwei, drei Bluffaufführungen (Julius Cäsar, Wilhelm Tell etc.) verschlangen Wochen, Monate, verhinderten die Neueinstudierung anderer Werke von Wert oder zwangen, im Gegensatz zu den Schlagern der Saison, sie salopp herauszuwerfen. Verhinderten auch viele Jahre, daß die modernen Dramatiker zu Worte kamen. ... Bürgermeister und Stadtrat wurden zu den Blitzlichtoffenbarungen geladen und staunten auf die Bühne! Teppiche, Gobelins, Renaissance- oder Empiremöbel zu Hauf, Statisten, die sich bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit »Arm und Beine ausrissen« – sapperlot, das war noch nicht da, das ist Kunst! Wie Wallenstein sprach, Buttler spielte – wer achtete darauf, vermochte darauf zu achten? Schaukelten im »Kaufmann von Venedig« in der ersten Szene ein paar Gondeln im Canal grande (und lenkten, nebenher gesagt, ab von der Wichtigkeit der Exposition), so war das der Gipfel von allem, was die dramatische Kunst zu bieten vermag. Wie automatisch trat dadurch eine Entwertung der Schauspielkunst ein. Ging es[92] doch auch ganz prächtig ohne sonderliches Können. Ich gehe so weit, die Meiningerei mitverantwortlich zu machen für das soziale Elend des deutschen Schauspielers. Wozu brauchte sich der Herr Direktor in Mainz, Magdeburg usw. materiell anzustrengen? Er kaufte Möbel und zahlte seinem Hamlet, seiner Julia 150 oder 180 Mark. Im übrigen muß ich gestehen, daß die geplanten Gastspielausflüge mit Schläue eingeleitet wurden: berühmte Kritiker aus Berlin (u.a. der geistvolle Frenzel) wurden fleißig hierher geladen, die Wunder zu beschauen. Sie durften im herzoglichen Schlosse absteigen. Na, man kann sich denken! Wenn in Deutschland ein Souverän, der Bändchen und Titelchen zu vergeben hat, Impresario wird! Aus dem herzoglichen Schlosse gingen Berichte nach Berlin und ins ganze Reich, die Meiningen als dramatisches Betlehem priesen! – Mitte März gab's ein Ereignis für die Stadt: einen Gast im Hoftheater. Ein Fräulein S. aus – die Stadt fällt mir nicht ein – als Maria Stuart. Wir wunderten uns nicht wenig und fragten uns wozu? Da doch die Ellen Franz das Fach spielt und mit ihren 26 oder 28 Jahren noch lange wird spielen können. Und die verläßt Meiningen doch sicher nicht. Ein Augurenlächeln der Eingeweihten: damit sie uns nicht verlassen könne, der Beweis erbracht ist, daß sie als unersetzlich, lebenslänglichen Vertrag mit schwindelnd hoher Gage bekommen müsse. Die S., Durchfallskandidatin, wurde gewählt, weil sie ideal schlecht sei; nach ihr ein zweites Schlachtopfer. Entworfen und gedeichselt wurde das diplomatische Werk von Herrn Chronegk, der Regisseur hieß, weil er solche Stückchen famos zu inszenieren verstand. Aber die Untertanen Meiningens rochen den Braten. Monarchisch bis auf die Knochen, aber zugleich sittlich-moralisch bis auf die Niere, haßten sie die »Maitressenwirtschaft« und, wie sie sich großartig ausdrückten, »den britischen Einfluß«. Die »Stuart«-Vorstellung[93] war ausverkauft. Die S. wird mit Beifall empfangen, und ob sie gleich nach herzoglichem Wunsch zum »Abbusseln« schlecht ist, mit Beifall stürmend überschüttet. Am Schluß – die Rache ist süß, Tyrann von Meiningen! – die Bühne überdeckt mit Blumen und Lorbeer. An der Bühnenpforte wird darauf die S., die zu dem Erfolge kommt wie die Jungfer zum Kind, von einer Schar von Mißvergnügten vergnüglich erwartet und mit Himmelhochjauchzen, das aber auch zum herzoglichen Schloß emporstinkt, begrüßt. Man hätte der Gastin fraglos auch die Pferde ausgespannt, aber der Staat hatte das Pferdeglück, daß die Metropole keine Droschke besaß, und so blieb dem Thron diesmal das Schlimmste erspart. – Aber die Sache wurde immer lustiger: im Wochenblättchen, das, wie sich denken läßt, nie Kritiken über das Hoftheater bringen darf, weil es sonst den »ersten Diener des Staates« kritisieren müßte, eine pompöse Kritik über die S. »Stern!«, »Meisterin!«, »Seelenmalerin!« usw. Der Herzog ergrimmt! Er läßt den Verleger seines Staatsmoniteurs vor seinen Stuhl laden. Das alte, kleine, dachsbeinige Männeken – ich hatte es ab und zu bei seinem Schöppchen am Stammtisch gesehen – steht schlotternd an Seel' und Leib vor dem Herrscher aller Meininger. »Wie konnten Sie sich unterstehen? Wer hat das Zeug geschmiert? Diesen Blödsinn, diesen Schmarren?« – »Hoheit, verzeihen, ich derf's nicht sachen.« – »Mensch, ich wünsche es zu wissen, verstehen Sie das!« – »Ich derf's mal nicht.« – »So? Jetzt befehle ich es Ihnen als ihr Souverän! Wer schrieb den Mist?« – »Ja, wenn ich's bardu sachen muß: höchst Dero Herr Vater, der allerdurchlauchtigste Herr Herzog Bernhard!« Tableau! Dem erstarrten Fürsten bleibt noch soviel Fassung, dem Buchdrucker abzuwinken, der sich nicht in der aufrechten Haltung, die laut Katechismus den Menschen vom Tier unterscheiden soll, sondern tief gebückt und ärschlings[94] nach dem Hintergrund lanciert und in der Glastüre verschwindet. Herzog Bernhard, der frühere österreichische General, der mit dem Kriegsjahr 1870 das Thrönchen seinem Sohn abtreten mußte, war der Theaterwirtschaft des jetzigen Herrn nicht grün; sein Mütchen zu kühlen, kam ihm das Gastspiel der S. apropos. Als zweite Debütrolle der S. stand »Sappho« auf dem Spielplan. Aber mit gnädiger Handbewegung hieß es: Honorar wohl, zweites Auftreten, nein. Die Debütantin, die so schön auf ihren Stuartlorbeeren geruht, sagt energisch wie der alte Shylock: »Ich stehe hier auf meinen Schein.« »Sei's darum,« sagt der Herzog, »aber der Hof und was hofbedienstet (damit Dreiviertel des Städtchens) bleiben fern; sie mag spielen – vor leeren Bänken. Und keine Kränze, keine Blumen; den Spaß kann ich ihr ja versalzen!« – Der Hofgärtner, der einzige, der in Meiningen Blumen zu verkaufen hat, erhält Order: bei Gefahr des Kopfes, kein Blümchen, kein Blättchen! – Der Abend kommt: Das Haus voll bis zur Decke. Da Sappho auftritt, unter brausendem Beifall ein Blumenplatzregen und Riesenlorbeerräder, daß Zirkusspringer hätten durchvoltigieren können. Den größten davon läßt aus einer Hofloge ein selten schöner, hochgewachsener Greis, über dessen Vornehmheit selbst in Paris das Wort ging »über Meiningen gibt es keine Meinungen«, reichen: Seine Hoheit der Herzog Bernhard von Sachsen-Meiningen. Es muß eine Pause eintreten, bis die Mitspielenden die Bühne von dem Grünzeug der Begeisterung entlastet haben. »Wie war das möglich?« zürnt der Herzog. – »Ein Zug mit Landeskindern aus Hildburghausen, Hoheit, und ein telegraphisch bestellter Waggon mit Blumen aus Erfurt!« – »Aufstand!« »Revolution!« ruft der Fürst, »aber wartet, Rebellen, ich werde euch zeigen, wer Herr ist: Ellen Franz, willst Du mein Weib sein vor Gott und den Menschen?« Leises Rot färbte die Wangen der jungfräulichen[95] Magd und an den herzoglich-meiningischen Hausorden sinkend, hauchte sie: »Dein, Georg, mein VII., Dein!« – Nach der »Sappho«-Vorstellung ungewohntes Treiben in Gassen und Gäßchen; verständnisinniges Winken von einer Seite des Bürgersteigs zur andern, was da sagen wollte: »Mir haben's dick hinter den Ohren!« »Mir sind hell unter der Platte!« Schadenfrohes Sich-zublinzeln: »Das haben wir schlau gemacht; nieder mit der Unterrockwirtschaft!« – Im Tabaksqualm der Wirtschaften wagen sich Worte hervor: »Das war nur der Anfang, 's kommt noch ganz andersch.« Das Nationalgetränk, die gute »Gose«, fließt in Strömen und beim Sechsundsechzig wird bei der untersten Karte mit Wucht in den Tisch gehauen: »Nee, 's Weiberregiment dulden mir einmal nicht als solide Demokraten!« Kurz, helle Revolution! Der Herzog aber, er mag sie nicht mehr, seine undankbaren Untertanen: fort, eiligst fort, bis die Wunde, die sie seinem Vaterherzen geschlagen, wieder vernarbt ist. Tags darauf Trauungszeremonie im herzoglichen Schloß. Als Zeugen: der Adjutant des Herzogs und Regisseur Chronegk, seit Jahren der vertrauteste Freund der Ellen Franz. Verdammt! Ein kleines Hindernis! Als der Geistliche die Personalien der Zeugen abhört, stellt es sich heraus, daß Chronegk sich zwar selbst getauft (denn in Wirklichkeit trug er einen jener Namen voll Duft wie Veigelstock oder Mandelblüh), im übrigen aber beschnitten und ungewässert, und somit damals in Meiningen unqualifizierbar als Zeuge war. Was beginnen? Rasche Hilfe tut not! Chronegk selbst hat die Geistesgegenwart: Kammerdiener vor! An dem ist alles tipptopp, da fehlt kein Titelchen, kein Schnitzelchen; er ist auf Befehl Trauungszeuge und packt dem Herzog den Hochzeitskoffer. Im übrigen nach dieser Haupt- und Staatsaktion, auf die Meiningen nicht gefaßt war, Betäubung, Schwüle, dumpfes Schweigen. Ich aber spürte in mir[96] etwas von einem politischen Laubfrosch, stieg auf das optimistische Sprößlein oben und prophezeite: Sonnenschein: alles wird sich in Wohlgefallen lösen, kein Malkontenter schießt – um mit dem alten Schartenmeier zu reden: »der neuen Landesmutter durch den Rock ins Unterfutter«, sondern in Bälde huldigt ihr Stadt und Land.

Bei Bodenstedt, der seit zwei Jahren nicht mehr Intendant des Hoftheaters war – es hieß, daß die Ellen Franz ihn gestürzt – verkehrte ich fleißig. Der Dichter der Mirza Schaffylieder war ein gar stattlicher Herr und schritt mit seinen hohen, gestickten, echt persischen Stiefeln in seinem Wald von Büchern mit so sicherem Bewußtsein wie etwa seinerzeit in Leipzig der gravitätische Literaturdiktator Gottsched. Überall um ihn in dienender Zärtlichkeit seine von ihm so oft besungene Gattin Mathilde. Die anmutige, kleine Frau mit ihrem Lächeln voll Güte, besaß nur eine Schwäche: sie vermochte nicht oft genug von ihrem Manne angedichtet zu werden. »Was willst Du zu Deinem Geburtstag, Mathilde?« – »Ein Gedicht, Friedrich!« war die Antwort. »Was soll ich Dir zu Weihnachten bescheren?« – »Ein Gedicht, mein Friedrich, nichts als ein Gedicht.« – Mit Ostern war die Meininger Spielzeit zu Ende und die langen Ferien begannen. Ich reiste nach München, um mich mit Emilie van der Straß trauen zu lassen. Was wir beide so lange, so heiß ersehnt hatten, es sollte uns nicht zum Heile werden. Die Schuld lag an mir. Die rührende Güte, ungewöhnliche Intelligenz und Schönheit der Frau, die sich mir anvertraut hatte, hätten jedem andern ein dauerndes Glück bereitet. Mein verworrenes Wesen, mein unbefriedigter, krankhafter Ehrgeiz, der nicht erwarten konnte, was sicher von selbst gekommen, ja, bei einiger Geduld viel sicherer und früher gekommen wäre machten mich zu einem fahrigen, kindischen, schier pathologischen[97] Geschöpf, das sich sein Leben und das der Gefährtin ganz unnötig verdarb. – Die Verheiratung eines herzoglichen Hofschauspielers ist doch wahrlich kein kleines Ereignis für eine Thüringer Metropole! Und als ich mit meiner Frau in Meiningen ankam, in den Gäßchen, durch die wir schritten, rechts und links an allen Fenstern, hinter leise zurückgeschobenen Vorhängen, Bürgerinnen und Bürger, vorsichtig auslugend. – Gespielt aber wurde zuerst im Badeort Liebenstein, in einem kleinen herzoglichen Theater. Hier beging ich einen der dümmsten Streiche meines Lebens. Bei einer Probe im Kostüm von Graf Essex befahl mir Grabowsky, ein Barett in der linken Hand, nicht in der rechten, zu halten und während einer langen Szene beileibe nicht vom Degenknauf wegzubringen. Von dem unerhörten Blödsinn gereizt, sprang's in mir auf, ich warf Barett, Rolle und Engagement hin und bat um augenblickliche Entlassung. Spätherbst, eine junge Frau und kein Engagement!

Quelle:
Wohlmuth, Alois: Ein Schauspielerleben. Ungeschminkte Selbstschilderungen von Alois Wohlmuth. München 1928, S. 78-98.
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