In Florenz

[42] Noch vor Mitte Mai war ich in Florenz, wo ich für acht Wochen Fuß faßte. Anfangs fehlte es mir völlig an Bekannten mit künstlerischem oder kunsthistorischem[42] Interesse. Gelegentliche Besuche bei Gaetano Milanesi und Cavalcaselle werden diese mehr gestört als mir genützt haben. Denn so sehr Milanesi die italienische Kunstgeschichte durch seine Urkundenforschung gefördert hat, so wenig Verständnis für Kunst besaß er; und Cavalcaselle, dem wir noch heute das Beste danken, was wir von älterer italienischer Malerei wissen, war damals schon wenig ausgiebig, kränklich und menschenscheu.

Meine Wanderungen durch die Stadt, ihre Kirchen, Paläste und Sammlungen und die Umgebung bis Pisa, Lucca und Pistoja machte ich daher allein und glaubte mir eine Übersicht darüber und zum Teil auch ein eigenes Urteil angeeignet zu haben, als ich – nach etwa fünf Wochen – erfuhr, daß der seit Jahrzehnten in Florenz ansässige »alte Baron Liphart«, an den mich Zahn besonders empfohlen hatte, aus Süditalien zurückgekommen sei. Ich suchte ihn sofort auf und wurde von dem prächtigen, höchst gelehrten und vielseitigen alten Herrn, einem Original durch und durch bis in seine äußere Erscheinung, die Lenbach und sein Sohn Ernst so wundervoll festgehalten haben, aufs liebenswürdigste aufgenommen. Gleich für den folgenden Morgen verabredete er einen gemeinsamen Besuch der Uffizien, wohl um zu sehen, wes Geistes Kind ich sei. Ich hatte schon seine Zufriedenheit dadurch erregt, daß ich über die meisten Bilder, über die er von der hergebrachten Benennung abweichende Ansichten hatte, gleicher Meinung war. Schließlich führte er mich vor die herrliche Gebirgslandschaft im Saal der kleinen Niederländer, die als Rembrandt galt. »Nun, junger Mann,« – so apostrophierte er mich – »Sie sollen als großer Kenner der Holländer gelten; da bin ich doch neugierig, was Sie über dieses Bild denken, puh, puh!« Ich besann mich nicht lange, da das Bild vom ersten Besuch der Uffizien an ein Lieblingsbild von mir geworden war: ich hätte zwar gar keinen anderen Anhalt als die Farbenstiche des Meisters, aber danach hielte ich das Bild für ein Werk, und zwar für das Meisterwerk des Hercules Seghers. Kaum hatte ich den Namen ausgesprochen,[43] so nahm mich der lebhafte alte Herr und umarmte mich coram publico; das sei ja auch seine Ansicht seit langem gewesen, aber er habe sie gegen niemanden auszusprechen gewagt, da er niemals ein Gemälde dieses Künstlers gesehen habe.

Von dem Moment ab hatte ich Lipharts ganzes Herz gewonnen und bis zu dem Tage, wo wir beide nach verschiedenen Richtungen Florenz verließen, waren wir so gut wie unzertrennlich. Alles wurde noch einmal besehen, verschiedene Privatsammlungen, die mir unbekannt oder unzugänglich geblieben waren, und zahlreiche abgelegene und versteckte Kunstwerke in Florenz, Pistoja und anderen Nachbarorten lernte ich jetzt erst durch Liphart kennen oder richtig verstehen. Abends durfte ich dann die reiche Sammlung alter Handzeichnungen und Radierungen in seinem Besitze mit ihm durchsehen, und mit Hilfe seiner zahllosen meisterhaft geordneten Photographien das durchsprechen, was uns am Tage besonders aufgefallen war. Die Anregungen, die Belehrung und der Genuß, die mir diese gemeinsamen Kunststudien gebracht haben, waren mitbestimmend bei meinen späteren Arbeiten, um so mehr, als ich seither in dauerndem Verkehr mit Liphart blieb.

Gleich bei diesem ersten Aufenthalt in Florenz und im Florentinischen hatte ich – neben der Durchsicht der Holländer und Vlamen des XVII. Jahrhunderts, für die ich gute Kenntnisse mitbrachte – mein Studium auf die Malerei und namentlich auf die Plastik der Florentiner Renaissance, vor allem des Quattrocento gerichtet. Ich sah bald, daß abgesehen von den urkundlich oder inschriftlich beglaubigten oder von Vasari namhaft gemachten Bildwerken die Mehrzahl willkürliche Benennungen hatte. Der Name Donatello wurde den Marmor- und Bronzewerken der früheren Jahrhunderte, der des Mino den späteren Marmorarbeiten und Lucas Name so ziemlich allen den zahlreichen Robbia-Arbeiten beigelegt. Hans Semper hatte kurz vorher in seiner Studie über Donatellos Arbeiten für den Campanile, Dom und Or Sanmichele den Anfang zu einer kritischen Forschung über diesen bahnbrechenden Meister der Renaissance gelegt. Ich suchte daher zunächst die Florentiner[44] Arbeiten von Desiderio, von den beiden Rosselino, von Mino und Civitale, sowie ihren Nachahmern zu scheiden und die Eigenart dieser Florentiner Marmorkünstler aus der zweiten Hälfte des Quattrocento festzulegen. Bald darauf konnte ich in der neuen Auflage von Burckhardts »Cicerone« den betreffenden Abschnitt umarbeiten und erweitern. Das Gleiche habe ich auch für die sienesischen Bildner derselben Zeit auf Grund meines Aufenthaltes in Siena, Lucca und Bologna getan und die Freude gehabt, daß diese kurze Skizze im »Cicerone« die Basis für die weitere Forschung geblieben ist, trotz der Konfusion, die Dilettanten und Kunstenthusiasten wie Marcel Reymond und englische Schriftstellerinnen später wieder in die italienische Kunstgeschichte gebracht haben.

Von Florenz wandte ich mich zunächst nach Siena, wo ich die schönen langen Junitage bis in die Nacht hinein ausnutzte. Für die Malerei beschränkte ich mich freilich auf die Zeit der Renaissance, da ich auch hier wie in Florenz und in Oberitalien, trotz Cavalcaselles ausgezeichnetem Werk, das mir für die Malerei stets die Grundlage bildete, die großen Meister des Trecento in der kurzen Zeit nicht klar auseinanderhalten lernte. Für die Plastik dieser Zeit hatte ich mein Auge durch wiederholte Besuche von Pisa, Lucca und Pistoja rascher und besser geübt und dadurch zugleich besonderes Interesse dafür bekommen, so daß mir die Bestimmung der Werke der Pisaner Schule auf ihre Hauptmeister: Niccolò, Giovanni, Tomaso und Nino Pisano, auf Arnolfo di Cambio und andere bald geläufig wurde.

Besonders genußreich und belehrend war mir eine Tour, die ich von Siena aus – leider wieder allein – von Mitte Juni bis gegen Ende des Monats durch das südliche Toskana nach Nord-Umbrien und den südlichen Marken machte. Die herrliche Natur konnte ich bei den prächtigen, freilich sehr heißen Tagen in einem offenen zweiräderigen Karren (dem Wagen eines Landpostboten, der sich mir dazu in San Quirico anbot, und inzwischen die Post durch seine Frau per pedes besorgen ließ) in vollen Zügen genießen. Ich nahm meinen Weg zunächst[45] über Monte Oliveto, San Quirico und Pienza nach Montepulciano, von dort nach Cortona, Arezzo, Borgo San Sepolcro, Citta di Castello und Urbino, schließlich hinab in die Mar ken bis Ancona und Loreto. Neben der Erweiterung meiner Kenntnisse der Florentiner Bildhauer des Quattrocento war es vor allem die nordumbrische Malerschule der Frührenaissance mit ihrem großen Meister Piero della Francesca, die ich hier kennen und bewundern lernte. Die formengewaltigen, groß aufgebauten und tief empfundenen Bilder Signorellis hatten es mir schon in den Florentiner Sammlungen angetan. Was ich jetzt von ihm in Monte Oliveto, in den Städten am Abhang des Apennin und schließlich im Dom zu Loreto sah, konnte meine Bewunderung nur noch steigern.

Aber eine vollständige Überraschung waren mir die Fresken Pieros della Francesca zu Arezzo. Nach dem kostbaren Doppelporträt des Herzogs Federigo von Urbino und seiner Gattin in den Uffizien war mir die ganz neue Auffassung dieses Künstlers, der Geist und die Energie, mit der er sie durchführte, noch nicht zum Bewußtsein gekommen. Was Cavalcaselle als derb und eckig bezeichnete, was Jacob Burckhardt als »roh« in diesen Fresken abschreckte, erschien mir als konsequente Durchführung von Pieros neuem Prinzip, die Gestalten durch das Medium des Lichtes zur Erscheinung zu bringen. Der Künstler hat darin zugleich das Mittel gefunden, seine Darstellungen überraschend lebenswahr, plastisch und groß erscheinen zu lassen. Schon in den beiden hervorragenden Schülern Pieros, in Melozzo, den ich in Loreto in seiner ganzen Bedeutung kennenlernen sollte, und mehr noch in Signorelli, ist diese fast moderne Empfindung für die Wiedergabe der lichtdurchtränkten Luft im Bilde zu einfacher plastischer Licht- und Schattenwirkung herabgestimmt. Erst in Correggio kommt sie bei den Italienern noch einmal, freilich in ganz anderer Weise, zum Durchbruch.

Daß Piero aber bereits einen Vorgänger hatte, seinen Lehrer Domenico Veneziano, ist mir erst später klar geworden, als ich jene lichtumflossenen und luftausströmenden[46] Frauenbildnisse kennenlernte, deren Meisterwerke das Museo Poldi und jetzt das Kaiser-Friedrich-Museum besitzt. Die Verkennung des Piero durch Morelli in Hauptwerken wie dem Altarbild des Federigo von Urbino in der Brera und die Zähigkeit, mit der Morellis Schule selbst an seinen Irrtümern festhält, sind schuld daran, daß auch Domenico in seiner richtigen Bedeutung heute noch nicht erkannt oder anerkannt ist. –

Der Sommer 1871 war in Italien, nachdem der Frühling sehr regnerisch und oft kalt gewesen war, von so ungewöhnlicher Hitze, daß diese intensive Arbeit – ich habe gelegentlich an einem einzigen Tage zwei oder gar drei Städte, wie Rimini, Cesena, Pesaro, Fano, Forli, Ancona und Loreto, besucht, alle wichtigeren Bauten und Kunstwerke darin angesehen und mir Notizen darüber gemacht – mich schließlich stark angriff und mein Kopfleiden wiederholt zum Ausbruch kommen ließ. Ich mußte deshalb meinen ursprünglichen Plan, ein ganzes Jahr ununterbrochen in Italien zu bleiben, aufgeben und eilte Anfang August zurück über die Alpen, um im Salzkammergut meine Eltern zu treffen und mich in einem mehrwöchigen Aufenthalt am Kammersee einigermaßen zu erholen. Im September ging ich über Wien nach Dresden, wo die Holbein-Ausstellung zu besichtigen war, die mir – in den Bildnissen aus englischem Privatbesitz, namentlich aus Windsor – manches Neue brachte. Ich blieb auf Wunsch von Zahn, der damals vortragender Rat für Kunst im Sächsischen Ministerium war, ein paar Wochen in Dresden, um die Notizen, die ich für den Cicerone von Italien aus geschickt hatte, für eine dritte Auflage durchzuarbeiten. Zahn forderte mich auf, für einen Katalog der Dresdener Galerie, den er vorbereitete, die niederländischen Schulen zu bearbeiten. Die Notizen, die ich mir dafür machte, sind nach Zahns plötzlichem Tode im letzten Band seiner Jahrbücher (1873) als Kritik des Hübnerschen Katalogs erschienen. Wie in Dresden die Sammlung des Ministers von Friesen, so lernte ich damals auf der Durchreise durch Leipzig nach Braunschweig die v. Specksche Galerie in Lütschena zuerst kennen.[47]

Auf Wunsch meiner Ärzte – ich war seit mehreren Jahren in Behandlung des trefflichen Nervenarztes Professor Hasse in Göttingen, eines begeisterten Kunstfreundes und Sammlers, der sich meiner in väterlicher Weise annahm – blieb ich den Winter über in Braunschweig und benutzte die Muße, um die reichen Eindrücke der letzten Jahre, namentlich von meiner italienischen Reise zu verarbeiten.

Quelle:
Bode, Wilhelm von: Mein Leben. 2 Bde, 1. Band. Berlin 1930, S. 42-48.
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