Schulzeit

[19] Etwa nach Jahresfrist wurde mein Vater an das Kreisgericht in Braunschweig versetzt; ich mußte nun meine liebe Heimat für immer verlassen. Zu Ostern 1859 kam ich wieder auf das Gymnasium, das ich in fünf Jahren in regelmäßigem Lauf durchmachte; nicht als der beste Schüler, doch keineswegs als der schlechteste.

Leider boten nur wenige Lehrer der Phantasie einige Anregung oder wußten uns den Gegenstand wirklich nahezubringen, uns dafür zu erwärmen. Für Mathematik und verwandte Fächer hatte ich keinerlei Veranlagung; auch dieser Lehrer verstand leider nicht, uns Lust und Verständnis beizubringen. Trotzdem habe ich mich bis zum Abiturientenexamen und selbst in diesem noch leidlich gehalten, indem ich, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, von meinem Nachbar die Ansätze abschrieb. Dieser, ein tüchtiger Mathematiker, aber konfus, pflegte sich regelmäßig zu verrechnen, so daß meine Arbeiten oft besser als die seinigen waren.

Auch in den modernen Sprachen habe ich leider in der Schule herzlich wenig gelernt. Die Schwäche und den Mangel[19] an pädagogischer Begabung des trefflichen Lehrers machten wir Schüler uns in unverant wortlicher Weise zunutze. Dagegen interessierten mich Geographie, Geschichte, deutsche Literatur und die Klassiker, namentlich die griechischen.

Das Interesse an den letzteren verdanke ich aber weit weniger unseren Lehrern als dem nächsten Freunde meines Vaters, dem Obergerichtspräsidenten Trieps, dessen Sohn nach dem frühen Tode seiner Mutter seit 1860 mit in unsere Familie aufgenommen war. Der Vater, später lange braunschweigischer Justizminister, war damals am Obergericht in Hamburg, wo er an der Kodifikation des deutschen Seerechts teilnahm. Wenn der Sohn in den großen Ferien zu ihm ging, begleitete ich ihn gelegentlich. Im ersten Jahre unternahmen wir mit ihm zusammen eine Rheinreise, im zweiten Jahr waren wir bei ihm in Hamburg und machten von dort eine Fußwanderung an die holsteinischen Seen. Neben der Anregung, die er uns in Stadt und Land zu geben wußte, benutzte er die freien Stunden des Abends oder auf der Fahrt, um kursorisch Stücke aus den Klassikern mit uns zu lesen. Ein Philologe, wie keiner von unseren Lehrern, war er zugleich ein Mann von einer Schärfe der Auffassung, von einer Beredsamkeit und einem Feuer, durch das er jedes Thema interessant zu machen, uns für alles zu begeistern verstand. Wie spielend wurden wir dabei in den Geist der Sprache und vor allem in den Gegenstand eingeführt.

Der Genuß solcher Stunden veranlaßte uns später, jahrelang mit ein paar gleichgesinnten Freunden zusammen regelmäßig neben den Dramen unserer großen Dichter eine Reihe der Tragödien des Sophokles und Euripides, der Lustspiele des Aristophanes, der Reden des Demosthenes zu lesen. Mein Lieblingsschriftsteller wurde Homer; von der Ilias suchte ich ganze Gesänge auswendig zu lernen, zum Teil zur Übung meines durch langjährige Anwendung von Brom sehr geschwächten Gedächtnisses.

Was uns die Schule nicht gab, die Freude und ein gewisses Verständnis für die Schönheit der klassischen Sprache und Literatur, verdankten wir den Anregungen des alten Trieps und dieser gemeinsamen Arbeit. Am Rhein taten es uns die[20] Burgen und der romantische Sagenkreis an, der um sie gewoben ist; in Hamburg begeisterten wir uns für das Seeleben, wußten jedes Schiff nach seiner Größe, jede Rahe und jedes Segel zu benennen.

Reisen, auch wochenlange Fußreisen mit Freunden, gestattete mir mein Vater überhaupt gern. Neben dem Harz, den wir fast jedes Jahr wieder besuchten, habe ich damals u.a. das ganze Wesergebiet von Kassel bis hinunter nach Minden besucht. Ob mir dabei die Kasseler Galerie, die damals nur gegen ein hohes Trinkgeld zu sehen war, oder Wilhelmshöhe mit dem Herkules und seinen Wasserkünsten mehr Eindruck machte, hat sich mir im Gedächtnis verwischt, da ich seither die herrliche Sammlung zu häufig wiedergesehen habe. Doch war die Freude an der Kunst, namentlich an der Malerei damals schon in mir lebendig.

Die ersten Kunststudien, deren ich mich entsinne, waren freilich recht eigener Art gewesen. Mein großelterliches Haus, das, früher im Gräflich Veltheimschen Besitz, heute noch in unserer Familie ist, lag damals in einem größeren Garten, in dem sich weiter zurück das alte, einstöckige Gartenhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert befand. Es wurde für Dienst- und Vorratsräume verwendet; nur zum Weihnachtsfest, wenn Kinder und Enkel sich bei den Großeltern vereinigten, wurden auch hier ein paar Räume als Logierzimmer hergerichtet. Sie hatten noch ihre alte Einrichtung: hohe Spiegel mit Kommoden darunter, umgeben von kleinen Konsolen mit Porzellanfigürchen darauf, meist kleine Büsten der Fürstenberger Fabrik. An diesen erprobten wir unsere kindlichen Kunststücke. Die Porzellanfiguren wurden mit Windbüchsen heruntergeschossen und die Marquetterie der Möbel, die Zeichnung aus den Perlentischen kunstreich mit den Fingern herausgekratzt, so daß nun neue Muster entstanden. Meinen Vater, der alles Rokoko als »französisch« haßte, amüsierte unsere Tätigkeit. Ob solche frühe intime Beschäftigung mit der Kunst mir das spätere Interesse für dieses Gebiet eingeimpft hat?[21]

Wahre Freude an alter Kunst regte sich in mir, bald nachdem ich den ersten Begriff davon in den Sammlungen des Herzoglichen Museums in Braunschweig bekam. Ich wurde, als wir nach Braunschweig gezogen und ich dort in die Sekunda des Gymnasiums aufgenommen war, ein regelmäßiger Gast des Museums an den beiden Tagen, an denen es öffentlich zugänglich war. Häufig begleitete mich ein etwas älterer Schulkamerad, der Sohn des Direktors der naturwissenschaftlichen Sammlungen des Museums Professor Blasius. Wir schafften uns gemeinsam den Katalog der Gemäldesammlung an, den ich durchschießen ließ und mit meinen »kritischen« Bemerkungen versah. Was mich am meisten entzückte, waren neben klassisch formenschönen, z.T. recht nüchternen Bildern (wie die Vestalin von Raoux) die Gemälde der holländischen Schule, die Bilder von Jacob Ruisdael, von Jan Steen, vor allem von Rembrandt.

Aber damals ging mein Interesse doch noch viel lebhafter nach einer anderen Richtung. Die Freude an der Natur und der Naturgeschichte war mir im Leben in der freien Natur des Harzes zum Bedürfnis geworden, und die Lust am Sammeln, namentlich von Versteinerungen, wurde auch in der Stadt nicht unterdrückt. Sie erhielt neue Nahrung durch einen Mitschüler auf dem Gymnasium, Alfred Nehring, mit dem ich in die Umgebung von Braunschweig Ausflü ge machte, um zu sammeln, was die Gegend bot. Außerdem hatte ich auf einem Gute unseres nächsten Verwandten, des Landrats Wilhelm Rimpau, wo wir regelmäßig längere Zeit im Jahre auf Besuch waren, Gelegenheit, allmählich eine Anzahl seltener Versteinerungen des dort am Hoppelberg anstehenden Quadersandsteins zusammenzubringen.

Angeregt namentlich durch meinen Freund Nehring begann ich mich auch wissenschaftlich mit Geologie und Geognosie etwas zu beschäftigen, in der festen Absicht, dieses Studium als Lebensaufgabe zu ergreifen. Aber mein Vater hielt es nicht für ein Brotstudium und verlangte, als ich mit 18 Jahren mein Abiturientenexamen bestanden hatte, ich solle neben Naturwissenschaften[22] Medizin studieren, um eine gesicherte Lebensstellung zu erreichen. Da ich aber zum ärztlichen Beruf keine Neigung und Begabung in mir fühlte, und da mir klar war, daß ich im Ernst eine so vielseitige und umfassende Aufgabe nicht zu lösen imstande war, bequemte ich mich schließlich nolens volens zu dem Studium, in dem mein Vater wie mein Großvater ihren Beruf gefunden hatten, zur Jurisprudenz. Mit der Geologie ist es dann auch nichts geworden, während mein Studiengenosse Alfred Nehring, obgleich er aus ähnlichen Gründen wie ich ein »Brotstudium«, die Philologie, wählte und noch sehr jung zum Direktor eines Gymnasiums am Rhein berufen wurde, von da aus durch seine hervorragenden Arbeiten über die Tierwelt der Eiszeit als Professor der Paläontologie und Zoologie an die landwirtschaftliche Hochschule nach Berlin berufen wurde.

Doch ist wenigstens meine kleine Sammlung von Versteinerungen schließlich zu Ehren gekommen, freilich in eigentümlicher Weise. Ein Landsmann, der Professor der Geologie an einer kleinen Universität war, bat mich gelegentlich um Durchsicht meiner Versteinerungen und ließ sich alle guten Stücke daraus von mir schenken, da sie ihm für eine Publikation über Portlandkalk sehr nützlich wären. Bald darauf besuchte ich zufällig die geologische Sammlung der Berliner Museen im Beisein des Direktors. Mir fielen verschiedene seltene Stücke auf, die mit Stücken aus meiner Sammlung genau übereinstimmten, und auf Anfrage erfuhr ich, daß sie eben erst von dem Professor angekauft worden seien, dem ich sie geschenkt hatte, der aber seine Arbeit über den Portlandkalk nie veröffentlicht hat.

Quelle:
Bode, Wilhelm von: Mein Leben. 2 Bde, 1. Band. Berlin 1930, S. 19-23.
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