Differenzen mit Morelli und seiner Schule

[57] Neben meiner beneideten Stellung hat mir auch meine offene Kritik an den Arbeiten von Kollegen, die mir als verfehlt oder nichtig erschienen, manche Feindschaft eingetragen. Ganz besonders ist das der Fall gewesen bei meinem Kampf gegen Morellis »Methode«, durch den ich mir den Haß und die Verfolgung der ganzen Schar seiner gläubigen Jünger bis auf den heutigen Tag zugezogen habe. Es gab für mich auch einen besonderen, persönlichen Grund, gegen den albernen Ton der Angriffe zu protestieren, die sich Morelli gegen mich wegen der Bestimmungen der italienischen Bilder unseres Kataloges fast auf jeder Seite seines 1881 erschienenen Bandes über die Galerien von Berlin und München erlaubt hatte, da in unserem Kataloge der Abschnitt der germanischen Schulen von mir, der der romanischen aber von meinem Kollegen Meyer geschrieben war. Ich erfuhr zufällig durch Dr. Eisenmann, welcher in Kassel von einem der rabiatesten Anhänger der Morelli-Sekte, Georg Habich, stets auf dem laufenden gehalten wurde, daß Morelli im Begriff sei, in einem Buche über unsere Galerie sich ganz besonders an mir zu reiben. Ich ließ darauf durch Habich Herrn Morelli wissen, daß ich mit diesem Teil unseres Katalogs sehr wenig zu tun habe. Morelli ließ sich aber dadurch nicht beirren. Ich habe das in einem Briefe an den Redakteur des »Archivio storico dell'Arte« richtigzustellen gesucht; dieser ist aber »aus Versehen« nicht erschienen.

In einer Richtigstellung gehässiger Angriffe Frizzonis gegen eine damals erschienene Auflage von Burckhardts »Cicerone« schließe ich diese Rechtfertigung mit den Worten: »In den wichtigeren Fällen kann ich die Ansichten Frizzonis oder vielmehr die von ihm verfochtenen Ansichten des Senators Morelli nicht zu den meinigen machen und kann ihm daher weder für[57] die Jugendentwicklung Leonardos noch des jungen Raphael oder für Melozzo, Verrocchio, Pollajuolo usw. gewünschte Änderungen in Aussicht stellen oder gar so gewagte Hypothesen wie die über Timoteo Viti oder Jacopo de' Barbari aufnehmen. Ich werde sogar infolge der neuesten Urkundenforschung Venturis und anderer mancherlei Irrtümer, namentlich über die Schule von Ferrara, Modena und Mailand, welche ich aus dem vielfach so verdienstvollen Buche Lermolieffs (Pseudonym Morellis) herübergenommen habe, ohne selbst eine Prüfung vornehmen zu können, in einer neuen Auflage auszumerzen haben. Ich kann mich eben, trotz aller Predigten der Schüler Lermolieffs, nicht entschließen, meine Überzeugung seinen Aussprüchen unbedingt zu opfern. Ich habe bisher angenommen, daß der Fortschritt in der Kunstgeschichte wie in allen Wissenschaften im Austausch der Meinungen, in der kritischen Abwägung und Würdigung derselben bestände: jetzt verlangt aber eine Sekte von Kunstjüngern, daß man auf die Lehren ihres Meisters schwören soll, widrigenfalls man verdammt und mißhandelt wird. Ja, Frizzoni, der milde, sanfte Frizzoni, mein alter Freund und Studiengenosse, fügt zu dem Fanatismus des Kunstpapsttums noch die Aufhetzung nationaler Eitelkeiten hinzu: er erklärt wiederholt (in jenem Aufsatze des Archivio Lombardo und auch früher schon), daß ein Fremder über italienische Kunst eigentlich gar nicht urteilen dürfe, da er wirkliches Verständnis gar nicht dafür haben könne. Und das sagt der Sohn eines Schweizers, der in Deutschland studiert hat, sagt der fanatische Schüler eines Mannes (Morelli), der ein Schweizer von Geburt und ein Deutscher nach Erziehung und Bildung ist!«

Statt der persönlichen Erwiderung veröffentlichte ich gelegentlich der italienischen Ausgabe von Morellis Buch eine sachliche Kritik, die ich hier gleichfalls folgen lasse, da ich sie auch heute noch fast ausnahmslos unterschreiben kann, und da die Nepoten Morellis, dank seiner dürftigen und völlig einseitigen Methode, noch dasselbe Gefühl der Unfehlbarkeit[58] und den gleichen bedauerlichen Mangel an Qualitätssinn haben.

Lermolieffs wenig umfangreiches Buch, das im Jahre 1880 in deutscher Sprache unter der Bezeichnung: »Ein kritischer Versuch« veröffentlicht wurde, ist seither ins Englische übersetzt und liegt jetzt in italienischer Übersetzung vor. Kein ähnliches kunsthistorisches Werk hat einen solchen Erfolg zu verzeichnen; keines hat in Deutschland – in England und Italien muß das Werk erst seinen Weg machen – ein Aufsehen erregt wie diese pseudonyme Publikation. Diesen Erfolg kann das Buch nicht allein seinem kritischen Inhalt verdanken; denn verwandte Arbeiten von ähnlicher kritischer Bedeutung, wie z.B. Otto Mündlers Analyse der italienischen Bilder des Louvre, sind nur im engsten Kreise bekannt geworden. Den Erfolg verdankt dasselbe offenbar der Art seiner Kritik, der »Methode« des Verfassers, welche er als Basis für die Kunstwissenschaft bezeichnet, und auf welche er daher das Hauptgewicht legt. Lermolieff schließt sein Vorwort: »Wer in meiner Experimentalmethode ein Mittel sieht, um mit der Zeit aus dem leidigen Kunstdilettantismus heraus zu einer Kunstwissenschaft zu gelangen, der nehme das Kreuz auf seine Schulter und folge mir nach.« Dieser Ruf des Propheten in der Wüste hat bei zahlreichen Kunstjüngern Gehör gefunden, und eine Gemeinde hat sich um den Meister geschart, deren zumeist deutsche Mitglieder ihr eigenes, teilweise recht tüchtiges Wissen voll Entsagung hinter sich geworfen haben, um auf die neue Lehre ihres Heiligen zu schwören und Zweifler und Ungläubige unbarmherzig zu Boden zu schlagen.

Diese lärmenden Freunde des »sarmatischen« Kunstkritikers haben demselben mehr geschadet als genützt; sie haben aus der »Methode« ihres Meisters eine Karikatur gemacht und haben durch ihr Gebaren und Treiben dem Verfasser der »Werke italienischer Meister« einen, wenn auch stummen und weniger zahlreichen, so doch fast ebenso erbitterten Kreis von Gegnern zugezogen. Es ist daher außerordentlich schwierig, zwischen beiden Parteien Stellung zu nehmen und ganz unbefangen[59] an die Kritik des Buches heranzutreten, wo jede Beanstandung einer Ansicht von den Einen als Hochverrat, jede Zustimmung von den Andern als Abfall von der guten Sache angesehen wird. Dies ist auch wohl der Grund, weshalb, trotz des außerordentlichen Aufsehens, bis heute überhaupt noch keine Kritik des Buches geschrieben ist, die zur Klärung dieser Gegensätze dringend nottäte.

An dieser Stelle muß ich mich darauf beschränken, in wenigen Worten die Bedeutung des Buches herauszuheben. Vorweg ein paar Worte über die Stellung Lermolieffs zu Crowe und Cavalcaselle, den Verfassern der bekannten »History of Painting in Italy«. Wer sich bewußt ist, was er jenem Werke von Crowe und Cavalcaselle verdankt – und das ist gewiß jeder Vorurteilsfreie, der ernsthafte Studien in der Ge schichte der italienischen Malerei gemacht hat –, wird sich freilich fast auf jeder Seite durch den Hohn und die unter der Maske der Hochachtung sich verbergende Geringschätzigkeit gegen die »berühmten Historiographen« verletzt fühlen. Aber dieser Rücksichtslosigkeit verdankt das Buch doch andererseits die Klarheit in der Darlegung der eigenen Ansichten des Verfassers und die Offenheit in der Bloßlegung der kleineren und größeren Mängel und Irrtümer, die jenes Werk mit allen ähnlichen grundlegenden Büchern gemein haben mußte, und deren Widerlegung Lermolieff sogar als den »Hauptzweck« seines Buches bezeichnet. Eines nur hätte der Verfasser dem Leser mindestens ersparen sollen: jenes widerliche Zerrbild der beiden um die Kunstgeschichte hochverdienten Männer, welches mehrere Seiten des Vorworts ausfüllt. In der englischen Ausgabe ist der betreffende Passus ausgefallen; warum ist er jetzt in die italienische Übersetzung wieder aufgenommen?

Wie der Titel des Buches angibt, ist die kritische Besprechung der einzelnen italienischen Bilder in den Galerien von München, Dresden und Berlin die Veranlassung und der nächste Zweck des Buches. Wie weit die Bestimmungen des Verfassers, welche von den Vorständen der betreffenden Sammlungen[60] für die Kataloge in weitestem Maße und mit größter Anerkennung benutzt worden sind, in einzelnen Fällen ge rechtfertigt sind oder nicht, darauf kann ich hier nicht eingehen.

Die Einzelkritik benutzt nun der Verfasser, um in ausgesprochen lehrhafter Weise – er wendet sich in erster Linie an den Nachwuchs der deutschen Kunstwissenschaft – seine Methode der Kunstbetrachtung zu entwickeln. Diese besteht in der »scharfen Beobachtung der den verschiedenen Künstlern eigentümlichen Formen des menschlichen Körpers«; in der Prüfung der beglaubigten Werke eines bestimmten Meisters auf seine Auffassung und Bildung des Kopfes mit allen seinen Details, insbesondere die Bildung des Ohres, seine Zeichnung der Füße und Hände bis zum Schnitt der Nägel, seine Faltengebung in den Gewändern usw. In dieser »Experimentalmethode« glaubt der Verfasser die einzige Basis für eine Kunstwissenschaft gefunden zu haben.

In der Schärfe und Einseitigkeit, in welcher Lermolieff die Bilder daraufhin betrachtet und danach ihre Meister bestimmt, verrät sich der Mediziner von Fach. Als solcher ist der Verfasser besonders befähigt, die Formenanschauung jedes einzelnen Künstlers zu erkennen und sich die Äußerlichkeiten, seine Manier in der Wiedergabe der Formen (die »faunartig zugespitzten Ohren«, die »ausgesprochene Daumenwurzel« usw.) zu merken. Doch in solcher Einseitigkeit kann diese Methode zu argen Verirrungen und Irrtümern führen: gar nicht selten sind in einem einzigen Bilde sämtliche Ohren ganz verschieden gebildet, oder Form und Haltung der Finger sehr mannigfaltig gestaltet. Eine Berechtigung und eine gewisse Sicherheit erhält diese Betrachtungsweise, die von Zeit zu Zeit in jeder Wissenschaft aufzutauchen pflegt und durch geistvolle Verfechter sich vorübergehend eine gewisse Geltung zu verschaffen weiß, erst in Verbindung mit andern Hilfsmitteln der Beobachtung. Wie Formenanschauung und -bildung bei jedem Meister bis zu einem gewissen Grade eine typische zu sein pflegt, so ist es auch die Farbengebung, so ist es der Ton der Färbung, ist es die Farbentechnik. Diese wollen also ebensogut[61] beobachtet sein, und werden für die Bestimmung eines Meisters oft ebenso entscheidend sein wie seine Formengebung. Ein nicht unwesentliches Hilfsmittel ist auch die Diplomatik, das Studium der Inschriften auf den Bildern, insbesondere der Künstlerinschriften. Selbst so anscheinend nebensächliche Umstände, wie das Material der Bilder, haben mehr oder weniger Bedeutung. Erst in der Beobachtung aller dieser verschiedenen Eigentümlichkeiten jedes Künstlers liegt die richtige »Experimentalmethode«. Daß sie der einzelne, je nach seiner Begabung und nach seinen Studien, mehr nach der einen oder andern Seite hin anwendet, liegt nun einmal in der Begrenzung unserer menschlichen Natur begrün det. Wir werden daher auch dem alten Mediziner Lermolieff dankbar sein, wenn er seine besonderen Kenntnisse der menschlichen Formen bei seiner kritischen Betrachtung der alten Meister in erster Linie zugrunde gelegt hat; denn es ist ihm dadurch manches klar geworden, was einem anderen entgangen wäre. Aber als die alleinseligmachende Methode darf er dieses eine Hilfsmittel zur Erkenntnis eines Künstlers doch nicht hinstellen.

Wichtiger als diese Methode seiner Betrachtung scheinen mir die ausführlichen Exkurse über verschiedene italienische Maler und selbst über ganze Schulen, welche Lermolieff an einzelne Bilder der von ihm besprochenen Galerien anknüpft. Die Charakteristik bestimmter, mehr oder weniger einflußreicher Meister, ihre Entwicklung, ihr Malerwerk ist durch das kleine Buch weiter gefördert als durch manche bändereiche »Geschichte« der italienischen Malerei. Und auch da, wo der Verfasser nach meiner Überzeugung fehlgeht, bringt er doch so viel Neues und trägt seine Gründe in so klarer Weise vor, daß die endgültige Entscheidung der betreffenden Fragen dadurch von ihm gefördert wird. Am glücklichsten erscheint mir Lermolieff, um nur einige Hauptmeister zu nennen, in seinen Exkursen über Palma Vecchio, Lorenzo Lotto, über die Jugendentwicklung Tizians und Correggios, über Pinturicchio, die ältesten Mailänder Maler, unter denen er dem Vincenzo Foppa wieder[62] zu seiner richtigen Geltung als Altmeister der lombardischen Schule vor Leonardo verhilft. Auch Bestimmungen wie die der Venus in der Dresdener Galerie als ein Werk Giorgiones werden vermutlich bald unbestrittene Resultate des Buches sein. Dagegen glaube ich, daß Lermolieff mit seiner Charakteristik eines Bianchi, Jacopo de' Barbari, Timoteo Viti, Raffaellino, A. Pollajuolo, Preda, Conti u.a. nur durch den Widerspruch, den seine Ansichten hervorrufen müssen, die Kenntnis dieser Meister gefördert hat. Dasselbe gilt m.E. auch von seiner Darstellung der Jugendentwicklung Raphaels, ganz besonders von der Würdigung des bekannten »Skizzenbuchs« in der Akademie zu Venedig, dessen Zeichnungen er zumeist für Studien des Pinturicchio erklärt. Hier zeigt es sich ganz besonders, daß jene äußeren Hilfsmittel zur Bestimmung der Künstler, die »Methode«, zu Resultaten führen, die dem inneren Gehalt der künstlerischen Erscheinung der betreffenden Kunstwerke völlig widersprechen. In der Hand der studierenden Jugend, an welche sich Lermolieff in erster Linie wendet, scheint mir deshalb das Buch nicht ohne große Gefahr zu sein; denn durch diese »Experimentalmethode« des Mediziners, durch die ganz einseitige Anwendung eines der verschiedenen äußerlichen Hilfsmittel der Kunstkritik, zieht dasselbe gerade den gefährlichsten Dilettantismus groß, gegen den es sich so energisch wendet. Dagegen wird der mit der italienischen Kunstgeschichte Vertraute auf jeder Seite reiche Belehrung und Anregung finden; auch da, wo er sich im entschiedensten Gegensatz giegen den Verfasser weiß. Es ist gerade ein Hauptvorzug des Buches, daß es zum Selbststudium und zur Nachprüfung anleitet. Daß der Verfasser dies auch wünscht, spricht er nicht nur wiederholt aus: er gibt selbst in dieser italienischen Übersetzung, die leider ohne Zutun des Verfassers entstanden zu sein scheint, das Beispiel dazu. Dies beweist sein Zugeständnis in bezug auf seine Verwechslung von Verrocchio und Pollajuolo und die Anerkennung der kleinen Verkündigung des Louvre als Jugendwerk Leonardos. Wo der Verfasser selbst rücksichtslos Kritik übt an seinen eigenen Ansichten,[63] da kann er am wenigsten wünschen, daß diese sinnlos nachgebetet werden! Wenn Lermolieff daher in seiner Vorrede der vorliegenden Übersetzung seiner Gemeinde mit Friedrich dem Großen zuruft: »Gott bewahre mich vor meinen Freunden, mit meinen Feinden werde ich allein schon fertig werden, so ist dies zwar in scherzhafte Form gekleidet, aber gewiß recht ernsthaft gemeint.«

Quelle:
Bode, Wilhelm von: Mein Leben. 2 Bde, 2. Band. Berlin 1930, S. 57-64.
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