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[62] Einst waren beide Städte Zentren des Welthandels: Pisa, die ältere, Seekönigin des Tyrrhenischen Meeres; Venedig, die jüngere, in ihrer Blütezeit weit mächtigere Herrscherin an dem Adriatischen Meerbusen. Heute zeugen nur noch die prächtigen Fassaden der Paläste, in denen Proletariat, Magazine aller Art ihr Unterkommen gefunden haben, sowie Kirchen und Museen von ihrer einstigen Herrlichkeit.
Pisa ist zu einem anmutigen Handstädtchen herabgesunken. Der Arno wälzt sein graues Wasser, auf dem in Nachen mit breiten Netzen die Fischer ihre schmale Beute zu fangen suchen, in überstürzenden Wellen, eingeengt durch aufgemauerte Steinquadern, dem nahen Meere zu.
Die Stadt birgt den schönsten architektonischen Schmuck, den christliche Kultur jemals hervorgebracht hat. Abgeschlossen für sich, fern von den Gassen und Gäßchen, befindet sich an der mächtigen dunklen Stadtmauer mit gezackten Zinnen dieser einzige Platz. Auf fahlem Rasen, der noch die Spuren der gotischen Schnabelschuhe, der gepanzerten Füße der Ritter und der Stöckelschuhe der Rokokodamen in sich zu bergen scheint, erhebt sich der marmorne Dom nebst dem Baptisterium und dem einem Trunkenen gleich hin- und hertaumelnden weltbekannten schiefen Turm von Pisa; an der äußeren nördlichen Seite dieser architektonischen Wunderwerke, die herrlich in ihrer Zusammengehörigkeit wirken, liegt gegenüber eine glatte, durch flache Säulen gegliederte lange Mauer, die zu dem Campo santo gehört. Das Ganze wirkt von einer imposanten Einheitlichkeit, wie ich bereits gesagt habe, die hauptsächlich bei bedecktem Himmel in all ihrer Schönheit genossen werden kann. Nur würde ich manches drum geben, wenn der Turm senkrecht wäre, wenn die Erbauer doch nicht dieser Kunstspielerei nachgegangen wären. Dagegen ist Dom und Baptisterium von unaussprechlicher Erhabenheit. Das erste Beispiel romanisch-goti scher Baukunst, nach welchem die Dome in Florenz, Lucca, Pistoja usw. ihren Charakter erhielten. Bronzene Türen mit Reliefs sind die Zugänge zu dem Innern beider Bauwerke. In dem Dom trennt ein Säulenwald das Mittelschiff von den Seitenschiffen. Von der goldenen kassettierten Decke senkt sich schwebend die bronzene Lampe, welche Galilei die Geheimnisse der Pendelschwingungen offenbarte. In der östlichen Halbkuppel befindet sich ein riesenhafter Christus in Mosaik. Das runde Baptisterium birgt eine Kanzel des Pisano und ein orgeltönendes Echo.
Der Maler sieht das alles mit halbem Auge, ihn zieht es in das Campo santo. Nicht die einfache, schön gegliederte Architektur, noch die Erde aus Jerusalem, mit welcher das von den Säulen und Rundbogen umschlossene Feld bei der Gründung angefüllt wurde, bewegt das Herz des Malers; es sind die Fresken, die in überreicher Anzahl längs den Wänden sich oft in doppelten Reihen dahinziehen. Vieles ist der Zeit und der italienischen Gleichgültigkeit für Erhaltung ihrer Kunstschätze zum Opfer gefallen, aber es ist des Gewaltigen und Schönen noch genug da, wovon ein Malerherz ergriffen werden kann. Auch die naive Brutalität der nachgeborenen Italiener zeigt sich hier hinlänglich, indem sie es für keine Sünde hielten, steinerne Monumente glatt vor die Fresken zu stellen, so daß die oberen Teile – Obelisken oder Figuren – der Denkmäler ein gut Teil der Gemälde verdeckten.[63]
Alle Welt kennt das geschämige Mädchen, welches seine Augen mit vorgehaltener Hand und gespreizten Fingern vor der Nacktheit des trunkenen Noah verbirgt. Diese Figur gehört zu Szenen aus dem Alten Testament, mit welchen Benozzo Gozzoli die Nordwand geschmückt hat. Er zeigt sich hier in der Schilderung des allgemeinen Hebens, das er aus seiner Zeit in die biblischen Motive hineingelegt, weit interessanter als in den Fresken im Mediceer-Palast in Florenz. Auch hier bringt er gern Männer an, die zu Pferde steigen wollen, die sich die Sporen von einem knienden Knechte an oder abschnallen lassen. Aber auch das Handwerkliche verherrlicht er und schildert es mit staunenerregender Sachkenntnis, wie z.B. die Maurer an dem babylonischen Turmbau: die einen tragen Ziegel und Mörtel, andere verrühren mit Schaufeln und Stangen den Kalk, wieder andere schlingen Stricke um ein Stück steinernes Gesims, um es in die Höhe zu bringen; alles wie zur Zeit des Künstlers und wie bei uns. Dazwischen spielen Hunde miteinander oder kläffen kleine Buben an, die sich ängstlich aneinanderdrücken, wie in der Weinlese des Noah. Das Bild, welches die Trunkenheit Noahs darstellt, ist stark abgeplatzt, aber die Weinlese ist vollständig, wenn auch renoviert. Zu wieviel Bildern schon ist die Gruppe verwertet worden: das Mädchen mit erhobenem Ant litz, das beide Hände zum Empfang eines mit Weintrauben gefüllten Korbes emporreckt, welchen ihr ein auf der Leiter stehender Mann herunterreicht.
Gozzolis Werke sowie diejenigen, welche ich noch nennen werde, sind Generationen lang vor der Hochrenaissance geschaffen worden und muten uns durch die Aufgelöstheit der figürlichen Zusammenstellungen vollkommen modern an.
Wir wenden uns nun zu der Südmauer, an der die ältesten Schöpfungen noch aus dem Zeitalter des Giotto sich befinden. An der linken Seite beginnt diese Freskenreihe mit einem der großartigsten und eigentümlichsten Werke, die Menschengeist überhaupt geschaffen und gedichtet hat: »Der Triumph des Todes«. Der Maler dieses Bildes ist unbekannt. Vielen Zeitgenossen des Giotto ist es zugeschrieben, in neuerer Zeit will man sogar chinesische Spuren darin finden. Diese Unkenntnis erhöht nur den dämonischen Reiz, den dieses eigentümliche Werk auf den Beschauer ausübt. Es ist nichts ihm Ähnliches weder aus jener Zeit, noch vor ihr oder nachher an die Seite zu stellen; es ist einzig dastehend. Ein königlicher Jagdzug mit berittenen Edlen und Damen, mit Falken auf den Fäusten, von Hunden begleitet, stößt auf aufgebrochene Särge, aus denen verweste Leichname ihnen entgegenstinken. Die Wirkung auf Menschen und Tiere ist gleich schauerlich. Ein Reiter hält sich vor Ekel die Nase zu, die Damen erbleichen und drücken ihre Schoßhündchen an sich; die Pferde recken schaudernd ihre Hälse, öffnen angstvoll die Nüstern und Augen, desgleichen die Hunde. Ein Eremit, auf eine Krücke gestützt, spricht ihnen von der Vergänglichkeit aller Lust, und über diesem befinden sich noch andere Einsiedler in beschaulicher Betrachtung; ein anderer melkt eine Hirschkuh. In der Mitte hinter dem Jagdzuge ist eine Bettlergruppe zusammengedrängt, mit allen Gebrechen und Krankheiten beladen; ohne Hände, ohne Füße, mit Aussatz bedeckt, rufen sie den Tod heran; der aber fliegt unbarmherzig an ihnen vorbei, hat einen Haufen Gekrönter, Ritter und Mönche niedergemäht und fällt gerade in eine Gesellschaft von Herren und Damen ein, die sich an Musik und Gesprächen ergötzen. Nichts Schauerlicheres kann man sich denken als diese Bettlergruppe und nichts Anmutigeres als diese Gruppe von Herren und Damen, auf einer stoffbedeckten Bank sitzend, über ihren Häuptern die Kronen von Granatbäumen. Der Violinist[64] schlägt mit der rechten Fußspitze den Takt zu seiner Musik, und eine Dame bringt auf einem zitherähnlichen Instrument mit einer Nadel die Saiten in tönende Schwingungen. Die anderen hören in verschiedenen Bewegungen dieser Musik zu. In der Luft streiten Teufel und Engel um die Seelen der Verstorbenen. Die anderen Bilder in dieser Nahe verblassen gegen diese unheimliche Dichtung. Für sich betrachtet, ist das benachbarte Weltgericht ebenfalls blendend. Christus mit Gottvater von einem mandelförmigen Strahlenkranz umgeben, mit der bekannten abwehrenden Armbewegung, die auch Michelangelo auf seinem Jüngsten Gericht in der Sixtina nachgeahmt hat. Unter Christus Engel, die Seelen zur ewigen Seligkeit führen, und solche, welche die Verdammten zur Hölle stoßen, die vollständig durch einen grünlichen, nach Raupen gebildeten Höllenfürsten angefüllt ist mit tausend Augen und tausend Mäulern, mit denen er die Gerichteten verschlingt und auf natürlichem Wege wieder aus sich entleert.
Wie gesagt, es kommt nichts gegen dieses Bild »Der Triumph des Todes« auf. Betrachtet man es vom künstlerischen, Fach-Standpunkte, so wächst das Erstaunen, da das Bild nach den einfachsten, noch heute geltenden Regeln geschaffen ist. Diesem Werke ist nur ein anderes ebenbürtig an die Seite zu stellen: der Zyklus, welcher die Geschichte der heiligen Ursula schildert,[65] von Carpaccio in der Galleria di belle arti in Venedig. Carpaccio ist der größte venezianische Meister. Gegen ihn sind die Bellini kalte Akademiker und Tizian ein eleganter Virtuose, der sein Rönnen dem Geschmack der überfeinerten Nobili, welche an die Misere des Lebens nicht erinnert sein wollten, unterstellt hat.
Carpaccio, diesem frühesten Venezianer, stehen neue, dem übrigen Italien unbekannte Farbenprobleme zu Gebote. Die Tiefe und der Glanz der Farben, der Gegensatz von hell und dunkel nebst dem spezifisch Venezianischen in seinen Figuren ist sein Eigenstes, auf dem die Bellini, Tizian und Tintoretto weiterbauen konnten. Dabei hat er gleich dem unbekannten Schöpfer des »Triumphs des Todes« eine ähnliche einfache Nebeneinandersetzung der Figuren, die, wie bereits gesagt, vollständig modern anmutet.
Der Liebling des Publikums ist freilich Tizian. Seine »Assunta« wird von allen Besuchern in den Himmel gehoben, so daß diese gewissermaßen die Fortsetzung der auf dem Bilde unten aneinandergereihten Apostel bildet. Der Vergleich mit der Sixtinischen Madonna Raffaels liegt nahe. Mir selbst gefällt das Werk Raffaels besser. Bei ähnlichem Liebreiz in Antlitz und Gestalt der Gottesmutter ist Raffael strenger und herber sowohl im Aufbau wie in der Form. Zwei Bilder Tizians werden als seine letzten bezeichnet: »Die Geißelung Christi« in München und in dieser Galerie »Die Beweinung Christi«. Wie Rembrandt und Frans Hals zeigt auch Tizian in diesen letzten Arbeiten eine größere – königliche Freiheit in der Handhabung der Auffassung und der Farbe; aber die spekulative Vornehmheit und Gemessenheit, die ihn stets zum Günstling seiner reichen Runden machte, ver leugnet sich auch jetzt nicht, wie es sich für den Hofmaler Karls V. und Philipps II. und für den ähnlich veranlagten Freund des gewinnsüchtigen Pietro Aretino, des geistreichen Revolverjournalisten jener Zeit, ziemt. Für ihn ist Christus auch in seinen menschlich rührendsten Augenblicken der vornehme Fürst, der von keinen Schmerzen berührt wird, und seine Gefolgschaft ist von nicht geringerer Vornehmheit. Der »Tempelgang der kleinen Maria« von Tizian ist insofern interessant, weil das Bild für diese Flache über der Tür, wo es sich noch jetzt befindet, gemalt wurde und so eines der wenigen Beispiele ist, wie Kunstwerke für einen bestimmten Ort und Beleuchtung geschaffen worden sind. Künstlerisch steht es nicht hoch. Für meine Behauptung der Gemessenheit und Kälte des Künstlers kann die Figur der Bettlerin zeugen, die unten an der Treppe das Gleichgewicht für die linke Personengruppe bildet. Sie könnte eine maskierte Gräfin sein, und Tizian ist weit entfernt von dämonischer Schilderung menschlicher Qualen, wie sie in der Bettlergruppe des »Triumphs des Todes« so grauenhaft und seelisch wahr sich dem Beschauenden offenbaren.
Der Schüler Tizians, Tintoretto, ist leidenschaftlicher, in der Farbenwirkung von hell und dunkel krasser. Das Unglück all dieser großen Maler ist der ausgesprochene Geschmack der Venezianer als Brotgeber für Repräsentationskunst. Niemals ist eine Vertiefung in ein vom Künstler persönlich gewähltes Motiv gestattet. Ein Auftrag jagt den anderen. Die verschiedensten Heiligen werden in ihren Wundertaten – allen voran natürlich der Schutzpatron Venedigs, San Marco – geschildert, und da ein Unterschied zwischen den irdischen, gemeinen Menschen und ihrer Heiligkeit gezeigt werden muß, so schlagen sie meistens Rad in der Luft oder schweben in sonstigen traumhaft unmöglichen Stellungen in der Luft herum. Eine derartige Anpassung an den Geschmack der Auftraggeber wirkt stets verderblich. Trotz der großen persönlichen Begabung dieser Künstler verflachte sich die Innerlichkeit, welche der Kunst so nötig ist, unddie Virtuosität – zwar eine glänzende – wurde großgezogen, in welcher Paolo Veronese als der Glanzvollste zu bezeichnen ist. Zum letztenmal flackerte diese Pseudokunst in Tiepolo auf, um dann für immer zu verschwinden.
Als Gegensatz für all diese gleißnerischen Wunderwerke möchte ich das kleine Bildchen von Mantegna, den »Heiligen Georg«, erwähnen. Die Figur des Heiligen ist ganz im Harnisch eingehüllt und zeigt die ganze Strenge und den Ernst dieses Meisters, der in dem nahen Padua herrliche Fresken in der Kirche Eremitani geschaffen hat. Ein Zusammenhang zwischen diesen farbenglühenden Gemälden der verschieden sten Meister, die die einstige Pracht Venedigs ahnen lassen, und dem heutigen Stadtbilde ist immer noch vorhanden. Es sind noch dieselben Paläste in märchenhaftem Zauber längs dem Canale grande, den wir vor uns haben, wenn wir aus den Toren der Accademia di belle arti heraustreten. Der mächtige Dogenpalast winkt von rechts mit dem neuerstandenen Glockenturm. Links wird bereits der Ponte Rialto sichtbar mit seinen Kaufbuden und dem belebten Markt und den Fischhallen in seiner Nähe. Über den flachen Dächern, mit verwitterten Ziegeln bekleidet, ragen noch wie einst die Türme und Kuppeln der Kirchen empor; aber das heutige Venedig ist wie eine glänzende Muschelschale, aus welcher das Lebewesen längst erstorben und vermodert ist.
Ich habe noch Venedig gekannt, als nur die Gondeln allein den Personenverkehr betrieben und die Kanäle dadurch noch verschlossener und traumhafter erschienen. Hin und wieder badeten Rinder splitternackt in diesen fauligen Gewässern, und Taschenkrebse richteten empört ihre Scheren empor, wenn das Ruder eines Gondoliere sie aus ihrer Ruhe an den Fundamenten der halbverfallenen Bauten aufscheuchte. Jetzt durcheilen Dampfboote den Canale grande bis zu den Giardini publici und dem Lido und sind gesteckt voll mit Menschen, die an Haltestellen herausströmen und wieder von neuen einsteigenden Scharen ergänzt wer den. Wenige Eingeborene sind unter den Menschenmassen, eigentlich nur Fremde. Auf dem Markusplatz und längs der Riva degli Schiavone wimmelt es von ihnen. Es scheint eine ewige Kirmes zu sein, und der Deutsche ist in der größten Anzahl vertreten. Sie haben sich stets zu Herden zusammengetan: paarweise als Verheiratete aus dem silbernen Hochzeitsstadium oder in größerer Zahl als alternde Jungfern, die gegenseitig sich zu schützen glauben, oder als Junggesellen, die wie ein Ei dem andern gleichen. Das Kostüm ist durchgängig Gebirgsloden; bei den Männern mit Wadenstrümpfen, die ihre Unterschenkel noch kolossaler erscheinen lassen, weil der untere Teil der Hosenbeine der Bequemlichkeit wegen mit in ihnen versenkt ist. Die Frauen tragen dagegen den Rock fußfrei, was sie dadurch erreichen, daß sie ihn an Knöpfen und Sicherheitsnadeln an den ausladenden Hüften hinaufstecken, und namentlich von hinten entstehen dadurch Formen, die durch das teilweise Hervordrängen der natürlichen Rundungen des Körpers eine wahrhaft groteske Wirkung hervorbringen. »Wie kleide ich mich praktisch und elegant zugleich? Unser wetterfester Gebirgslodenrock vereint beides. Hochgeschürzt ermöglicht er unbehindertes Ausschreiten; herabgelassen sieht jede Dame sofort salonfähig aus.« So lauten die Reklamen der Geschäfte für diese Artikel. Die beschuhten Füße kommen bei dieser Tracht in ihrer ganzen Größe zur Geltung, und was für Schuhe sind da zu sehen.
Diese deutsche Frequenz an Reisenden aus dem Mittelstande hat auch in Venedig ein äquivalentes Hotelwesen herausgebildet. Man findet ein Albergo zur Lederhose, zum Hohenzollernmantel usw. Sie haben den Ruf einer gewissen Billigkeit und sind immer überfüllt.Hier werden jeden Morgen eine Unzahl Ansichtspostkarten verfaßt und mit Grüßen aus der schönen »Lagunenstadt« in die Heimat gesendet; alsdann rüstet man sich, neue Sehenswürdigkeiten aufzusuchen. Treffpunkt ist stets der Dogenpalast mit der Piazzetta, und als wenn es nicht an diesen Mengen genug wäre, sind über Nacht wieder neue Scharen hier abgeladen. Äußerlich sehen diese Fremdlinge genau so aus wie ihre anderen Landsleute, aber sie tragen eine farbige Schleife mit goldener Inschrift an der Brust, die sie als eine Stangensche Reisegesellschaft oder von ähnlichen Unternehmern geleitet kennzeichnet. All diese Horden fallen dann in die armen inneren Räume des Dogenpalastes ein. Diese mit Goldstukkaturen und Bildern an Decken und Wänden geschmückten Säle des ehemaligen Regierungsschlosses ähneln dann eher einem Bahnhofswartesaal IV. Klasse als allem anderen. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, daß einzelne Praktiker ihre Reisetaschen mit sich führen. Dann hört man Fremdenführer ihre Weisheiten an die Heute bringen, die andächtig lauschen: Wieviel hundert Köpfe in dem »Paradiso«, dem größten Bilde der Welt, ausgeführt sind; wieviel tausend Figuren darauf sind, und daß der Maler nur sieben Jahre gebraucht hat und Robusti mit dem Zunamen Tintoretto heißt. Die Dogenporträts sehen ebenso ruhig auf diesen Jahrmarktstrubel von den Wänden herunter wie ihre Originale, wenn sie etwa die Meldung einer gewonnenen Schlacht entgegennahmen.
Überall hört man deutsch sprechen, in den Cafes am Markusplatz, auf der Merceria, kurz überall, wo Menschen sind. Ich glaube behaupten zu können, daß nur die Gondolieri und die weiblichen Wesen, die in lange schwarze Umschlagtücher gehüllt, in kurzem Rock mit zierlichen Füßen graziös ihres Weges gehen, wirkliche Venezianer sind. Attilio, der Gondoliere, war ein netter Kerl, wie überhaupt der Italiener anständig und liebenswürdig ursprünglich ist und nur durch die Fremden, die er als seine Beute ansieht, zum reißenden Raubtier wird. Es ist absolut kein angenehmes Gefühl, wenn man bemerkt, wie schon von weitem ein Lazzaroni einen aufs Korn nimmt und dann herankommt, um durch alle mögliche Anstrengung seinen Tribut herauszudrücken. Ebenso sind die Gondelführer keine romantischen Edlinge in Schifferkostüm. Aber kennt man einander, so kommt man gut aus, und eine Überforderung ist ausgeschlossen. Ebenso war Attilio. Er fuhr uns nach Murano in eine der Glasbläsereien, die ihren deutschsprechenden Portier hat wie andere Unternehmungen auch. Es ist immerhin lehrreich, wie diese breiige Masse des rohen Glases zu allen möglichen Formen mit wenig Handgriffen gewandelt werden kann. Um seine Anstalt noch interessanter zu machen, erklärte der Direktor, daß sämtliche Glasbläser, die dort arbeiteten, einer Familie entstammten: der Weißbärtige wäre der Vater, die anderen Vetter und Brüder. Früher glaubte ich nicht, daß Verwandte so verschieden an Gesicht und Gestalt sein könnten.
Wenn nur die Luft und der Geruch in Venedig weniger körperhaft sich aufdrangen möchten. Aber in dieser Stimmung sind die Gondelfahrten ein widerwärtiges Vergnügen. Ebenso sind die abendlichen Serenaden auf dem Canale grande in Gedanken schöner, als wenn man ihnen in Wirklichkeit beiwohnt. Das Hauptlied – zu Ehren der Deutschen – ist auch hier Santa Lucia. Ach, wie so poetisch sind die Mondscheinnächte auf den Wassern Venedigs, die von den Wellen getragenen Spiegelungen der Gestirne und des Mondes, die bewußte Gondel mit grünem Licht und die dunkel aufragenden Paläste; ich selbst wünschte mich weit weg auf den Brenner, wo Höhenluft mich kühlen sollte. Aber in den Giardini publici ist[70] die all jährliche Kunstausstellung, die doch einiges Interesse für den Maler hat, zumal, wenn von einem selbst ein Bild dort untergebracht sein soll. Daß der Eintrittspreis zwei Lire trotz des Feiertages war, hat mir sehr imponiert. Freilich war dafür im Gegensatz zu dem übrigen Park dieser eingefriedete Teil mit den Ausstellungsgebäuden wenig besucht. In dem Hauptgebäude sind mit viel Romfort und Luxus die Bilder italienischer Maler untergebracht; ferner sind einzelne Säle zu Kollektionen hergegeben. Die persönliche Bekanntschaft einiger praktischer Künstler mit den Herren der Ausstellungsleitung scheint für Hergabe von Räumen zu ihren Kollektivausstellungen besonders maßgebend gewesen zu sein. Denn in nichts ließe sich sonst dieses immerwährende Auftauchen gewisser Rezeptmalereien, die bereits in allen Städten Deutschlands die Runde gemacht haben, rechtfertigen.
Interessant sind die Kollektionen von Renoir und Courbet. »In der Hängematte« von Courbet ist eines der schönsten Bilder, die ich gesehen habe. Monticellis Bilder mit den spannlangen Figuren auf eigelber Sauce in der Art des Diaz scheinen mir, in Massen vereinigt, zu falschem Ruhme gefördert zu sein, der wohl den Kunsthändlern zugute kommen mag. Die italienischen Maler scheinen für immer die Enterbten zu sein; in nichts offenbart sich bei ihnen das Kunstgefühl ihrer Vorfahren. Interessant war mir die Kol lektion des Franzosen Roll. Nicht wegen der schätzenswerten Arbeiten aus seiner früheren Zeit, sondern weil ich ein Kolossalbild von ihm wiedersah, »Le travail«, über dem im Jahre 1884 im Pariser Salon mein erstes Bild hing, das wegen der ungeheuren Höhe mit bloßem Auge kaum an seinem Platze zu sehen war. Aber immer noch nicht hatte ich mein »Ansorge« Porträt gefunden, das dort sein sollte, noch Bilder von Bekannten aus München und Berlin. Die Aufseher konnten nicht genügende Auskunft erteilen, und so glaubte ich, daß vielleicht in der ungarischen Abteilung, die ein Separatgebäude anschließend an die große Ausstellung innehatte, sich noch unsere Bilder vorfinden könnten; aber auch das war nicht der Fall. Zufällig trafen dann meine Augen an einem Café-Etablissement auf eine Tafel: Pavillone inglese und Pavillone bavarese nebst hinweisender Pfeilrichtung. Bei verschiedenen Kreuz- und Quergängen wiederholte sich diese Inschrift, bis man endlich auf die zwei Pavillons stieß. Wenn ich nun auch im Zweifel war, denn ich glaubte das Wort »bavarese« auf ein Bierbüfett mit Weißwurst oder ähnliches beziehen zu müssen, so stellte sich dieses Haus doch als die Ausstellung der Münchener Sezession dar. Der einzige Gast – auch später in der englischen Ausstellung – war ich allein, und die aufpassenden Diener müssen hier ein wirkliches »Dolce far niente« genießen kön nen. Besser wäre schon die Bezeichnung »Ausstellung der Münchener Sezession« gewesen, aber auch dann würde ich nicht raten, diesen weit abgelegenen Ausstellungsraum wieder zu wählen: eine Vergleichung mit den anderen ausgestellten Bildern ist absolut unmöglich, und durch die versteckte Hage ist die vollständige Kaltstellung der Münchener Kunst schon im voraus präpariert worden. Es ist mir durchaus unverständlich, wie die Geschäftsleitung einer Gesellschaft diesen Raum anbieten konnte, in welcher Stuck ein hervorragendes Mitglied ist, und der doch in der vorigen Sommerausstellung so über die Maßen hoch gefeiert worden war. So hinterließ diese moderne Ausstellung durch das Fehlen der Fremden in negativem Sinne in mir dieselbe Unbefriedigtheit wie das übrige Venedig durch die zu große Anhäufung der Menschenmassen.
Von der Haltestelle für die Dampferomnibusse erreicht man auf diesen den Lido in einigen[71] Minuten. Eine Badebudenstadt nebst einigen Hotelkasernen von allergrößtem Umfang. Längs der Trambahn sind Schnellphotographiebuden, Schießstatten, Karussells und Schaukeln gewöhnlichster Sorte aufgeschlagen. Am frühen Morgen, wo man allein ist, ist ein Bad trotz der übergroßen Hitze kühl und erfrischend; aber in den vorgeschrittenen Stunden ist jeder Fußbreit des Wassers bevölkert und der Genuß wohl äußerst zwei felhaft. Das Bad unterscheidet sich dann in nichts von ähnlichen Familienbadern in Zoppot oder auf Sylt, denn die Familien Meyers und Schutzes sind hier ebenso zahlreich vertreten. An dem Landungsplatz für Gondeln ist ein reges Leben. Die Gondolieri hissen bunt bemalte, quer am Mast hängende Segel auf oder basteln sonst an schadhaften Dollen oder den Verdecken herum. Zwischen den melancholischen venezianischen Liedern, mit welchen sich die Gondelführer bei diesen Arbeiten die Zeit verkürzen, tönen auch öfters, gleich Papageien auswendig gelernt, deutsche Ausrufe, wie: »Addio, mein Lido!« Wievielmal werden sie diesen Satz von empfindsam Abschiednehmenden gehört haben, bis er in ihrem einfachen Hirn haften geblieben war.
Für den denkmalüberdrüssigen Berliner gewahrt das Reiterdenkmal des Colleoni einen stets ungetrübten Genuß. Auf dem kleinen Platz, auf welchem das Monument steht, flankiert von der Scuola San Marco, einer Kirche und einheimischen Trattorien und vor ihm ein mäßig breiter Kanal, präsentiert es sich in wunderbarer Schönheit. Zumal, wenn man auf dem Kanal dahingleitet, kann man das mächtig ausschreitende Schlachtrotz mit seinem geharnischten Reiter auf hohem, schlankem Gockel von den günstigsten Ansichten bewundern. Wie aber die Berliner nicht durch das Denkmal des Großen Kurfürsten abgehal ten sind, ihre marmornen und bronzenen Machwerke auf allen möglichen Plätzen aufzurichten, so hat auch dieses Kunstwerk die modernen Italiener nichts gelehrt. Auf wildgewordenen Schaukelpferden thronen die komisch posierenden Gestalten des Victor Emanuel und Garibaldis in allen Städten Italiens, so hat auch Venedig seinen degenschwingenden Victor Emanuel auf der Riva degli Schiavone.
La bella Venezia ist von allen als »tote« Städte bezeichneten die am meisten dem modernen Leben entrückte. Sie ist es, weil sie durch ihre seltsame Lage auf dem Meere die am wenigsten existenzfähige ist. Heute werden durch die großartigsten Erfindungen Erde, Wasser, Luft für das Leben der Menschen dienstbar gemacht, aber um diese Eroberungen zu machen, ist das Leben der Menschen mehr als je auf die feste Erde hingewiesen. Venedig ist weiter nichts als ein ungeheures Museum, das die mächtige Vergangenheit und die trostlose Gegenwart in seinen Mauern zeigt. Geldgewinn muß dem Lande durch die Fülle der fremden Besucher in Millionen zuströmen, die Stadt wird darin vor allen anderen Städten Italiens nicht ihresgleichen haben. Infolgedessen werden keine Mühen und Rosten gescheut, um alles in möglichst gutem Zustande zu erhalten. Trotzdem bröckelt die alles Morsche aufzehrende Zeit einen Stein nach dem andern ab. Gleichwie der alte Campanile in sich selbst zusammensank, ist heute der Ponte Rialto und der Dogenpalast in Gefahr. So wird auch allmählich alles andere an die Reihe kommen. Die Pfahlroste in dem Meeresgrunde sind nicht für die Ewigkeit geschaffen. Über kurz oder lang wird das Meer, welches ehemals der gewinnbringende Sklave der stolzen Stadt war, alle diese steinernen Wunderwerke in seinem Schoße begraben, Barken werden über die Stellen dahinsegeln, wo noch heute der einzig schöne Markusplatz mit seiner byzantinischen Kirche, dem stolzen Dogenpalast und seinen Prokurazien jedermann zur Bewunderung und Anbetung zwingt, und in Liedern und Sagen wird man singen: Sie war einmal.
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