I

Kindheit

Als ich als fünfjähriger Knirps zum ersten Male in der Schule gewesen war, lief ich auf meine Eltern zu und fragte sie: »Wann ist denn mein Geburtstag? Der Lehrer will es wissen.« Meine Mutter lachte und gab mir zur Antwort: »Segg, toon Koornaust!« Ich sah sie verdutzt an und war nicht klüger als vorher.

Erst viel später reimte ich es mir zusammen, daß die Bauern und einfache Leute wichtige Ereignisse relativ miteinander bekennzeichnen.

So wurde denn mein Geburtstag stets mit einer Roggenernte verbunden oder umgekehrt. Heute mache ich mir aus jener Äußerung eine ganze Geschichte:

Am 21. Juli 1858 war alles gerüstet, am frühesten Morgen auf das Feld zu gehen. Da jedenfalls das schönste Sommerwetter war und alles Gute auf die Ernte, wie auf die Geburt, zu weisen schien, so wurden, um die Arbeit schneller zu beendigen, alle Menschenkräfte verwandt, über die man verfügte. Deshalb war wohl meine Mutter in ihrer schweren Stunde beinahe allein, und Haus und Hof war still wie ausgestorben. Als alle wieder abends in das Haus zurückkehrten, war wohl der neue Weltbürger bereits da. Gesund und wohlgeboren mußte ich sein, denn verhältnismäßig früh, den 8. August, wurde ich in der kleinen Stadtkirche zu Tapiau getauft.[11]

Ich erhielt die Namen: Franz Heinrich Louis Corinth. Mein Vater war Bürger von Tapiau und meine Mutter eine geborene Buttcher, verwitwete Opitz. Meine Paten waren außer den Geschwistern meines Vaters der Kaufmann William Bauer, welcher an der Deime eine Dampferstation nebst einem Kolonialwarenladen inne hatte.

Ich schiebe den Vorhang beiseite, und wir sehen ein kleines ostpreußisches Städtchen. Kleine Leutchen gehen geschäftig ihrem Werkeltag nach; sie glauben, daß der liebe Gott das ganze Weltall expreß für sie allein gemacht hat.

Als Kind war ich für die Menschen, welche mit mir oder ich mit ihnen zu tun hatte – wie Kinder sein mögen – der Sonnenschein des Hauses gewesen. Die Arbeiter und Tagelöhner, welche von meinen Eltern gehalten wurden, gingen ihrem Tagewerk mit ernsten und düsteren Mienen nach. Sie erhellten sich aber, wenn sie mich auf dem Hofe hantieren sahen, und wenn sie mir zuriefen: »Na Luke, wat deihst Du denn da?«

Oft stand ich im Gehöft an der hinteren Haustüre auf einem Absatz, welcher mit drei kümmerlichen, ungleichen und steinernen Stufen in den Hof führte. Darauf wimmelten schnatternde Enten und gackernde Hühner, ab und zu balanzierte eine Katze vorsichtig über das feuchte Steinpflaster. Außerdem hatte der Hof fünf nahe aneinanderliegende Lohgruben, zwei Kalkgruben und mehr nach der Mitte zu eine große Sumpfgrube. Meistens stand vor jeder Grube ein Gesell, der Leder herausfischte, mit Lederschurz und langen bis zu den Hüften reichenden Transtiefeln. Er prüfte den Werdegang zum fertigen und[12] gebrauchsfähigen Leder; denn mein Vater war Gerbermeister und gehörte zu den ›Reichen‹, was ich von meinen Spielkameraden oft genug höhnen hörte, deshalb hielt ich es damals noch für schimpflich, reich zu sein. Zuletzt war er sogar Ratsherr geworden, und als ich diesen Titel, von der Mutter, vielleicht heimlich in stiller Stunde prahlerisch ausgesprochen, gehört und ihn wiederholt hatte, erhielt ich von ihr eine solche Tracht Prügel, daß mir die Lust, diesen Titel weiter zu nennen, für immer verging.

War ich entlang den Gruben gegangen, so schwenkte ich rechts von der Sumpfgrube ab, am Kuhstall und Schafstall vorbei, und ich traf auf die allergrößte Grube, welche mit trockener Lohe bis oben herauf ganz zugeschüttet war. Hier hatte man mich hineingehoben, als sie ganz leer war und dieselbe gefüllt wurde mit je einer Schicht Lohe und einer Schicht Leder. Daran reihte sich ein baufälliger, grün bemooster Bretterzaun, mit einem großen viereckigen Holzstoß aufgeschichtet, der zum Heizen für den Winter dienen sollte.

Die zweite Hälfte des Hofes war für die Landwirtschaft reserviert; mein Vater führte nämlich neben der Gerberei, wie dies oft in den kleinen Städten der Fall ist, einen grösseren Ackerbetrieb. Deshalb standen hier eingeengt Wagen bei Wagen; zur Zeit der Ernte war kaum Platz für die vielen langen Erntewagen, oder wie sie dort genannt wurden: ›Austwagen‹. Das Haus, welches den Hof flankierte, enthielt den Pferdestall und Kuhstall und dazu in einer Ecke einen großen Misthaufen.

Durch den vorher erwähnten Bretterzaun führte das schief[13] in den Angeln hängende Tor zu dem hochgelegenen Ufer des Flusses, welcher hier zum Kurischen Haff vorbeitrieb. Auf ihm verkehrten viele Reisekähne, auf denen die Kahnschiffer, mit langen Stangen längs dem Ufer entlang schiebend, mit Schimpfen und Schreien ihre Kameraden anfeuerten. Dieses Ufer war grün von spärlichem Unkraut: Löwenzahn und graues Bilsenkraut mit ekelhaft duftenden violetten Blüten wuchs dort. Das Ufer der anderen Seite erschien grüner und wir konnten leicht mit einem Stein hinüberwerfen. Auch lag an abschüssiger Stelle des Ufers ein Floß, auf dem meistens ein Gerbergeselle fleißig die Felle von der beizenden Lohe oder vom Kalk durch Hin- und Herschwenken im Wasser sauber schälte. Im Winter haute er eine Wuhne in das dicke Eis und steckte zur Warnung für offenes Wasser eine Stange mit einem Strohwisch hinein.

Oft beobachtete ich von dem früher geschilderten Treppenabsatz das ›Leben der Natur‹, wie es ungeschminkt von den Tieren in dem Hofe gepflegt wurde. Lachen erschallte aus der Küche, die ganz nahe an dem Treppenabsatz war, wenn ich um Hilfe rief, sobald der Hahn ein Huhn trat.

Manchmal tobte ich auf dem Hofe herum und fing Sperlinge. Die Salzbüchse in der Hand, versuchte ich mit aller Geschicklichkeit und aller Mühe, Salz ›auf den Zagel‹ der Sperlinge zu streuen.

Der Hof war meine kleine Welt. Mit den arbeitenden Gesellen unterhielt ich mich. Ich war immer an der Sumpfgrube zu finden, wenn ein Tagelöhner von den rohen Fellen die Schwänze, Klauen und Hörner herausschnitt, als[14] erstes Stadium für den Werdegang zum fertigen Leder. Oft schnitt der Arbeiter Stücke rohen Fleisches heraus und warf es den gierig wartenden Katzen zu. Dabei entstanden wohl zwischen dem Steinpflaster blutige Pfützen, aus denen die Hühner dann begierig tranken. In der Nähe war hier das Gebäude, in welchem der Pferde- und Kuhstall war. Im Pferdestall stampften unruhig vier Füchse und zwei Braune hin und her. Die Pferde kannten mich wohl und behandelten mich ohne den geringsten Respekt ebenso wie mein Lieblingsknecht, welcher alle Tiere mit Namen nannte. Ich war nicht wenig verwundert, als mein Lieblingsknecht mit meinem Vater einen bösartigen Streit hatte, und als sein gutmütiges Gesicht sich in ein böses widersetzliches Mienenspiel verwandelte. Er sollte betrunken gewesen sein und in diesem Zustande verstand eigentlich meine Mutter den Männern am besten den Kopf zurechtzusetzen.

Meine erste positive Erinnerung fand mich am frühen Morgen auf dem Rücken eines nervösen und beweglichen Pferdes. Mit beiden Kinderhänden hatte ich mich ohne Furcht in der gelben Mähne festgeklammert, auch hielt mich wohl einer meiner Halbbrüder desto sicherer oben fest. Dieses Tier war mit mir gleichalterig und war ein dreijähriger Hengst. Mein Vater hatte ihn eben neu auf dem Insterburger Pferdemarkt gekauft, und jetzt sollte er sich erst in seiner neuen Umgebung eingewöhnen. Von da ab hielt mich der Stall in seinem Bann. Sechs Füchse standen da und mit ihnen wurde ich bald intim bekannt. Alle Augenblicke bat ich, daß man mich aufsetzte. Den Weg vom[15] Wagen nach dem Stall legte ich reitend zurück. Einstmals als das Tier unter mir gescheucht wurde, setzte es mich unsanft auf die Erde. Den nächsten Morgen sah ich mich, wie mein Vater meinen Kopf sorgsam an seine Brust gelegt in wiegendem Schritt auf und ab ging. Der Gefahren waren viele, die mich bedrohten.

Eine nächste Erinnerung taucht in mir auf, wie ich zwischen den Lohgruben mit einem Stöckchen spazieren ging. Ich maß nun eifrig die Tiefe der Gruben und neigte mich solange herab, bis ich – plumps – in eine hineinfiel. Ich zappelte aus Leibeskräften in dem braunen Wasser herum und schrie: »Au Otte, Au Otte!!« Ein Spielkamerad hockte an der Hintertür und sah meinem Treiben gespannt zu. Endlich lief er doch mit der Nachricht zur Küche. Nun stürzten die Mägde und alles, was kochte und kochen half, schnell herbei und zogen mich, vielleicht noch im letzten Augenblick, heraus. Ich lag im Bett und wurde durch einen heißen Tropfen aufgeweckt, der auf meinen nackten Körper fiel. Meine Mutter erzählte dem Vater, welcher wohl vom Felde gekommen war, von dem Unglück; ich sah meinen ausgestreckten Körper entlang, einige Stücke Borke waren noch kleben geblieben. Die Eltern liebkosten mich, und meine Mutter deckte mich stolz ganz auf und sagte: »Seh moal de lange Beene« und deckte mich vorsichtig darauf wieder zu, damit ich, weiter schlafend, mich von meinem Schreck erholen konnte.

Als ich dann mit der Zeit meine Nase höher hob und ich infolgedessen einen weiteren Horizont bekam, wußte ich nun auch, daß der Fluß, welcher bei uns vorbeiströmte,[16] und von Dampfern und Kähnen belebt war, die ›Deime‹ hieß. Auf dem Ufer drüben nach links hin waren unsere Wiesen, wohin ich meinem Vater bei der Heuernte das Vesperbrot nachbringen durfte. Geradeüber an dem grüneren Ufer stand ein langes weiß getünchtes Gebäude im Empirestil mit spitzem roten Dach.

Schwarze, weiße und braune Gestalten gingen hier aus und ein, wie in einem Bienenkorb. ›Ostpreußische Besserungsanstalt‹ stand über dem Hoftor in goldenen Buchstaben. Aus einem ehemaligen Ordensschloß war dieses Institut, im Volksmunde ›Stidut‹, zurechtgebaut worden. Im Zusammenfluß von Deime und Pregel auf mooriger Erde ehemals errichtet und die kurze Strecke zwischen beiden Flüssen noch künstlich durch einen Graben verbunden. So stand das Gebäude ganz von Wasser umgeben. Dieser künstliche Graben spielte für mich eine sehr ernste Rolle, denn ich sollte hier unsere Enten hüten und sollte sie abhalten, daß sie nicht von dem Graben aus in die Gemüsegärten des Instituts hineinstrolchten und die ganzen Anlagen zerstörten. Hier sah ich auch den ersten Landschaftsmaler, welcher an einer Ecke der Anstalt, wo große Pappeln wuchsen, eine Studie malte. Es war der Maler Knorr, der Sohn des alten Kassenrendanten von dem Institut. Er ist bis heute nicht vollständig unbekannt geblieben. Dieses Institut hatte mit unserem Hause eine fortwährende Beziehung. Dadurch, daß es uns gerade gegenüber lag, wohnte in einer kleinen Dachwohnung in unserem Hause eine alte Aufseherin der Anstalt, denn weibliche Personen sollten dort auch gebessert werden. Die Aufseherin hatte eine[17] Tochter Emilie, welche nur ein Auge hatte. Sie war die Freundin meiner Halbschwester Rike. Ich war ihr ebenfalls sehr zugetan und manche Zeit verbrachte ich oben in dem Dachstübchen, das mit uralten Möbeln und Nippsachen aus Porzellan angefüllt war. Die Kommoden hatten Löwenfüße und goldene verzierte Ringe zum Ausziehen der Schubläden. Sie zeigte mir auch ein wunderschönes Bild, welches immer vorsichtig aufgerollt war. Es stellte den König Friedrich Wilhelm III. dar, wie er auf einem herrlichen Pferde ritt. Ich konnte mich nicht genug daran satt sehen. Namentlich das Pferd mit den vortretenden Adern an den sehnigen Beinen. Sie erzählte mir dann auch von dem Reiterdenkmal desselben Königs in Königsberg und machte mich ganz sehnsüchtig darnach. Von ihr wurde mir die Kunstliebe in mein Kinderherz eingeimpft. Dann erzählte sie Sagen von dem alten Institut, das stets in meinem Gedächtnis ein unheimliches Gespenst blieb und durch die vielen Gefangenen auch stets eine geheimnisvolle Verbindung mit unserem Hause unterhielt.

Nicht allein brachten die braungekleideten Waisen kinder das Brennholz für die Aufseherin, sondern manches Mal verirrte sich ein armer entfliehender Gefangener auf unseren Hof und hielt von hier aus Umschau, ob die da drüben seine Flucht gemerkt hätten. Ganz unbemerkt blieb er von uns freilich nicht, denn es waren stets Arbeiter auf dem Hofe; doch kniff man wohl gern die Augen zu und ließ ihn laufen.

Anders wurde es freilich, wenn ein fremder Strolch sich an Hab und Gut eines Bürgers vergriff, dann lief wohl der Ruf durch die Gassen: »En Deew! – En Deew! und der[18] Nagelschmied Schöntaub packte ihn und soll ihn zuguterletzt mit seiner Kneifzange ordentlich gezwickt haben!«

Kehren wir nun zu meinem Hof zurück. Wir sind noch lange nicht mit seiner Beschreibung zu Ende, denn wir haben zuerst den einen Hauptbestandteil erwähnt: den Pferdestall, aber nicht den zweiten Hauptteil, das ist der Speicher.

Dieser war ein rotes Gebäude und schloß den Hof quer ab. Rotes Fachwerk fiel in die Augen, und durch die ebenfalls roten Luken konnte man die Felle stückweise sehen, wie sie an Stangen zum Trocknen gehängt waren. An den Ecken hatte man die Felle durch dünne Hölzer gespreizt, damit sie desto gleichmäßiger auftrocknen konnten.

Der Speicher hatte auch ein großes Tor. Von hier ging ein Schauer hinein, wo die Schwalben ihre Ne ster angebaut hatten. Ging man durch dieses Schauer durch, so kam man in den Garten.

In diesem Garten waren aber weder Ziersträuche noch Zierbäume darin, sondern meine Mutter hatte aus ihm einen Gemüsegarten gemacht. So rationell wirtschaftete sie in allem, daß nichts umkommen durfte; sie hielt sich nicht einmal einen Hofhund, bemerkend, daß man dafür lieber ein Schwein fett füttern könnte. Da wuchsen, an dünnen langen Stangen gerankt, rotblühende Schabbelbohnen, ferner Kopfsalat, Zwiebeln, Petersilie etc. In einem verlassenen Winkel wuchsen bescheiden, auf eigene Veranlassung, gelbe und violette Schwertlilien. In einer Ecke war eine alte Kalkgrube, auf dem schmutzigen Wasser schwamm eine tote Kröte. Aber den größten Raum in diesem Garten nahm ein großer, fast haushoher Lohhaufen[19] ein, von gebrauchter Lohe allmählich zusammengekarrt. Dieser Lohhaufen verleiht jeder Gerberei ihren eigentümlichen, säuerlichen, charakteristischen Geruch. Zum Herbst wurde dieser Haufen zu Lohkuchen [eine Art Torf] verwertet. Es war eine heitere Art, dieses Heizmaterial zu verfertigen.

Die jüngeren Mägde standen hochgeschürzt mit nackten Waden und Füßen auf einem erhöhten, mit Brettern belegten Gerüst. Unten zu ihren Füßen lag ein viereckiger Rahmen. In diese Form schüttete ein Knecht die nasse Lohe mit dem Spaten und die Mägde traten dann mit ihren Füßen, hüpfend den Kuchen zurecht. Es war nicht anders, als die Kelter zu Vater Noah's Zeiten. Mancher derbe Witz wurde auf Rechnung der Waden gemacht, die durch das Springen zum Vorschein kamen. Dann gab es noch eine Art, aus den Überbleibseln des Leders Gewinn zu ziehen, nämlich das Leimkochen. Aus den Füßen, welche an den rohen Kalbs- und Schaffellen geblieben waren, auch aus Schwänzen und Ohren wurde ein Brei zerkocht, der dann zu gallertartigen Massen erkaltete. Diese in einem Gefäße erkaltete Masse wurde in großen Würfeln herausgehoben; durch ein Pferdehaar zerschnitt man den Würfel in dünne Scheiben, legte sie auf Rahmen mit Netzen und trocknete dann die flachen Leimstücke an der gleichmäßigen Wärme des Sonnenschattens. So gab es fast nichts, das nicht von einem tüchtigen Geschäftsmann, was auch mein Vater war, zu irgendeinem Wert ausgenutzt werden konnte.

Kehren wir aber nun wieder aus dem Garten in den Speicher zurück. Eine Treppe hoch waren die Arbeitsräume[20] der Gesellen. Hier, über große Tische die Leder gespreizt, krischpelten sie alle Sorten Leder weich und geschmeidig. Mit einem mondartigen Falzeisen wurden von dem Leder die ungleichen Stellen abgeschabt. Kein Laut wurde vernehmbar, nie hörte man Lachen oder Pfeifen. Aber von unten aus dem Erdgeschoß tönte ein stampfartiges knatterndes Geräusch herauf. Das war die Lohmühle. Diese nahm den ganzen unteren Raum auf der linken Seite des Schauers ein. Man mußte sich zuerst an die tiefe Dunkelheit des Raumes gewöhnen, denn die paar Fensterlöcher waren mit geborstenen Läden vernagelt, so daß durch die Spalten dieser Läden blaue Sonnenstrahlen auf die Striche der auf- und niederschwebenden Staubkörperchen heraufschienen.

Mitten in diesem Helldunkel stand ein großes, mächtiges, horizontal gelegenes Zahnrad, in der oberen Peripherie mit dicken Holzstacheln versehen, welche in die Löcher eines anderen Vertikalrades einpaßten, die dann mittels einfachster Konstruktion vier schwere eichene Balken, an den unteren Enden mit schweren eisernen Messern versehen, in Bewegung setzten. Während nun der Gaul im Kreise das große horizontal gelegene Triebrad drehte, griffen die einzelnen Teile ineinander, hoben abwechselnd die vier Stampfbalken und ließen sie dann von oben auf die zusammengeschichtete, in einem Trog gesammelte Rinde hineinschmettern, bis allmählich die Rinde zu ganz kleinen Stücken, beinahe pulverisiert, zerstampft wurde. Alsdann durfte der Gaul eine Pause machen, was er nickend und die krummen Beine ruhend gerne tat. Die Lohe wurde aus[21] dem Troge herausgeschaufelt und wieder neue Borke zerschlagen aufeinander gehäuft. Dann ging es von Neuem los im alten Takt, im Kreise herum. Der Gaul für das Drehen dieser Mühle war immer der älteste und phlegmatischste. Schon seit langem hatte dieses Privilegium ›Der Jud‹. Ein Knecht hatte ihn so benannt, weil er vor undenklichen Zeiten von einem polnischen Juden an meinen Vater verschachert wurde. Die Augen durch eine lederne Maske verbunden, trottete er das ewige Einerlei des im Kreiseherumgehens. Wenn er einschlief, bekam er eine Rinde an den Kopf geworfen und durch ein lautes »Hü Jud« wurde er wieder zu schnellerer Gangart angefeuert. So wechselte der Takt des Stampfens, je nachdem der Gaul sein Tempo beschleunigte oder nachließ.

Man konnte das Geräusch mit dem Klopfen des Herzens vergleichen, welches anzeigte, in welchem Grade der Arbeitskörper im Gange gehalten wurde.

Zur Zeit des Mittagessens wurde im Speicher und Hof die Arbeit niedergelegt und Stille herrschte rings umher. Manchmal sollte ich die Gesellen zum Mittag zusammenrufen. Als ich aber einen Vers instinktmäßig hersang, wie ihn wohl aus Schadenfreude die Knechte mich gelehrt hatten, nach dem Rhythmus des Klapperns der Mittagsglocken auf den Gutshöfen:


»Koamt eete – koamt eete, ju fule Beeskreete!«


da bekam ich wieder eins von meiner Mutter mit dem Sielenstrang derb über den Buckel übergerissen als handgreifliche Lehre, daß mein Tun nicht für richtig gehalten[22] wurde. Durch Prügel wurde ich deutlich und klar belehrt, was ich zu tun und was ich zu unterlassen hatte.

Diese Unterrichtsart, das Prügeln, wurde nur von der Mutter, als der höchsten Instanz im Innern des Hauses, an mir ausgeübt. Deshalb kam es vielleicht, daß ich meinen Vater, welcher sich um solche häuslichen Angelegenheiten nicht kümmerte, nach Kinderart viel lieber hatte als die Mutter. Heute kann ich verstehen, daß dieses furchtsame Gefühl vor Schlägen meine Mutter sehr geschmerzt haben wird. Uns allen war eine große Sehnsucht nach Liebe im Innersten der Seele eingeprägt. Diese Liebe aber durfte nie geäußert werden. Eher wurde sie versteckt, aus Scheu, zu viel Weichheit gerade gegen die zu üben, welche man lieb hat. Meine Mutter konnte ihren Charakter nicht verleugnen, welcher für Arbeit und für Herrschaft im Hause war, deshalb verlangte sie unbedingten Gehorsam von jedermann.

Eine Erinnerung taucht in mir auf: Wie ich eines Tages meiner Mutter in die Speisekammer nachschlich in der Hoffnung, etwas Gutes zum Essen zu ergattern, hing zufällig am Türpfosten ein steifer, ver schimmelter Sielenstrang. Meine Mutter nahm ihn vom Nagel und hielt ihn in der Hand: »Da hau ek die Lue, wenn Du onartig best«. Nur zu bald sollte ich seine Bekanntschaft machen und erfahren, wie ernst es ihr damit war, dann verschwand er bis auf weiteres auf dem Himmelbett.

Aber wenn es auch bei uns streng zuging, so fand doch eine gut angebrachte Tat ein wohlgeneigtes Gehör bei der Mutter, da sie auch nicht ohne Humor war. Den verhaßten[23] Sielenstrang nahm ich einstmals listig vom Himmelbett hinweg und schlich mich vom Hofe zur Deime und warf ihn dort weit weg in den Fluß, so daß er lustig stromabwärts schwamm. Mit keiner Silbe erwähnte sie mir gegenüber dieses Raubes, vielmehr werden sich alle eins gelacht haben und stolz gewesen sein über meinen Streich, den ich so schlau ausgeführt hatte. Meine Mutter hatte das absolute Kommando in der inneren Wirtschaft des Hauses. Mein Vater hatte genug zu tun, über die Landwirtschaft zu wachen und die Dispositionen über die Gerberei zu treffen. Es war eine Musterwirtschaft und dazu gehörte es, daß beide, Mann und Frau, ihr Teil Arbeit in festen Händen hatten. So wurde denn oft meine Mutter herausgerufen zum Schlichten eines Streites, der sich zwischen einer Tagelöhnersfrau und ihrem betrunkenen Ehemann entsponnen hatte. Ihrem Ausspruch wagte da niemand entgegenzutreten.

Zum einfachen Almosengeben wurde ich von ihr stets angehalten ohne jegliche Sentimentalität. Den ganzen Vormittag kamen alte Männlein und Weiblein angehumpelt, hustend und bettelnd. Meine Mutter spann fortwährend an ihrem Wocken. Jedem mußte ich dann einen Pfennig und ein Stück Brot aus dem Mauerschrank geben. Jeder trollte sich dann weiter mit dem Dankeswort: »Help de leewe Gotke«.

Wenn meine Mutter spann, stand ich am Fenster und schnitt aus Papier Pferde und Menschen aus. Vorgezogen wurde von mir steifes Papier – ich nannte es ›fett‹. Zufrieden war ich schon, wenn mein Vater von seinen Reisen[24] nichts als ›fettes‹ Papier mitbrachte. Dann wurde sofort probiert, ein Pferd auszuschneiden und bald hatte ich einen Marstall zusammen. Die Fleischer und Bauern, welche bei uns ihre Geschäfte machten, bewunderten meine Kunst sehr und stets war auf ihre Frage, was ich wohl werden sollte, die Antwort meiner Mutter: »Tepper! dann kann he Bloome op de Schiewe moale«.

Meine Kunst bekam aber eines schönen Tages einen merkwürdigen, namentlich für das weibliche Geschlecht fast verletzenden Anstrich. Ich hatte nämlich in dem Pferdestall meinen Freund, den neu gekauften Hengst allzugenau angesehen und studiert. Das Pferd spielte noch eine andere Rolle und wurde zu diesem Zwecke manchesmal im Stall zurückbehal ten. Mein Ohm kam aus Moterau auf einer Stute, denn diese Unterschiede kannte ich ganz genau, angeritten. Alsdann wurden die Tore des Hofes fest zugesperrt. Das Übrige wurde mir aber auf das Strengste vorenthalten. Meine Halbschwester, die Rike, schleppte mich manchesmal fast mit roher Gewalt in das Haus und verhinderte mich hier auf das Energischste wieder hinauszuflüchten. Ich hörte dann den Hengst wiehernde Laute heraustrompeten, und es war mir so rätselhaft, daß ich das Schauspiel auf alle Fälle sehen mußte. Deshalb war ich so schlau, in einem ähnlichen Fall, als wieder mein Ohm angeritten kam, daß ich mich auf dem Hofe hinter dem Holzhaufen versteckte und mich sachte heranschlich, als der Hengst aus dem Stalle geführt wurde. Was ich nun zu sehen bekam, konnte ich mir erst recht nicht deuten. Nun eilte ich, nachdem die Szene beendet war und das Pferd[25] wieder in den Stall zurückgeführt wurde und die Stute an einen Wagen gebunden, in das Haus und konnte nicht schnell genug dasselbe Schauspiel mit allem, was ich gesehen hatte, mit meinen papierenen Pferden vor sich gehen lassen. Den Hengst mußte ich doch nun verändern und einzelne Gegenstände hinzufügen, welche ich vorher noch nicht genügend beobachtet hatte. Die Männer grifflachten und machten zotige Bemerkungen, welche der jungen Weiblichkeit, meiner Schwester und ihrer Freundin, der einäugigen Emilie das Blut in die Wangen trieb und sie am liebsten Reißaus genommen hätten. Vergebens wollten sie mich später überreden, die Kennzeichen des Hengstes wegzuschneiden, aber da kamen sie an den Unrechten. Was ich mit meinen Augen gesehen hatte, war nicht abzustreiten: der Hengst und der Bull, welch letzteren ich immer noch nicht zu meiner Zufriedenheit herausbekam, hatten eine ›Wurzel‹, wie mir die Knechte und mein Freund, der Zimmermann Bekmann, diese Unterscheidung vor den anderen Tieren genannt hatten und diese wollte ich absolut nicht missen.

Mein Freund, der Zimmermann Bekmann, welcher mir immer so schöne Zeichnungen machte, die ich so sehr bewunderte, wurde doch sehr energisch von mir anbefohlen, diese Merkzeichen der Männlichkeit nicht zu vergessen. Das passierte ihm namentlich dann, wenn meine Mutter unseren Zeichenübungen persönlich beiwohnte.

So war mein Leben in den schönen Tag hinein. Bald aber sollte der ›Ernst des Lebens‹ herantreten, als ich in die Schule mußte. Lesen und Schreiben lernte ich spielend –[26] aber das Rechnen wollte nicht in meinen Kopf hinein. Wenn ich mit den beiden ersten Teilen für ein Wunderkind ästimiert wurde, so verdarb der zweite Teil meine Schätzung vollständig, und ich mußte recht niedrig als Schüler eingeschätzt werden. Dennoch verleitete meine leichte Auffassung im Lesen und Schreiben meinen Vater zu der falschen Einbildung, ich hätte Kopp und sollte ein Studierter werden.

Oft sagte er und mit ihm die anderen Handwerker, Kopfarbeit sei das Schwerste, mache sich aber am besten bezahlt. So wurde ich mit allerlei wertlosen Kenntnissen vollgepfropft, und ich konnte nie genug lernen. Deshalb wurden auch sogar noch die wenigen freien Stunden genommen, und mein Vater ließ mir durch den Lehrer Böhm für einen Thaler im Monat Nachhilfestunden geben. Jeden Tag, selbst mittags von 12–1 und abends von 5–7, hätte ich nach dem Willen meines Vaters mich bei dem Lehrer einfinden sollen. Aber vielleicht war es so besser, wenn ich durch die anderen Jungens, mit denen ich spielte, überredet wurde, mich davon zu drücken. Der Lehrer lobte mich und stellte mich als Vorbild hin, so lange nicht gerechnet wurde. Aber dann wurde es umgekehrt, wenn das Rechnen aufs Tapet kam. Keine Zahlen gingen in meinen Schädel hinein, und schließlich lief immer der Lehrer Böhm händeringend in das Nebenzimmer und versuchte es dann an den Haaren und mit Prügeln, die Rechenaufgaben in mich hineinzukeilen. So war immer der Verlauf meiner ›Privatstunden‹. Am späten Abend war ich dann erlöst und durfte nach Hause gehen. Wenn es Winter war,[27] steckte man mir eine kleine Laterne an, gab mir die Richtung in die stockfinstere Dunkelheit und mit Hilfe dieser Lichtquelle fand ich mich einigermaßen zurecht und ich war froh, wenn ich unser Haus erreicht hatte. Meine Eltern saßen friedlich am Ofen um eine neumodsche Petroleumlampe auf dem Tisch, welche die Wohnung verhältnismäßig hell erleuchtete. Die Mutter spann, der Vater las aus der Gerberzeitung oder erzählte eine gruselige Geschichte, daß ein Gefangener aus dem Insterburger Zuchthaus ausgebrochen sei und in unserer Gegend herumstrolchen sollte. Dabei ahnte niemand, welchen Kampf ich mit Lehrer und Zahlen bestanden hatte. Aus dem Nebenzimmer tönte Messergeklapper und Stuhlrücken und man hörte auch Teller auf den Tisch setzen. Bald kamen die Gesellen zum Essen herein, mein Vater legte die Zeitung fort, um seinen Platz am Abendtisch einzunehmen. Man saß meistens schweigsam und arbeitete mit den Kiefern. Nur wenn der Meister das Wort an jemand richtete, wurde es beantwortet. Ich selbst betrachtete oft den alten rotbärtigen Zauleck, wenn er ein Stück Hering mit einem Löffel grauer Erbsen im Munde nachschob: immer dieselbe Backe wurde rund und dick. Wenn er es heruntergeschluckt hatte, glätteten sich die Backen, um bald wieder anzufangen. Neben diesem alten Gesell, der eine Art Faktotum des Hauses war, saß ein magerer und andächtig aussehender Mann, welchen wir ›Der fromme Gesell‹ nannten. Dieser ›Fromme‹ war eine Gattung, welche des öfteren im Norden gefunden wird. Er hatte den Zauleck vom Schnapstrinken bekehrt. Dieses Wunder hatte er vollführt. Niemals sah man diesen[28] jetzt betrunken, wenigstens nicht unter Leuten, und sorgfältig mied er den ›Krug‹.

Meistens hatte der ›Fromme‹ ihn bei den Rockschößen, Sonntag vormittag und nachmittag wanderten beide, ein Gesangbuch unter dem Arm, zur Kirche. Die Geistlichkeit war zu jener Zeit, als der ›Fromme‹ bei uns angestellt war, öfters bei uns zu finden, als früher, wo sie nur von Amts wegen erschien. Aber jetzt ging der Herr Superintendent in den Arbeitsräumen aus und ein. Der Herr im Zylinder und weißer Binde nahm sich recht merkwürdig aus unter unseren Gesellen mit dicken Lederschürzen, aufgekrempelten Hemdsärmeln und langen wasserdichten Kürassierstiefeln. So sah ich den Pfarrer, wie er salbungsvoll mit unserm ›Frommen‹ sprach, worauf dieser ihm demütig die Hand küßte. Der Zauleck aber konnte sich zum Handkuß niemals bewegen, und unwirsch und schüchtern beugte er sich vor seinem Gestell weit herunter, schnitt mit seinem langen Schabeisen ein Stückchen Fell ab und fing mit allem Eifer an, als wenn ihn der Besuch nichts anginge, das ganze Fell abzuschaben, als wenn seine Seligkeit an dieser Arbeit hing. Meine Stiefbrüder hatten anfangs an dem neuen Arbeiter die Frömmigkeit entdeckt, denn sie schliefen in einem Räume zusammen und hatten ihn beobachtet, wie er vor seinem Bett das Abendgebet knieend verrichtete.

Seit dieser Zeit wurde er ›Der Fromme‹ geheißen, und wenn er auch anfangs als komische Figur wirkte, wurde er später doch von jedermann – selbst von mir – sehr ernsthaft genommen und sehr respektiert. Wie gesagt, es kam in Ostpreußen[29] und Skandinavien oft vor, daß aus einem Saulus ein Paulus wurde.

In den einzelnen Bürgerkreisen meiner Geburtsstadt hört man oft genug aus den Häusern Kirchengesänge und Predigten herausschauen. Auch später bei meinen Studienreisen auf der Kurischen Nehrung war ein Wanderprediger eine Figur, die respektvoll von jedermann angesehen wurde. Etwa so, wie ein Bettelmönch in den katholischen Ländern. Sogar meine Mutter fing an, sich mit diesen heiligen Dingen zu beschäftigen. Sie hatte sonst nur die Frömmigkeit gepflegt, die man sozusagen für das Haus brauchte. Da niemand sich ihr widersetzte, versammelte sie meinen Vater, ihre Kinder aus erster Ehe und mich um den Abendtisch am Ofen, stellte ihren Spinnwocken beiseite und befahl ein Kirchenlied zu singen, während ich als der Jüngste und vor Gott Unschuldigste ein Stück aus der Bibel vorlesen mußte. Diese ganze frömmelnde Handlung aber schien nicht ihren Beifall gefunden zu haben, denn niemals hat sich dieser Auftritt in unserem Hause wiederholt. Dagegen wurde von bestimmten Familien diese Frömmelei mit Stärke betrieben, wie bei Korbflechters Bark, und hierher ging auch jeden Abend unser ›Fromme‹. Sonst herrschte eigentlich überall eine natürliche, gesunde Frömmigkeit, d.h. Respekt vor der Kirche, welche aber nicht die Kirchenbesucher abschreckte, Kritik zu üben, namentlich über die komödienhaften Gesten des Superintendenten. Dieser liebte es, die wichtigen Bibelstellen mit hohlem Pathos zu unterstreichen. Mich selbst hatte man einmal in die Kirche mitgenommen, und seitdem schwärmte ich[30] von den großen Bildern, die auf das Tonnengewölbe heraufgetüncht waren. Zu hohen Feiertagen kamen unsere nächsten Verwandten, der Ohm und die Tante aus Moterau, regelmäßig zum Besuch und zum Kirchgang. Es war für mich immer ein spaßhafter Vormittag: alle Welt machte sich zum Kirchgang schön. Mein Vater stand vor dem Spiegel, das Gesicht eingeseift, und rasierte sich. Dieses zu beobachten, machte mir einen Heidenspaß. Bald zog er die Lippe lang und wandte sich dem Lichte zu, indem er die Stoppeln abkratzte, bald rundete er die eine Backe, daß das Messer darüber gleichmäßiger hinglitt. Der Ohm hatte das nicht nötig, denn er trug einen Vollbart. Zu dieser Zeit nahmen sie auch die Gelegenheit wahr, sich gegenseitig die Haare zu schneiden. Die semmelblonden Haare lagen nach dem mühseligen Geschäft über dem Fußboden, als wenn viele Simsons ihre Locken hatten lassen müssen. Nach der Kirche wurde dann ein besseres Essen aufgetragen mit einer Zinnkanne Braunbier, wobei die Predigt scharf durchgehechelt wurde und fast kein gutes Haar an dem Pfarrer blieb. Gegen Abend nahm man voneinander mit Kuß und Handschlag Abschied. Der Besuch stieg in den Wagen, und lange sah man ihm noch nach, bis das Fuhrwerk hinter dem Blumengarten und hinter Klafts Berg verschwunden war.

Mit der neuen Woche drückte ich die verhaßte Schulbank. Die Ersten jeder Bank überhörten Biblische Geschichte, und der Klassenerste paßte auf, daß es still war, und schrieb die größten Schreier auf die schwarze Klassentafel. In der niedrigsten V. Klasse waren mit mir, der ich kaum sechs[31] Jahre zählte, Jungens, die bereits zum Unterricht gingen und kurz vor der Konfirmation standen. Sie wußten nicht mehr vom Lesen oder Schreiben wie ich, und waren außer der Schulzeit auf dem Dorfe oder Gut Kleinknechte und halfen den Erwachsenen mit Handreichungen aller Art. Manchmal zeigte einer, an seinem Vordermann krieche eine Laus über den Rücken. Der Unterricht nahm seinen ruhigen Verlauf. Andere Lehrer hielten dann mehr auf Sauberkeit, manches Mal in der letzten Stunde am Sonnabend mußten wir alle unsere Schnupftücher vorzeigen. Ich hatte das meinige vergessen und zur Strafe bekam ich anstatt des besseren Zeugnisses auf grünem Karton eines auf gelbem, was weniger bewertet wurde. Die Aufschrift war bei beiden dieselbe: ›Zeugnis des Fleißes und Wohlverhaltens‹. Strafen, wie Überziehen und Schlagen mit dem Kantschu vor allen Mitschülern wurde als eine mehr ehrlose Bestrafung angesehen. So hatten zwei Jungens aus einem Kupfergroschen ein Silberstück gefälscht und das mußten sie mit dieser Prügel büßen. Der Klassenlehrer Böhm war zu diesem Akt eigens angestellt. Ich sehe heute noch, wie er die lange Lederknute auf die Sitzteile der beiden Delinquenten schwang.

Einst hatte sich ein kleiner Junge aus Königsberg in unsere Schule verirrt. Er sollte gebessert werden, denn sein Verwandter war an unserer Schule Rektor und verrufen als ein sehr strenger Mann. Das Kind hatte einen verprügelten Ausdruck und was wir in seinem Gesicht für finster und gehässig ansahen, war wohl nur seine namenlose Angst, in die Hände dieses grausamen Menschen gekommen zu[32] sein. Wir ließen uns von ihm nicht bange machen, denn nach Kinderart rückten wir feindlich gegen ihn und wollten unsere Kraft mit der des Stadtjungen messen. Das war ihm noch das aller angenehmste, denn er verhaute uns in solchem Handgemenge ordentlich. Wir sammelten uns auf einen Haufen und schrien ihm aus gesicherter Entfernung nach: »Königsberger Boowke«! Aber dann war gleich der Rektor da und zog ihn an einem Ohr zur dritten Klasse hin, wir folgten ihm ängstlich. Der Rektor schloß seinen Schrank auf und entnahm ihm eine niedliche kleine Lederpeitsche, die am Ende mit Blei verknotet war. Darauf legte der Junge sich, wie dressiert, über die Bank und wenn der Mensch bis dahin alles mit einer gewissen langsamen Gemessenheit, die ihm den Genuß steigern sollte, die Peitsche zur Probe schwang und auf die Stelle des Körpers fallen ließ, wohin sie treffen sollte, so ließ er nun seine Wut an ihm aus, die Hiebe fielen schärfer und zischender. Ich selbst verfolgte diese Exekution mit Interesse und während ich den Schwingungen der Peitsche am nächsten stand, beugte ich mich vor und sie traf mich an der Schläfe und hinterließ eine blutunterlaufene Schramme. Der Junge war vorläufig gerettet, denn der Rektor suchte alles anzustellen, mich zu besänftigen. Vielleicht war es Furcht vor meinen Eltern, die sehr angesehen in der Stadt waren, denn sie würden das wohl nicht so ruhig hingehen lassen. Aber vorläufig bemühte ich mich sehr, die Sache vor meiner Mutter zu verheimlichen, denn ich argwöhnte wohl, daß es von ihrer Seite auch nicht ohne Prügel abgehen würde.

Zu jener Zeit war der österreichische Krieg, ich er innere[33] mich, daß wir den Sieg der Schlacht bei Königgrätz in der Schule feierlichst begingen. Die Schule war anders organisiert, wie heutzutage, wo die Eltern und alles gegen die Ausnutzung der Kinder sind. Damals hielt jeder Klassenlehrer seine Schüler wie die Dienstboten. Wir wurden vom Lehrer Bogdan oft nachbehalten, nur um das kleingemachte Holz aus dem Stall in die Wohnung zu tragen. Dennoch zog ich diese körperliche Arbeit bei weitem meinen Nachhilfestunden beim Lehrer Böhm vor; da waren wir viele Jungen zusammen und jeder wußte viele Streiche zu erzählen. Ich lernte die Stunden beim Böhm schwänzen, stellte mich beim Turnen lahm und hinkte ihm etwas vor, daß er mich dispensierte. Auf dem Marktplatz zeigte sich ein Seiltänzer und ich blieb, bis es zu spät wurde. Außerdem hatte der Lehrer selbst sich sogar zu dem Schauspiel eingefunden. Unschuldig kam ich nach Hause und sagte niemand etwas von meinem Wegbleiben aus den Stunden. Außerdem geriet ich durch mein selbständiges Leben auf Abwege: ich stahl! Es pflegten auf dem Eßtisch kleine Geldsummen liegen zu bleiben, welche die Dienstboten meiner Mutter zurückbrachten und da liegen ließen. Wie es anfänglich geschieht, blieb es unbeobachtet, daß das Geld etwas weniger wurde. Aber da nahm ich eines Morgens, ehe ich zur Schule ging, wieder eine ordentliche Summe zu mir. Ich hatte die Absicht, bei Schluß der Schule beim Bäckermeister Kraft die langersehnten Puppen aus Pfefferkuchen zu kaufen. Ich bekam aber für mein Geld so viel, daß ich es nirgends unterbringen konnte. Ich versuchte die Figuren in die Rock- und Hosentaschen, über den Bauch zu stecken,[34] aber alles vergeblich.. Überall ragten Köpfe oder Arme heraus. Endlich packte der Bäcker den Rest auf die vorgehaltenen Arme. So balanzierte ich, soviel wie möglich essend, mit meinen Frauen, Männern und Pferden nach Hause. Meine Mutter aber konnte von unserem Fenster aus gerade bis zur Bäckerei genau hinsehen und da wird sie wohl über mein sonderbares Gebahren arg verwundert gewesen sein, denn nachher kam ihr der Gedanke mit dem Gelde, denn sie hatte sich schon immer den Kopf zerbrochen, ob ein Dienstbote etwa die Finger darnach ausgestreckt hätte.

Als ich in die Wohnstube trat, saß meine Mutter auf dem Sofa und schrie mir entgegen: »Jung, Du hest dat Geld gestoahle!« Da entfielen mir all meine Brotfiguren auf den Boden und beschämt flüchtete ich mich in das Schlafzimmer, warf mich über ein Bett und vergrub mein Gesicht vor Scham in die Kissen. Jetzt erwartete ich nichts anderes, als daß ich zu Brei verprügelt werden sollte. Aber nein. Sie sagte mir einige ruhige, beschämende Worte und wandte sich, von mir fort.

Mein Vater, der vom Felde kam, fragte ganz verwundert, was denn eigentlich vorgefallen wäre. Darauf erklärte meine Mutter mit verächtlichem Ton: »De Lue heft gestoahle!!« Darauf wandte sich auch selbst mein Vater, der sonst doch immer etwas tröstliches für mich hatte, von mir fort und man ließ mich allein. Wie gern hätte ich da die stärksten Prügel ertragen. – Diese Sache ist mir noch heute so unvergeßlich geblieben und wirkte damals dergestalt auf mich, daß von da ab alles, selbst das Kostbarste hätte vor mir liegen bleiben mögen. Ich hätte es nicht angerührt.[35] Das war eine gute Lehre für mich gewesen, aber auf andere Sachen in der Schule paßte man nicht auf, so daß die ersten Keime von Untugenden in mein Herz gesät wurden. Zu der moralischen Führung war ja der Lehrer Böhm da, welchem mein Vater die Nachhilfestunden monatlich mit einem Thaler bezahlte. Meine Schwäche, den Rechenaufgaben gegenüber, war stärker, als daß der Lehrer es lange hätte aushalten können. Wir freuten uns alle beide, wenn ich die Stunden schwänzte. Der Lehrer Böhm drückte mehr als ein Auge zu. Meine Mutter, welche in der Häuslichkeit sehr viel zu tun hatte, war nicht von der Wichtigkeit der Schule so erfüllt wie mein Vater, denn der Mutter Wunsch war, ich sollte einst als Bauer auf einem Landgut wirtschaften. Mein Vater wieder war absolut dagegen. Es genügte der Mutter schon, wenn sie auf das Äußerliche, Handgreifliche aufpaßte und mir den moralischen Unterschied von Gut und Böse beibrachte.

Mein Vater wurde zu dieser Zeit sehr krank und wegen Unzulänglichkeit der kleinstädtischen Ärzte mußte er nach Königsberg fahren in die Obhut besserer Pflege und deshalb logierte er sich dort bei Verwandten von uns ein. Der Verkehr zu jener Zeit mit den Nachbarstädten Königsberg oder Wehlau oder Labiau geschah immer noch mit Fuhrwerk. Wenn Getreide oder Leder auf den Märkten oder an die Händler verkauft werden sollte, so belud man einen großen Leiterwagen, spannte drei Pferde nebeneinander und fuhr dorthin.

Nun sollte aber wirklich die Reise zum kranken Vater auf der neuen Eisenbahn vor sich gehen. Meine Mutter löste[36] für uns 2 Billets vierter Klasse und nun fuhren wir in dem leeren Kasten nach Königsberg zu. Von dieser Stadt hatte ich Wunderdinge gehört; ich stellte sie mir eigentlich wie den großen Glasschrank bei uns im Wohnzimmer vor. Wie ich zu dieser Einbildung kam, wußte ich eigentlich nicht, aber ich blieb bei dieser einmal gefaßten Idee. Wenn der Zug an einer Station hielt, war ich verwundert, daß es noch nicht Königsberg war. Mit Mühe konnte ich nur beruhigt werden, daß ich aus dem Wagen nicht heraussprang und noch weiter fahren sollte. Endlich hat ten wir die Stadt erreicht, aber ich fand sie nicht viel anders, wie meine Heimatstadt Tapiau; nur mehr Menschen, mehr Pferde und mehr Wagen. Mein Vater lag im Bett und weinte vor Rührung über unser Wiedersehen. Ich freute mich ja auch, ihn wiederzusehen, aber ich wollte doch das Denkmal sehen gehen, von dem man mir so viel Wunderbares erzählt hatte. Als mein Vater meinen Wunsch erfuhr, überredete er selbst uns beide, dorthin zu gehen. Meine Mutter, auch noch fremd in der Stadt, fragte sich zurecht nach Königsgarten, wo das Denkmal Friedrich Wilhelms des III. stand. Hier auf weitem Platz mit Anlagen sahen wir auf einem hohen, blank polierten Steinwürfel einen eisernen Mann auf einem wunderschönen eisernen Pferde reiten. Das Pferd – für weiter hatte ich keinen Sinn – war genau so wie auf dem Bilde, welches mir die einäugige Emilie gezeigt hatte. Das Pferd hatte ebenso ein Vorderbein aufgehoben, ich sah auch, daß es ein Hengst war. Wir Beide gingen ehrfürchtig herum und betrachteten dann die übrigen Figuren, welche dort am Untersatz angebracht waren. Vier weibliche allegorische[37] Figuren standen an den Ecken des Sockels von je zwei nackten Kindern umgeben. Wir dachten bei dem Anstaunen der nackten Kinder beinahe dasselbe. Meine Mutter sah sich nach allen Seiten vorsichtig um und als sie sicher war, daß niemand sie hören konnte, flüsterte sie mir ganz leise ins Ohr: »Kick Lue, de Jung heft ook son kleene Hoan, wie Du!« Dem Reinen ist alles rein und wir fühlten nicht, daß sie nackend waren.

Nach diesem Abstecher nach Königsberg blieben wir einstweilen noch geraume Zeit allein zu Hause. Bis endlich mein Vater gesund heimkehren konnte. Zum Empfang meines Vaters ließen wir unsern besten Wagen aus der Remise hervorholen, ebenso das Kutschengeschirr; die beiden Füchse stolzierten feurig und ausgelassen nach dem Bahnhof. Ich mußte dann meine Studien in der Gelehrsamkeit wieder aufnehmen. Etwas Neues kam noch hinzu: ich wollte nämlich ›Flötenblasen‹ lernen. Ich weiß heute noch nicht, wie ich auf den Gedanken kam, mir noch mehr aufzuladen, dennoch fragte ich den Böhm: »Flöte oder Violine, was soll ich lernen?« Wir entschieden uns für Flöte, die der Lehrer Böhm meisterhaft blies. Er hatte ein Instrument, das lang wie ein Spazierstock, aber viel dicker war, mit vielen Löchern und goldenen Klappen. Kaum fiel die Entscheidung, als mein Vater aus Königsberg eine reizende Flöte schicken ließ und mir schenkte. Sie war weiß lackiert mit silbernen Klappen und ich spitzte den Mund, wie ich es so oft gesehen hatte und dachte es mir leicht, darauf zu spielen. Aber die Enttäuschung war groß. Zu den Ohrfeigen für Rechnen gesellten sich die für das Flöteblasen,[38] denn meine spitzen Finger konnten unmöglich die Löcher so luftdicht verschließen, wie mein Lehrer mit seinen dicken Fingern diese Art zu zeigen beliebte. Kurz und gut, es haperte an allen Enden und der Tragödie Schluß war, ich wurde Ostern nicht von der 3. nach der 2. Klasse versetzt.

Vielleicht war der kalte Winter, welcher eben vorüberzog, daran Schuld. Dort im Norden ist ein Winter ein ganz anderer Zeitraum, als man es sich im übrigen Deutschland denkt. Der Wind von Rußland läßt Flüsse und eigentlich alles erstarren. Man fährt auf zugefrorenen Flüssen mit Vorliebe, weil sie als natürliche Wege geebnet sind. Auf schweren Schlitten stapelt man Holz auf oder von den benachbarten Gütern große Fuder Heu als Winterfutter. Die Pferde werden scharf beschlagen, die Hufeisen geschärft als Schutz vor dem Ausgleiten. Diese Schlittenfahrten waren beliebt zu Festlichkeiten. Unter Tanz und dem Genuß heißen Grogs gehen die langen finsteren Abende zu Ende, Die Schule gab, wie im Sommer bei zu großer Hitze, ebenso bei allzugroßer Kälte, oft sogar mehrere Tage hintereinander Kälteferien. Gegen den Frost wurde ich mit großen wollenen, selbgestrickten Tüchern dick umhüllt von der Dienstmagd nach der Schule getragen und dort vorsichtig ausgepackt. Überall läuteten lustig die Klingelschlitten. Wenn dann der Schnee backte und weicher wurde, fuhren wir mit den beiden Füchsen, welche nichtstuend im Stall standen und Fett ansetzten, auf dem neuen russischen Schlitten zu meinem Ohm und Tante nach Moterau. Die Landschaft lag weit übersichtlich in feuchter Schneeluft, dort drüben über dem Galgenberg war ein[39] kleines, alleinstehendes Gehöft, die Dächer dick mit Schnee bedeckt. Dieses kleine Gut stach meiner Mutter schon lange in die Augen, denn sie wollte es für mich, wenn ich größer würde, zur Bewirtschaftung kaufen. Das wollte mein Vater aber nicht hören und unwillkürlich zog er die Leine an, daß die übermütigen Pferde schneller liefen und Kapriolen machten. De Lue sollte kein Bauer werden. Die Landwirtschaft hatte er ordentlich aus dem FF kennengelernt. Das Geld, das man dafür hineinsteckt, ginge bald dabei verloren – und dann der fortwährende Ärger mit den Leuten: »Studieren soll er, und ein tüchtiger Mensch werden«. Dabei waren wir bald im Dorf angekommen, rechts bog man von der Chaussee in den Hof ein, hier stand ein großer Ziehbrunnen und dicht daran ein großer rauchender Misthaufen. Verschlafen kamen sie ihre Gäste empfangen. Im Hause flatterten die Hühner auf, daß die Federn flogen. Die Pferde wurden vorsichtig untergebracht, namentlich der Hengst sollte ordentlich angebunden werden, daß er nicht herumbeiße oder ausschlüge. Endlich saß man indem heißen Zimmer. Wenn noch anderer Besuch da war, wurde Karte gespielt und geklatscht über die an deren Bauern und deren Kinder, oder irgend ein adliger Gutsbesitzer ausgelacht, wenn er vom Hof heruntermußte. So ein ›Herr Von‹ mußte schon früh aufstehen, um Unsereinen zu übervorteilen. Das Winterfutter ist Hauptbedingung, die Masse Vieh über den Winter herüberzuhalten. Zwar verführerisch ist es ja, gegen bar Geld Heu zu verkaufen, aber die Reue kam dann bald hintennach. Der Rittergutsbesitzer aus Groß-Kuglacken kümmert sich um nichts, doppelt[40] und dreifach wurde auf die großen Schlitten aufgeladen, als was der Wert des Heus eigentlich betrug und dann schnell vom Hof herunter, daß die Tore krachten. Dann lachte man sich eins, die Männer tief, die Frauen hoch. Die Petroleumlampe wurde angebracht und da konnten die Frauen unter sich über ihre Wirtschaft besser sprechen: »Die Dienstboten von heutzutage taugten alle nichts, die Majellens bekümmern sich um nichts und haben nur Liebesgedanken im Kopf.«

»Hat die Hilf'sche nicht alle Ferkel von der Sau totdrücken lassen?« –

»Majell, seg et, ut di wat em Leewe nuscht!« Endlich kommt eine Magd mit Heulen und Schreien vom Hof hereingelaufen. »Herrke, Herrke«, schreit sie, »de Hingst hewwt sek losgeräte un bet un schleiht de brune Kobbl.« »Gott's Donner, noch moal, des hew ek mi doch gliek jedoacht«, sagt der Bauer, nimmt die Stallaterne und steckt den Lichtstummel schnell an, und alle laufen in den Stall. Da ist ein Getrampel und Gewieher, der Hengst steht da, die Nüstern hochgezogen, und zeigt die langen gelben Zähne, die Stute kneift die Ohren an und schlägt aus nach allen Seiten. – Endlich ist wieder Ruhe und man rüstet sich auch sowieso zu Abfahrt nach Hause.

Die Osterfeiertage waren aber nun durch mein Sitzenbleiben in der Schule uns allen vergällt. Böhm in seinem schlechten Gewissen Sagte, ich wäre noch zu jung. Aber da ließ die Mutter durch mich fragen, warum denn Bürgermeisters Max versetzt wäre, der wäre ja noch jünger. Nachdem meine Eltern sich genug geärgert hatten, beschlossen[41] sie ihren langgehegten Plan zu verwirklichen und mich nach Königsberg auf das Gymnasium zu schicken. »Da kann der Jung gleich bei der Schwester leben«, sagte meine vorsichtige Mutter. »Jedes Jahr einen Sack Kartoffeln zum Herbst und ein paar fette Enten für den Winter – da wäre er vor dem allerärgsten Hunger geschützt.«

Bei der Prüfung im Kneiphöfischen Gymnasium bestand ich für Septima, sollte aber im Herbst bestimmt nach Sexta kommen, sagte der alte Direktor, welcher die Prüfung vorgenommen hatte.

Ich kehrte bereits kultivierter zurück, denn ich sprach schon ›hochdeutsch‹. Jeder halbwegs Weitgereiste sprach anstatt der plattdeutschen Heimatspra che, die jeder verachtete und nur für das niedrige Volk da war, ein phantastisches Hochdeutsch. Mein Halbbruder Julius, dessen ›lndiefremdegehen‹ sich bis Frankfurt an der Oder erstreckte, war kaum bei seiner Rückkehr vor lauter Hochdeutsch zu verstehen gewesen. Nur eines verstand man, als man ihn fragte, wie es ihm dort gefallen habe, antwortete er lakonisch: »Too Huus is too Huus«. Unsere konservative Mutter nannte diese Art Sprache ›Messingsch‹ und sie sagte, wenn man ihr riet, mich gleich hochdeutsch sprechen zu lassen: »He wet es schon lehre, wenn hei mott«.

Nun wird wohl hier, wo ich mehr freie Zeit habe, bevor ich für immer nach Königsberg gehen sollte, am schicklichsten sein, eine Pause zu machen. Diese Pause können wir mit allerhand Kurzweil ausfüllen, z.B. über das Leben mit meinen Spielgefährten und die Zerstreuungen, welche in der kleinen Stadt den Einwohnern geboten wurden. Da[42] war vor allen Dingen im Hochsommer das Schützenfest und der Wehlauer Jahrmarkt.

Das Schützenfest wurde von den männlichen Teilen der Bevölkerung veranstaltet. Die Männer teilten sich in Schützenkönige, Fahnenträger und andere Würdenträger. Diese höheren Offiziere trugen den Degen an der Seite, welchen sie von den Beamten des Instituts entlehnt hatten. Die Straßen waren mit Birkenbäumen verziert und der Abend vorher wurde durch einen Marsch durch die also geschmückten Straßen mit einem Zapfenstreich eingeleitet.

Am Tage des Festes stellte sich die Schützengilde in Reih und Glied auf dem Marktplatze auf. Die Offiziere mitsamt dem Schützenkönig sprengten an den ausgerichteten Reihen entlang, welche präsentierten unter Trompetenfanfaren. Der Schützenkönig und die Ältesten des Generalstabes saßen auf geborgten, prächtig aufgezäumten Pferden, welche der Gendarm und der beliebte Kontrolleur gern zu dem Fest herliehen. Der Schützenkönig und seine Vorgänger hatten breite Ordensbänder mit tellergroßen silbernen Medaillen über die Brust gelegt. Der dicke Bierwirt und der dicke Olck, beide Gastwirte und zugleich die Korpulentesten, taten sich besonders dick und waren nur noch an ihren dicken Bäuchen wieder zu erkennen. Dann zogen alle mit »Gewehr über« und dem Düppler Schanzenmarsch mutig nach den Fichten zu.

Dieser Nadelwald lag zwischen Tapiau und Wehlau und die große Chaussee durchschnitt ihn. An dem Waldessaum war die Festwiese mit Trinkbuden und dem Tanzboden. Am Nachmittage, wenn die Hitze sich gelegt hatte, fuhren[43] die Honoratioren, dazu gehörten wir natürlich auch, die Geringeren gingen zu Fuß, nach der Festwiese und amüsierten sich hier nach Leibeskräften. Wenn die Sonne unterging und die Kiefern mit rotem Schein bestrahlte, nahm das Fest einen anderen Charakter an. Die Getränke hatten sie animiert und in der Dunkelheit trieb sich allerhand Gesindel herum. Die Landmägde aus den nächsten Dörfern und Gütern hatten sich eingeschlichen und oft verschwanden Paare in dem Gehölz oder tauchten wieder auf. Den nächsten Morgen zogen Liebespaare oder betrunkene Horden mit Gegröhle der Stadt zu. Der neue Schützenkönig wurde durch den ›Königsschuß‹ bestimmt. Er erhielt eine schön gemalte Scheibe, auf welche er den Meisterschuß getroffen hatte. Diese Scheibe hängte er als Ehrenzeichen in seinem Hausflur auf. So erhielten viele Bekannte von uns und entfernte Verwandte, wie der Drechslermeister Mehlhaas und der Bäckermeister Clafft, diese Ehrenscheiben, welche ich wegen der Malerei oft bewunderte. Es wurden sinnige Allegorien auf das Handwerk, welches der jeweilige Schützenkönig trieb, dargestellt.

Der Wehlauer Jahrmarkt war dann besonders wichtig für meinen Vater als Gerbermeister. Die Leder, welche er dort verkaufen wollte, wurden auf zwei gut gehaltene starke Leiterwagen aufgeladen. Des öfteren ließ er gleich mehrere hundert Scheffel Rips aufladen, die er zugleich in der großen Ölmühle verkaufen wollte. Dann fuhren wir dieselbe Chaussee, an welcher das Schützenfest gewesen war, nach Wehlau zu. Wehlau ist so nahe von Tapiau entfernt, daß wir bei klarem Wetter über die Wiesen hinweg die Fenster[44] dort blitzen sehen konnten. Oder auch des Nachts beobachteten wir grusligen Gemütes einen Brand. Nach zwei Stunden Wagenfahrt erreichten wir eine lange hölzerne Brücke, die dicht bei dicht von Bettlern besät war. Meine Mutter gab jedem Bettelnden aus egoistischem Aberglauben ein Almosen und so fuhren wir in langsamsten Tempo in die Stadt ein, denn es war streng befohlen, auf dem wackligen Holzbau in langsamstem Schritt zu fahren, daher stammt das Sprichwort: »Wer wagt, kommt nach Wehlau« – nämlich über die baufällige lange Brücke – »Wer zuviel wagt, kommt nach Tapiau« – wegen der Besserungsanstalt.

Als wir die Brücke aufatmend hinter uns hatten, kamen bereits die ersten Lederhändler heran und nahmen meine Eltern in Beschlag. Wenn der Markt günstig war, und wegen des siegreichen Krieges war er günstig, denn der österreichische Krieg war eben vorbei, und schon intrigierte Bismarck gegen Frankreich, so war Leder und Rips schnell verkauft und den Nachmittag benutzte man zum neuen Ankauf für eigene Bedürfnisse. Mein Vater ging mit mir auf den Pferdemarkt. Er ist der größte in der Provinz und namentlich werden viele russische Pferde importiert. Hier war die ›Schanz‹. Die Begleiter meines Vaters änderten sofort ihr Mienenspiel, wenn jemand von ihnen aufforderte auf ›die Schanz‹ zu gehen. Hier waren Buden mit ›Riesendamen, Seejungfern, Schießbuden etc.‹ und wenigen Trinkbuden mit Kellnerinnen.

Dann nahm mich wohl auch meine Mutter mit und kaufte, da die Gelegenheit günstig war, Schuhe für mich ein.[45] Ganze Straßen waren Tilsiter Schuhmacher, Bude an Bude aneinandergereiht. Viel lieber waren mir noch die Thorener Pfefferkuchenbuden. Hier bekam ich dann die Taschen voll von Figuren aus Pfefferkuchen, welche ich früher ›gestohlen‹ hatte.

Am Schluß ging meine Mutter zu den Kähnen, wo man Elbinger Käse feilbot. Dieser war groß wie ein Wagenrad und mindestens wurden zweie davon erstanden. Abends fuhr man dann ebenso voll beladen wie am Morgen nach Hause, wo ich müde und schläfrig ins Bett gebracht wurde.

Die besten Beziehungen hatte mein Vater mit Fleischern; durch den Handel mit Fellen, Talg, etc. glaube ich, war eine Art Kartell zwischen Gerbern und Fleischern geschlossen. Dieses kennzeichnete sich auch in ihrem Zusammengehen als Gilde. Zu jener Zeit waren noch die Handwerker-Innungen und der Gewerbezwang. Meister mußte Jeder werden, welcher ein selbständiges Gewerbe ausübte. Ich erinnere mich des Fleischer-Quartals. Da wurden wohl die Burschen zu Gesellen gekürt. In aller Morgenfrühe kamen die jungen Meister mit ihren Gesellen, mit dem Stadtmusikanten Däblitz an der Spitze. Ein Walzer wurde ge spielt und alles drehte sich im Tanz. Der junge Hennig war namentlich berühmt als bester Tänzer. Ich stand im Hemde dabei und sah dem Trubel zu. Die meisten kannte ich dadurch, daß sie jeden Morgen das Fleisch in der Mulde brachten und stundenlang feilschten, bis sich meine Mutter entschloß, zum billigsten Preise Fleisch einzukaufen. Mit einem Hoch auf das Haus schloß das Frühvergnügen. Sie ließen alle »jungen Herren« des Hauses leben.[46] Darauf sagte ich, ob ich auch junger Herr wäre, was mir ein allgemeines Gelächter eintrug.

Über dem Platz quer herüber stand ›die alte Gerberei‹, ein ähnliches Besitztum, wie das neue, in welchem wir wohnten. In dem Wohnhause links wohnte der Nagelschmied Schöntaub und rechts der Weber Mazat. Der Nagelschmied hatte seine Werkstatt auf dem Hof und neben dem Pochen jener Lohmühle erklang das Hämmern auf dem Ambos. Zuerst ein hoher Sopran, ›ping, pinkg‹, dann kam ein Anderer dazu, welcher im Baß hämmerte: ›Pang‹, Dann wechselte es, daß es lustig klang, in freudiger Arbeit der Schmiede: ›Pingpang, Pingpang‹. Der Schmiedemeister war ein finsterer, verdrießlicher Mann, vor dem ich ein gewisses Angstgefühl nicht unterdrücken konnte. Er hatte ein Steinleiden, was ihn oft vor Schmerzen wimmern machte. Desto besser war ich mit seinen beiden Söhnen befreundet, die mit mir fast gleichaltrig waren. Gustav war mein liebster Freund. Er war sehr gutmütig, hatte brandrote Haare und das Gesicht voll Sommersprossen. Heinrich war der ältere, der weißblond und lang war. Wir lagen entweder in der Schmiede herum oder bei uns im Pferdestall. Dazu kam noch ein anderer Junge ›Schlupps August‹. Seine Eltern waren jahrelange Tagelöhner bei uns und wohnten in einer Dachstube über Schöntaubs und dem Weber. Der Junge war durchtrieben, trotzdem ersieh seiner niedrigen Stellung wohl bewußt war. Deshalb nannte ihn der humoristische Knecht, welcher Menschen und Tiere mit charakteristischen Namen bezeichnete: ›Rassassa‹. Wir spielten lustig und kindlich zusammen zum Ärger[47] meiner Mutter. Ihr Wunsch war, im Blumengarten mit Herrschaftskindern sollte ich spielen. Einmal war ich dort, aber ich kehrte doch zu meinen alten Freunden fröhlich zurück. Zwar erntete ich an Sonnabenden manche Laus in den Haaren, aber bei der großen Wäsche wurden sie alle wieder vernichtet. Mit den Herrschaftskindern hatte ich nichts im Sinn. Als Fremdling und Eindringling mußte ich mich unterordnen, während ich wohl fühlte den Rang als Herrensohn, durch den ich ein natürliches Übergewicht im alten Kreise erhielt. Meine Mutter konnte zehnmal sagen: »Jung! goa in de Bloomegoade«, der Jung ging nicht, sondern er versteckte sich irgendwo, wenn sie es energisch befahl und kam erst zum Vorschein, wenn sie durch ihre anderen Betätigungen diesen Erziehungszwang vergessen hatte. Im Blumengarten war auch ›Fischer's Knäblein‹, ein verzärteltes Muttersöhnchen, welchen seine Mutter also genannt hatte, um die Distanz zwischen ihm und den anderen Jungens einzuhalten. Anders ging es bei uns, bei den Schöntaubs zu. Auf den Rat des ›Rassassa‹ sammelten wir Zigarrenstumpen; wenn sie im Rinnstein gelegen hatten, wurden sie am Herdfeuer in der Küche getrocknet, alsdann gingen wir in die Wohnung von Schöntaubs, wo wir wußten, daß bestimmt niemand darin war. Nun lag in der Wiege ein verwachsenes Kind mit altklugem Kopf, das raffte den Stummel an sich und rauchte ihn bis zum Ende auf. Das war der Robert, der von seinem mürrischen Vater nur ›Ossefrosch‹ genannt wurde.

Nun wollte man mich zum Sommersemester nach dem Königsberger Gymnasium bringen. Es wurde definitiv eingepackt:[48] Kleider für mich, ein Sack Kartoffeln, gebratene Enten, für meine Tante. Meine Mutter überlegte sogar lange, ob sie eine der fettesten Enten oder eine Seite Speck nicht meinem neuen Klassenlehrer durch mich übergeben sollte. Der Dampfer auf der Deime war bereits in Sicht und bald fuhr er bis zur Haltestelle an uns vorbei, so daß es hieß, nur schnell sich verabschieden. Aber plötzlich wollte ich nicht mehr, und wenn ich nicht wollte, war schwer gegen mich anzukommen. Mit allen Lockungen wollte man mich umstimmen. Endlich gab ich nach, als ich hörte, daß dort jeden Tag Zeichenunterricht wäre und der ›Kleene Fritzke‹ doch auch dort wäre. Diesen liebte ich abgöttisch, weil er mir immer Lokomotiven zeichnete. Über dem vielen Reden stiegen wir über den Steg zum Dampfer. Vorn am Glockengestell stand ein junger Bulle, der schläfrig wiederkäute. Die Taue wurden gelöst und nun fuhren wir, mein Vater, der sich noch zuguterletzt entschließen mußte, mich zu begleiten und ich, auf dem Pregel nach Königsberg.

Langweilig war die Fahrt sehr: Zu beiden Seiten flache Wiesen mit Vieh darauf. Auf dem erhöhten Mittelgrunde standen unter Laubbäumen die Gutshäuser. Endlich nach vier Stunden sahen wir die Türme der Stadt, und große Seeschiffe waren in reicher Anzahl, als wir die Festung durchfuhren, an den Ufern aufgereiht. Ich wunderte mich über die Raaen und die neue Konstruktion dieser Schiffe, welche ganz anders waren, wie die Reisekähne und die Witinnen, die ich so lange auf der Deime fahren sah. Endlich wurden die Taue ans Land geworfen, man schlang sie um einen Pfahl und der Dampfer zog sich heran. Ein[49] Steg schob man über den Bord und wir gingen einem Menschenpaar entgegen, das schon von weitem gewinkt hatte. Mit ausgebreiteten Armen empfing mich eine lange magere Frau, die sich tief zu mir niederbeugte, um mich zu küssen. Ich sah aber nur einen einzigen langen Zahn in ihrem lachenden Munde. – Ich wollte sie nicht küssen, wenigstens kniff ich die Lippen ganz fest zusammen. Das war die Tante, welche ich noch nie gesehen hatte. Daneben stand der ›kleine Fritz‹. Aber seit der Zeit, wo er nicht bei uns gewesen war, war er sehr gewachsen und ein Schlosserlehrling geworden. Eine Blechflasche sah aus seiner blauen Arbeiterbluse heraus. So freudig begrüßte er mich nicht, wie ich wohl von ihm erwartet hatte.

Aber unbewußt war nun das Schicksal gekommen und führte mir die Person entgegen, welche auf mein ganzes späteres Leben den größten Einfluß haben sollte. Vom achten bis zum sechzehnten Lebensjahre lebte ich mit meiner Tante Tag um Tag zusammen und ihre geradezu infernale Genialität hat meinen ganzen Charakter bestimmt. Wie alle Leute aus den einfachsten Kreisen, denn ihr Mann war Schuhmachermeister, verfügte sie über einen grotesken Humor. Sie war die jüngere Schwester meiner Mutter und oft wurde ich beglückwünscht, daß ich es gerade so gut hätte, als wenn ich bei der wirklichen Mutter lebte. Vorläufig aber gingen wir in ihre Wohnung, Magisterstraße 41.

Die Wohnung, wo ich jetzt mit meinen Verwandten leben sollte, war im Verhältnis zu der unsrigen in Ta piau sehr klein: Zwei lange schmale Zimmer, aber noch einmal so[50] hoch, wie unsere Stuben. Aus der größeren Stube ging ein Balkon auf den Pregel zu. Darunter war ein kleiner Hof mit einer alten Linde. Da konnte ich denn das Leben auf dem Pregel beobachten, welches noch reicher war, wie das auf der Deime. In dem Zimmer nach der Gasse zu war die Schusterwerkstatt vom Ohm aufgeschlagen. Der Ohm war klein und mager, um das Kinn wuchs ihm ein dünner, grauer Bart. Später bemerkte ich, daß der Gesell immer nach dem Fenster gegenüber schielte; es war dicht verhängt und hin und wieder kam ein nackter runder weiblicher Arm zum Vorschein, der vorsichtig die Gardinen etwas beiseite schob. Wenn der rotnasige Kommissär vorbei kam, blieb das Fenster dicht verhängt. Abends wurde die Schlafbank für mich aus dem Schrank herausgezogen zum ersten Schlaf in der Fremde. Morgens war mein Vater in aller Frühe nach Hause gefahren, ohne mich zu wecken, und ich war allein unter diesen fremden Menschen. Es war Zeit aufzustehen und zur Schule zu gehen. Noch im Hemd, ohne mich zu waschen, noch anzuziehen, sollte ich am Tisch mit gefalteten Händen ein ›Vaterunser‹ beten. Von allem Fremdartigen eingeschüchtert, gehorchte ich noch. Eine eingefangene junge Wildkatze kann nicht sanfter das Streicheln gegen den Strich von Menschenhänden ertragen als ich. Ebenso eifrig fing man an, mich zu lehren, wie ich mich ›benehmen‹ sollte. Jetzt brachte mich der gutmütige Ohm in die Schule. Der Unterschied zwischen den Kindern in der Klasse mit feinen Kleidern, mit breiten und weißen Halskragen, und meinen zerlumpten Freunden zu Hause, war sehr groß. Alles sprach Hochdeutsch. Als ich[51] gar nach meinem Namen gefragt wurde, und ihn hart und breit nach Art der Bauern ›Caarinth‹ aussprach, schallte mir eine gellende Lache entgegen von allen den kleinen geschniegelten und gestriegelten Jungens und das Hohngelächter wiederholte sich überhaupt nach jedem Wort, welches ich aussprach. Als ich gerade dem Lehrer eine leichte Rechenaufgabe beantworten sollte und das ›Plus‹ und ›Minus‹ vertauschte, weil ich es noch nie gehört hatte, so daß das Resultat verkehrt herauskam, schien es dem Lehrer so frivol, daß er mich aus der Bank herauszog, mir eins mit dem Rohr überriß und mir streng befahl, mich auf meinen Platz zu scheren.

So! Die Erfahrung hatte ich nun gemacht: feiner und schöner sah es hier aus, aber die Prügel waren dieselben. In der Zwischenstunde, wo alles auf den Spielplatz eilte, versteckte ich mich in einem Winkel unter den Bänken. Mehrere Tage vergingen in ähnlicher Weise. Eines Tages fühlte sich unser Lehrer Bildat krank und sah bleich aus. Er wollte uns nach Hause schicken. Ich freute mich schon, merkte aber zu meinem größten Erstaunen, daß die Kinder ihn baten, bleiben zu dürfen. Warum gingen sie nicht lieber nach Hause? Doch wir mußten dableiben, weil ihn ein anderer Lehrer vertrat. Keinen Freund hatte ich für die Zwischenpausen, ich versteckte mich, wie bisher. Ich wurde immer wegen meines bäuerischen Dialektes gehänselt. Da faßte ich den festen Entschluß von jetzt ab nur noch hochdeutsch In der Art zu sprechen wie die feinen Stadtkinder.

Als ich mit diesem Entschluß aus der Schule nach der[52] Magisterstraße ging, empfing mich meine Tarnte in ihrer gewöhnlichen Art und fragte mich wie, sonst in der plattdeutschen Sprache. Ich antwortete ihr aber hochdeutsch, außerdem hatte ich mir fest vorgenommen die Tante ›Sie‹ zu nennen; genau wie ihre Söhne, der Fritz und der August, meine Mutter und meinen Vater ›Sie‹ nannten. Sie war nicht wenig verwundert über den Wechsel meinem Benehmens, aber sie ließ es wohl zu. Es war auch keine gelegene Zeit, genauer darauf zu achten, denn ich hatte sie in einem Zank mit meinem kleinen Ohm gerade unterbrochen. Sie waren uneinig in etwas, was ich noch nicht verstand. Ich sah nur, in das Zimmer tretend, wie meine Taute tapfer gegen ihn schimpfte, und er, so gut es ging, seine Behauptung verteidigte. Als er nun gar noch die Hände zu Hilfe nahm gegen sie, die gut doppelt so groß war, da schubste ihn der jüngste Sohn, mein kleen Fritzke, gegen die Wand und sagte: »Was, Du willst meine Mutter schlagen?« Über diesen, beiden Parteien unangenehmen Zwischenfall, schien Ruhe einzutreten. Sogleich zog sich meine Tante in ihre Küche zurück, wo sie das Mittagsbrot bereitete. Das kochende Wasser siedete und plötzlich hörten wir ein Wehgeschrei: Das heiße Wasser war der Tante über die nackten Füße gelaufen und humpelnd und jammernd kam sie herausgestürzt. Mein Ohm aber tanzte triumphierend und jubelte: »Dat is goot, dat is goot!«

Das waren meine ersten Eindrücke aus der Gymnasialzeit. Oft sehnte ich mich nach Hause. Ich schlich auf die ›Lucht‹, wo der Gesell schlief. [Ein Bodenraum unter dem Dache wird in Ostpreußen ›die Lucht‹ genannt]. Aus der Dachluke[53] sah ich sehnsüchtig nach Osten. Ich bog mich weit heraus aus dem Fenster, ob ich wohl immer den Pregel aufwärts, den Kirchturm meiner Heimatstadt sehen könnte. Der Pregel, auf dem ich angekommen war, zog sich silbern, erst an Holzplätzen mit aufgestapelten Baumstämmen, dann durch grüne Wiesen entlang, dann sah ich wohl noch einen Turm, der gehörte aber leider zu einem Dorfe. Aber am Horizont verschwand dann alles in blauem Dunste. Erregt stürmte ich die drei Treppen hinunter in unsere Stube, stülpte meine Mütze auf und wollte mich fortmachen. Meine Tante stellte sich vor die Türe. »Wo willste Du hin?« rief sie. »Nach Hause will ich fahren«. Aber mit einem Griff lag die Mütze auf der Erde und ich war im Keller eingesperrt, in dessem Dunkel ich mich immer so sehr gefürchtet hatte. »Mit der Hand über den Dubs kannst Du fahren«, rief sie mir noch höhnend zu und verschloß die Kellertür.

So sehr ich mich sonst fürchtete, aber heute suchte ich gerade das tiefste Dunkel auf und drückte mich in einen Winkel. Ich wußte ganz genau, daß hier die Maden herumkrochen und die Kellerasseln längs den Mauern krabbelten. Ein Haß und eine Wut erfüllten mich und um keine Macht der Welt wollte ich mich finden lassen, denn schon hörte ich meine Tante, ängstlich und fürchtend, meinen Namen flöten. Sie war sanfter geworden und auch meine Tränen hörten auf zu fließen. Sie verstand es sogar mich umzustimmen, und ich mußte selbst unter Tränen lachen. Sie tröstete mich, daß bald Pfingsten herankäme und dann könnte ich so viel und so oft ich wollte, nach Hause fahren.[54] So war denn unser Verhältnis einigermaßen wiederhergestellt und ich nahm noch schluchzend die Bücher und vergrub die Hände in die Haare meines Kopfes. Es kamen dann auch jene Pfingstferien heran und ich eilte nach dem ›Honigplatz‹ an der Brücke, um mich nach der Abfahrt des Dampfers zu erkundigen. Den nächsten Vormittag konnte ich abfahren. Alles mögliche sollte ich nach Hause mitnehmen. Die Tante schärfte mir fortwährend ein, ja nicht ihr Geschenk für die Mama zu vergessen. Sie hatte Strümpfe für sie gestrickt und einen porzellanen Kaffeetopf gekauft. »Nur nicht zerbrechen«, sagte sie noch zu guterletzt. Mit Goldbuchstaben stand auf dem weißen Topf: »Ein jeder Tropfen erquicke dich«. Ich fuhr aber fort nach Hause. Nur der Gefangene an der Kette, welche gelöst wird, kann mich verstehen. Um die Ecke des Pregels, denn der Fluß bildet Inseln, von denen die letzte stromaufwärts, ›Der Kneiphof‹, ein Stadtteil Königsberg ist, sah ich noch den Lindenbaum und den baufälligen Balkon des Hauses, welches der Tante gehörte. Aber alles vor mir war mir weit erfreulicher, kam ich doch näher meiner Heimat und endlich war nun auch die Stadt und selbst ihre Kirchtürme verschwunden. Endlich – endlich sah ich die beiden Mühlen von Raddatz, wo man mich so oft mitgenommen hatte, und auf der Uferhöhe standen die kleinen, rotbedachten Häuser und die Kirche mit dem roten Turm. Alles erschien mir kleiner wie früher. Nun konnte ich schon die Fenster und sogar bestimmte Menschen erkennen. Der Dampfer fuhr langsamer und machte Anstalten an der Haltestelle zu landen. Da standen noch immer wie früher[55] die Worte: ›William Bauer, Kolonialgeschäft und Dampferexpedition‹. Auch der abgebildete wilde, nackte Mann mit der Blätterkrone um Kopf und Hüften rauchte noch seine Zigarre. Jetzt stand ich auf der Erde und konnte nicht schnell genug nach Hause kommen. Meine Eltern hatten keine Ahnung, daß ich mit dem Dampfer kam, denn zu jener Zeit war man nicht so fleißig im Brief schreiben wie heute. Nun war ich im Hausflur und immer noch merkte niemand mein Dasein. Ich klopfte verstellt schüchtern an die Tür, wie es die Bettler zu tun pflegten, und öffnete sie ein wenig. Mit verstellter Stimme bettelte ich durch die Türspalte: »Schenke Se doch e Pfennig un e bedke Brod«. Meine Mutter, die wohl nur meine junge Stimme hörte, schrie heraus: »Marsch, go too Huus«! Ich aber riß nun die Tür auf und sprang jubelnd hinein.

Wir waren anfänglich allein, aber bald ging das Gerücht in Hof und Haus, ich wäre da, und die Stube füllte sich. Da kam die Schwester Rike von ihrer Arbeit, die einäugige Emilie, mein Vater und Halbbrüder aus der Gerberei, und alle freuten sich über mich, wie ich gewachsen wäre und wie ich sogar hochdeutsch spreche. Denn ich hatte mir nun auch vorgenommen, mit den Eltern und den engeren Angehörigen hochdeutsch zu sprechen, aber mit den Knechten und Dienstleuten das Plattdeutsche.

In der kurzen Zeit der Abwesenheit aber war ich bereits hochmütig geworden; ich hatte vieles von den feinen Stadtkindern angenommen. Mein bester Freund von früher, Schöntaubs Gustav, machte vor unserem Fenster allerlei Kapriolen, damit ich auf ihn aufmerksam werden[56] sollte. Ich wendete mich aber von ihm ab und empfand nichts, als meine Mutter das Fenster aufriß und ihm zurief: »Jung! wascht too Huus goane!« Betrübt zog er fort. Aber meine Mutter bekam mich jetzt dennoch nicht in den Blumengarten zu den Herrschaftskindern. Am Nachmittage schon war ich mit meinen alten Freunden bereits ein Herz und eine Seele. Wir tauschten unsere Erlebnisse aus.

In Haus und Hof schien mir alles neu. Ich mußte alles inspizieren. Meine schwarze Lieblingskatze hatte gerade Junge geworfen und zwei von den jungen Tierchen hatte man behalten. Nun hielt ich mich bei diesen den ganzen Tag auf. Ich wartete, bis sie Augen bekamen, bis sie die ersten Sprünge machten, und ich konnte mich an ihren Spielereien nicht satt sehen. Ich war immer ein großer Tierfreund gewesen, deshalb nannten mich alle im Hause ›Kattemajor‹.

Noch vor einigen Jahren hatte ich den größten Schmerz meines Lebens gehabt, ich hatte ein junges Kaninchen und ihm zuliebe ließ ich alle Katzen – Katzen sein und kümmerte mich nur noch um dieses Viech. Zahm und sanft lief es mir überall nach. Aber einstmals lag es auf dem Rücken und zappelte mit allen Vieren. Dann starb es. Niemals habe ich so viel Tränen vergossen wie um dieses Tier. Ich vergrub es im Lohhaufen, der im Garten aufgehäuft war.

Die Pfingstferien verliefen ruhig und guter Dinge, bis eines schönen Morgens der Briefträger einen schwarzgeränderten Brief ins Haus brachte. Die Tante teilte mit, daß ihr Mann, der Schuhmachermeister Horn, ganz plötzlich am Nervenfieber gestorben sei. Das Begräbnis sollte gerade[57] an dem Tage des Schulanfangs sein. So fuhren wir nun wieder am Schluß der Ferien, mein Vater und ich, als Leidtragende in die Stadt zurück. Meine Tante erschien mir in den schwarzen Kleidern noch länger und magerer.

Der Sarg war aufgebaut und darin schlief der kleine Ohm, der immer so gut zu mir war. Zu dem Begräbnis war ein sehr weiter Weg. Weit am Brandenburger Tor war der Kirchhof der Kneiphöfischen Gemeinde. Hier wurde er eingescharrt und dann wurden wir mit einem schönen Essen von meiner Tante bewirtet. Pudding mit Mandeln und Rosinen gab es und dazwischen rühmte die Tante ihr Zusammenleben und die Tugenden des Verstorbenen. »Wie die Engel im Himmel haben wir zusammen gelebt«, sagte sie weinend. So viel verstand ich wohl, daß das nicht wahr war.

Nach dem Begräbnistage wurde es still und einsam in unsrer Wohnung. Der Gesell ging fort, die dreibeinigen Schusterstühle, Spannriemen, der Tritt und die Schusterkugel wurden verkauft; das bedauerte ich sehr, denn nun konnte ich nicht mehr Speilen in die Sohlenstückchen hämmern, was ich eifrig mit dem Gesell zusammen als sein Schüler lernte.

Schließlich gewöhnten wir uns auch, daß wir zu zweit lebten. Aber das Begräbnisessen war das letzte, von dem ich in Gedanken zehren konnte. Die Tante wurde geizig und ihre Sauberkeit war nicht besonders glänzend. Sie wollte auf alle Weise sparen, was ich natürlich später erst verstand. Sie nahm sich eine alte Schlafstellerin. Sie sollte dem alten Grafen Bülow von Dennewitz die Wirtschaft[58] geführt haben. Auf diese Weise lernte ich durch die Erzählungen dieser alten Frau die Geschichte der Freiheitskriege praktisch. Wenn die Schlafstellerin von dem guten Leben im Schlosse schwärmte, so wollte meine Tante auch nicht ihr Licht unter den Scheffel stellen. Darum erzählte sie die bekannte Geschichte von der einen Auster. Dorchen hatte sie von einem Festessen in der reichen Kaufmannsfamilie, wo sie diente, mitgebracht. Als wir sie aber sahen – »I wo nei«, jeder graulte sich vor ihr, so unappetitlich sah sie aus. Aber mein kleiner Fritz, der noch in der Wiege lag, hatte Mut, der wollte sie gleich essen. Wir streuten Zucker darauf und er biß tapfer hinein und schluckte das Tier herunter. Ordentlich gequiekt hat es noch. Derartige Unterhaltungen wurden gepflogen, wenn Frieden zwischen den Zimmergenossen herrschte. Aber wenn Krieg gegen einander losbrach, dann trieb die Tante ihren Ärger gegen die ›Person‹ so weit, daß sie die Möbel, welche der Schlafstellerin gehörten, mit Fäusten und mit Füßen maltraitierte. Die Feindin revanchierte sich in der Art, daß sie sich extra etwas Gutes briet. Früher wurde mir dann auf blankem Teller ein Kosthäppchen zugereicht – aber jetzt konnte ich mit langen Augen sehen, wie es an meiner Nase vorbeizog. So wurde ich als Mitleidender ästimiert. Dann wurde ihr gekündigt, bis das bißchen Geld die Tante wieder lockte, neue Mieter zu nehmen.

Meine Tante liebte ebenfalls Unterhaltungen, in welchen sie das große Wort führte. Waren wir allein, mußte ich ihr Zuhörer sein. Sie erzählte mir dann, wie sie zu Hause in Tapiau als jüngstes Kind übervorteilt wäre; nur diese alte[59] englische Uhr in schmalem, hohen Holzgehäuse war ihr einziges Erbteil. Ich fand an diesem Möbel nichts. Die Uhr sah mich mit dem zinnglänzenden Zifferblatt ganz gleichgültig an. Die Tante aber konnte über sie so begeistert sein wie Homer über den Schild des Achill. Sie schwärmte von dem Meisterwerk: Monate, Tage, Wochen, Stunden, Minuten und Sekunden, den ganzen Kalender zeigte sie auf das Genaueste an, d.h., wenn sie ging, aber die Uhrmacher von heutzutage verstehen solche Schätze garnicht in Ordnung zu halten. Auch auf meine Familie ging sie näher ein: Mein ältester Halbbruder Fritz war ein jähzorniger Mensch; er sprang meinen Vater mit einem Messer an und der Neid brachte mich eben falls in Gefahr, von ihm ums Leben gebracht zu werden, aber die Rike nahm mich auf ihre Arme und flüchtete mit mir. So rettete sie mein Leben. Die Tante hatte natürlich Alles nur gehört, ich war so klein, daß ich mich nicht erinnern konnte. Aber wenn sie auch übertrieb, so mußte doch etwas Wahres daran gewesen sein, denn meine Halbschwester Rike führte auch diese Geschichte an und machte Anspruch als meine Lebensretterin, als sie in einer traurigen und ernsten Stunde viele Jahre später meinen Vater um Hilfe anflehte und mit diesen Argumenten zu unterstützen gedachte.

Der Geiz der Tante kannte keine Grenzen mehr. Durch nichts mehr gezügelt, tyrannisierte sie mich auf das Rücksichtsloseste. Ich sah wohl ein, daß ich in diese Stube keinen meiner Schulfreunde, die ich doch mit der Zeit gewann, einladen konnte, ohne mich zu blamieren. Auf der Straße mußte ich Umwege aufsuchen, um nicht gesehen[60] zu werden von meinen Mitschülern, wenn ich Brote vom Bäcker holte, die sie dort selbst hatte backen lassen. Wenn ich revoltierte und sagte: »ich will nicht«, dann sagte sie befehlerisch oder sanftmütig, je nachdem mein Zustand es erforderte, damit ich gefügig würde: »Unsinn, die andern wären froh, wenn sie das auch tun dürften.« Das Brotholen war aber eine schwierige Arbeit. Drei Brote konnte ich nicht in die Tasche stecken, um sie bei ge legener Zeit zu verbergen. In der Schule war ›selbstgebackenes Brot‹ ein beliebter Artikel, nur mir behagte es nicht. Aus Ersparnis rührte meine Tante den Teig an, knetete ihn, formte ihn und trug ihn dann selbst zum Bäcker. Das Einzige, was sie mir nicht recht zutraute. Es wurde eine große Signatur H mit'm Kranz in das Brot geritzt, damit es zu unterscheiden war, dann durfte ich sie fertig gebacken holen. Der nächste Weg war an meinem Gymnasium vorbei. Dann wollte sie selbst die Kosten für das Backen der Brote ersparen, und da grade Winter war, steckte sie auch das Brot in den Ofen, damit es dort backen sollte. Die Folge war, es blieb roh und ungenießbar. Sie gab es dann an einen Bettler oder an einen armen Menschen, der neben dem Sparen auch noch seine Gesundheit dransetzte, und so wurde ihr das Brot teurer wie beim Bäcker.

Der Fritz, ihr Sohn und früher ›mein kleener Fritzke‹, war ein Maschinenbauergesell in der Fabrik Union geworden. Wenn er zu Hause war, nörgelte er unzufrieden an allem Tun der Tante herum und sagte hochtrabend: »um sich greifen muß man«. Sie zuckte dann nur die Schultern und dachte sich ihr Teil dabei. Aber sie mochte sich manches in[61] ihrem Kopf herumgehen lassen. Der Wert der Häuser war im Steigen. Die Mieten der Wohnungen wurden sehr teuer; deshalb dachte sie die ›Lucht‹, wo ich früher nach meiner Heimat gesucht hatte, in eine kleine bewohnbare Mansardenwohnung umzubauen. Aber wenn der Sohn Fritz unter ›umgreifen‹ etwas andres verstand, verstand sie es doch, diesen Umbau auf das Billigste zu bewerkstelligen. Den billigsten Maurer nahm sie natürlich. Der aber sagte, es kostet alles viel Geld: Ziegel, Mörtel, Sand usw. Mörtel? dachte sie. Ja! natürlich, der Sand müsse gereinigt werden; es beansprucht doch alles Zeit.

Ihr aber fiel ein, am Wasser in ihrer Nähe ist ja doch ein Neubau, und abends in der Dunkelheit, wenn wir nach 10 Uhr den Sand holen gehen, so ist er sogar gereinigt und so darf er nur angerührt werden. Deshalb band sie eine große Schürze um und mir ebenfalls eine solche, und dann schlichen wir zu jenem Neubau, wo ein stattlicher, schön gesiebter Sandhaufen prangte. Wir den Sand in die Schürzen und schnell nach Hause, immer längs dem Pregel entlang in den kleinen Hof, welcher unter dem Balkon lag. Sie wagte es, noch mehr zu holen. Aber ihr Schrecken: eine deutliche Sandspur verfolgte den ganzen Weg von Anfang bis zu Ende. In meiner Schürze war ein großes Loch, aus dem der Sand gesickert war. Ich weiß nun nicht mehr, ob sie es dennoch wieder gewagt hat nochmals zu holen oder die Spur durch Verscharren vorläufig zu vernichten. Mit wieviel mehr Recht hätte die Mutter bei diesen Manipulationen wohl sagen können: »De Lun hewt gestoahln!«

Mit dem Lernen und den Fortschritten in der Schule[62] haperte es selbstverständlich bei derartiger Erziehungsmethode mächtig. Mein natürlicher Verstand reichte grade bis Quarta. Sexta und Quinta ging regelmäßig die Versetzung vor sich. Aber der Ordinarius von Quarta war bereits so verrufen, daß selten einer mit dem einen normalen Jahr diese Klasse absolvierte. Der Klassenlehrer war Oberlehrer Weyl, ein verbissener und mürrischer Menschenfeind. Ich hatte das Glück, an dem Gymnasium Lehrer anzutreffen, die lauter Originale waren. Die Interessantesten waren gleich in Sexta die beiden Cholevias, Vater und Sohn; der Sohn war spindeldürr und machte linearartige Bewegungen, seine Rede auch korrekt und gemessen. Wir spielten ihm auf der Nase herum. Wie es vorkommt, hatte er bei seiner versteckten Feigheit ein weitgehendes Rachegefühl, das sich äußerte in dem Anpetzen von unfolgsamen Schülern. Er hieß bei uns der Storch. Der Vater war eminent dick, seine hängenden Wangen ruhten in weißen weichen Vatermördern. Er grunzte, wenn er sprach; er stöhnte, wenn er sich auf das Katheder wälzte. Er hatte hauptsächlich die deutsche Sprache und die Dichter zu explizieren. Die Schüler nannten ihn Kuggel. Mit diesem Kuggel hatte ich auf Untersekunda genug zu tun. Da Quarta für mich zum Stein des Anstoßes wurde, so will ich auch dabei etwas länger verweilen. Hier lernten wir fremde Sprachen, von denen meine Tante keine Ahnung hatte. Ihr lag auch mehr daran, daß ich im Keller für sie mit dem Fritz Holz sägte. Mit der Zeit lernte ich es gut. Außerdem mußte ich immer früher aufstehen, denn meine Tante liebte das Langschlafen. Ich[63] mußte meine Stiefel wichsen und den Kaffee bekam ich regelmäßig zu heiß, daß ich ohne Frühstück in die Schule ging. Nur später hatte ich den Kaffeetopf abends im Winter in den warmen Ofen gestellt, manchesmal friedlich neben dem Brot, was sich selbst fertig backen sollte, und dann versuchte ich morgens diesen aufgewärmten Kaffee zu trinken. Aber leider er war mindestens so übernächtig wie ich. Anstatt die Lebensgeister anzuregen, flaute er sie ab, denn zuerst mußte ich die braune Haut, welche wie eine Eisdecke über einem halbeingetrockneten Sumpf lag, abnehmen, und dann der Geschmack brrr! des aufgewärmten Getränkes. Dagegen wenn die Eltern herkamen um nachzusehen wie es mir ginge, war eitel Freude, die Stube geschrubbt, was ich auch lernen mußte, und mit Tannen ausgestreut. Die Tante brachte ihre Witze, ich, von ihr gelobt – was sollte mir denn nicht gefallen? – Herrlich gebratene Karbonade, und abends versprachen sie mir, in das Theater zu gehen. Der Zirkus aber war meine Leidenschaft. Zwar war ich auf dem allerhöchsten und allerletzten Platz. Die Barriere vor mir reichte mir über die Nase, so daß ich nichts hätte sehen können, wenn nicht ein mitleidiger starker Mann mich auf die mächtigen Querbalken gesetzt hätte, auf welchen das Gebäude gestützt wird. Hier saß ich nun in schwindelnder Höhe und übersah alles. Die kleinen Zwerge und von allen der kleinste, wie er immer größer und größer wurde. Das Pferd, welches sich von einem andern bedienen läßt, an einer Flamme leckt und ein Schuß losgeht. Aber mitten in dem Schauen wurde mir auf meiner Höhe so beklommen zu Mute, wie[64] man im Angstgefühl den Lehrer bitten möchte, herauszugehen, aber wie herunter kommen, wie meinem unbekannten Freunde sagen, er möchte mich herunternehmen, und nachher kam mir der Gedanke wohin? Ich rieb meine Hosen, welche an den Beinen schon ganz heiß wurden und dann ließ ich mich gehen. Mein Vater ging in das Theater, für mich war das ein unbekannter Begriff. Meine Tante riet natürlich Galerie und recht früh hingehen, so bekäme man einen schönen Platz beinahe wie ›Am Vieh‹ [amphi]. Ich amüsierte mich nicht so gut wie im Zirkus. Meine Tante erzählte mir noch vieles über das Theaterspiel und seine verschiedenen Arten. Das feinste wäre das Trauerspiel, aber keine Opern! z.B. Don Schuan oder der steinerne Gast hätte sie einmal gesehen. Nichts Langweiligeres kann man sich denken. Weiter hört man nichts wie: »ja!« »nein!«, »ja!« »nein!« Dann war meine Mutter und Tante aber, nach dem Theater ermüdet, mit einer der wenigen Droschken nach Hause gefahren, nicht ohne vorher den kleinsten Preis ausbedungen zu haben. Zu Hause angekommen zog aber der Kutscher andere Saiten auf; den Tarif in der Hand behauptete er fest, er wolle sein gesetzlich Bestimmtes haben, widrigenfalls sie sehen sollten, außerdem wäre jetzt die Nachttaxe. Eingeschüchtert zahlten sie dann, was er haben wollte und verzogen sich eiligst in das Haus. Das waren die wenigen Male, wo meine Leute zu Nacht blieben. Wenn sie vielleicht genauer mein Leben inspizieren wollten, so gingen sie in dieser Absicht fehl.

Stolz war meine Tante auf meinen feinen Verkehr, sie konnte es meinen Eltern jeden Augenblick beweisen, daß[65] ich von Hof zu Hof mit den Jungens vom Justizrat Matzen intim verkehrte. Das stellte weit in den Schatten den von meiner Mutter so sehr gehofften Verkehr mit den Herrschaftskindern im Blumengarten.

Ich aber empfand noch etwas anderes, wenn ich mit der Mutter jener Jungens in der Stube zusammen war. Sie saßen um einen Sack mit Schokoladenabfall gefüllt und aßen diesen nach Herzenslust. Ob meine Blicke allzu begehrlich waren, jedenfalls sagte einer von ihnen kauend und lutschend: »Nimm doch auch was, Corinth!« Ihre Mutter aber sprach von oben herab: »Ach der ißt so was nicht.« Während alle mich wie einen Wundermann anstarrten, mußte ich gezwungen lächelnd meinen Widerwillen zugeben und so ging auch dieser Genuß für Reiche für mich verloren.

Zu jener Zeit war es auch, als die Stadt Königsberg häufig von der Königsfamilie heimgesucht wurde. Zuerst kam der Kronprinz, nach einigen Jahren der Kronprinz und der alte König Wilhelm I. Im Börsengarten am Schloßteich wurde ein herrliches Fest, eine italienische Nacht projektiert. Der Börsengarten sollte von unzähligen Lampions und Feuerwerk erleuchtet werden, auf dem Schloßteich sollten die Gondeln ebenfalls reich mit Lampions geschmückt, herumfahren und vor allen Dingen das Schiff, welches den König und den Kronprinzen fuhr. Über den Schloßteich führt eine ganz schmale hölzerne Brücke, an die kein Mensch dachte. Meine Tante, welche sehr für derartige Aufzüge war, ging mit mir hin. Auf der alten hölzernen Brücke standen natürlich tausend Neugierige und[66] darunter wir. Die Schutzleute schrieen durcheinander: »Nicht stehen bleiben!, weiter gehen!« Es half aber nichts, die Menge brach durch das Geländer und stürzte in das Wasser. Wir mitten auf der Brücke. Aber meine Tante verteidigte mich wie die Löwin ihr Junges. Sie stemmte mich mit aller Kraft nach der Landseite und endlich auf festem Lande atmete sie auf und fing an, sich zuerst für das Geschehene zu interessieren. Es war still auf dem Teich, die Lichter waren ausgelöscht. Da lief sie schnell zum Schloß mit mir, wo wohl die Rückfahrt des Königs sein sollte. Wir kamen mit den königlichen Wagen zugleich an. Es war ein spärlicher Ring von Zuschauern, aber alles ganz still. Der König mit seinem Sohn stiegen eiligst aus dem Wagen und eilten die Treppe hinauf. Ein Schutzmann forderte auf: »Kinder, schreit doch Hurra!« Aber nur einzelne verzagte kleinlaute Stimmen trauten sich heraus. Dann ging man am späten Abend zu Bett mit einer Erfahrung reicher im Leben.

Den nächsten Morgen erfuhr man, daß viele Menschen ertrunken seien, außerdem war das Telegramm an allen Ecken angeschlagen, welches der alte König an die Königin nach Berlin gesandt hatte. Nicht ohne daß zum Schluß der gütige Gott als Trost angerufen wurde.

Im Sommer zu den großen Ferien kam meine Tante mit mir zum Besuch meiner Eltern. Wir wurden feierlich empfangen. Nach alter Sitte wurde gleich alles Eßbare aufgetragen. Es war natürlich sowas für mich, der ich ordentlich ausgehungert war. Da stand eine ganze Schüssel mit Schmandsalat und viele harte Eier daraufgelegt.[67] Ich nahm sofort die Eier, soviel ich erlangen konnte. Meine Tante wollte wohl zeigen, wie ich mich benehmen könnte und tadelte und verbot das eilige und gierige Essen. Meine Mutter, die sich freute, wie es mir zu Hause schmecken sollte, fertigte sie kurz ab: »Awer loat em doch.« Nun nach diesem Ausspruch zeigte ich zuerst, was ein ausgehungerter, zehnjähriger Junge leisten konnte, wenn zu Hause ihm alle Fleischtöpfe Ägyptens vorgesetzt werden. Die Tante blieb nur einige Tage und fuhr dann nach Königsberg.

Die Zerstreuungen, welche ich in den großen Sommerferien mir leisten durfte, waren das Schönste vom Leben. Ich wurde ein halber Landwirt. Die Getreidearten reiften. Der Rips wurde gemäht und die Tagelöhner machten sich nachher daran, die Leiterwagen in lange Austwagen zu vergrößern. Ein Plan aus starkem Segeltuch wurde untergelegt, damit das ganze Fuder Rips damit umgelegt werden sollte. So konnten keine Körner der allzureifen Schoten herausfallen und wurden mit flinken Pferden in die Scheunen gefahren. Auf dem Felde fing meine Arbeit an, ich schwang mich auf das Sattelpferd und fuhr von einer Hocke zur andern, während der Knecht und die Tagelöhner aufluden. Nachher kam aber das Schönste: das Ripstrampeln. Es ist das Biblische vom Ochsen, der da drischt. Ich als der Leichteste schwang mich auf das Pferd, nahm eines an der Hand und so überklimmten wir die mannshoch geschichteten Ripshaufen, welche, mit der Zeit immer niedriger heruntergetreten, allmählich aus gedroschen wurden.

War der Sommer trocken und heiß, so reiften Roggen, Weizen und Gerste sehr schnell aufeinander. Es kam vor,[68] daß ich tagelang nicht aus dem Sattel kam. Dabei war ich fast unentbehrlich, und ich stand meinen Mann. Denn zur Zeit der Ernte wurde jeder, auch der schwächste Arbeiter gebraucht. Weil das Wetter umschlagen konnte, war Schnelligkeit die Hauptsache. Die Mäher fingen vor Sonnenaufgang an; ich hörte wie sie rühmten, daß der Morgentau die Halme steif und fest mache, so daß das Mähen sehr viel erleichtert werde.

Die Zeit verging nur zu schnell, wenn auch die Ferien um zwei Wochen verlängert wurden, weil die Cholera ausbrach. Aber jetzt drohte der Krieg mit Frankreich. Es wurde darüber viel gesprochen. Die Männer wurden ernst, denn es war möglich, daß manche gar nicht aus den Kriegen herauskamen. In dem Städtchen gab es viele, die den schleswig-holsteinischen Krieg, den österreichischen mitgemacht hatten und nun winkte gar der französische. Mein Halbbruder August mußte auch mit. Die Einzigen, welche einen Krieg von der romantischen Seite auffaßten, war der weibliche Teil der Bevölkerung. Die einäugige Emilie sprach viel von der Galanterie der Franzosen und wünschte gern einen solchen Feind in ihrer Nähe zu haben. Unser schönster Fuchs sollte eben falls zur Remonte ausgehoben werden. Deshalb durfte er im Stall stehen und sich mästen, wenn die andern fünf ihre schwere Erntearbeit zu überwinden hatten.

So fuhr ich eines Tages mit meinem Vater, als der Fuchs hinten an den Wagen gebunden wurde, nach Wehlau auf den Remontemarkt. Die Kommission konnte aber das Pferd nicht gebrauchen. Das ärgerte natürlich meinen[69] Vater, welcher glaubte, ein schönes Stück Geld mit dem Verkauf des Pferdes zu verdienen. Mißmutig fuhr er dann wieder heim, aber ringsherum wimmelte es von betrunkenen Ausgehobenen. Es war besser, diesen, welche Händel suchten gegen die, welche zu Hause bleiben durften, aus dem Wege zu gehen. Überall trafen wir diese halbwegs Verzweifelten. Auch nach Königsberg war es schwierig zur Schule zu gelangen, da die Züge ebenfalls von Soldaten angefüllt waren. Als ich endlich eintraf bei meiner Tante, hatte sie als Hauseigentümerin die ganzen Stuben voll von einquartierten Landwehrleuten. Das schlechte Quartier machte diese Menschen nur noch griesgrämiger. Aus ihrer Beschäftigung herausgerissen, jammerten sie, warum es nicht gleich gegen den Feind ginge, da doch der König rief. Auch der kleine Fritz war aus Rußland zurückgekommen, wo er nach seiner Methode des ›Umsichgreifens‹ einige Jahre gearbeitet hatte. Er mußte aus Petersburg sich stellen. Betrunken kam er des Nachts nach Hause und zeigte den einquartierten Soldaten seine Manschetten als Ausweispapiere. In den Straßen brauste die ›Wacht am Rhein‹. Züge von Kürassieren und allen übrigen Regimentern, die in Königsberg standen und sich jetzt noch auf Kriegszahl ergänzt hatten, wurden in den Eisenbahnen nach der Grenze verladen. Endlich hörte dieser den Einwohnern unentwirrbar erscheinende Wirrwarr auch auf, und desto empfindlicher empfand man die Einsamkeit in den Gassen.

Nach einigen Tagen kam dann die erste Siegesnachricht der Schlacht bei Weißenburg und Wörth und schnell vollendete sich die bekannte Geschichte des französischen[70] Krieges. Im Winter kamen die ersten französischen Gefangenen und selbst Tapiau war angefüllt von einer verhältnismäßig großen Anzahl Gefangener. Vor dem Magazin, wo sie untergebracht wurden, standen dann wartend auch eine ganze Zahl junger Weiber, die wohl nach der Galanterie der Feinde neugierig gespannt waren.

Mit der Zeit trat dann die Gewohnheit in ihre Rechte: die Arbeit, auch der Streit im Hause. Außer dem August waren meine anderen Halbbrüder zu Hause geblieben. Sie hatten Liebeleien angezettelt, welche gegen den Willen meiner allzu herrschsüchtigen Mutter waren. Außerdem richteten sie ihre eigne Unzufriedenheit gegen mich, welchen sie beneideten um die hohe Schule, die ich besuchte. Wenn ich nun zu den Ferien heimkehrte, erlebte ich oft Zwistigkeiten, gegen die, die ich bei der Tante gegen den verstorbenen Onkel gesehen hatte, nichts waren. Meinen Vater nannten sie Eindringling, und er konnte leicht besser wirtschaften, »weil er ins Volle hineingekommen war«. Bisweilen traten Ruhepausen ein, dann wurden die Füchse gesattelt, und dann nahmen sie mich mit, dem sie im Grunde genommen sehr zugetan waren, und dann ritten wir als stolze Kavalkade durch die Straßen des Städtchens. Ich erhielt das tückischste Pferd: ›den kleen Voß.‹ Mit diesem war ich auch fast aufgewachsen. Das Pferd verstellte sich und gewann den Leumund als das sanfteste und zuverlässigste Geschöpf. Aber kaum war ich im Sattel, als es schon anfing zu bocken und Sprünge zu machen. Ich durfte aber zu Hause nichts sagen, wodurch das Pferd noch in seiner Verstellung bestärkt wurde. Dann aber mit aller Energie[71] und dem Gedanken »er oder ich« drückte ich die Beine mit aller Kraft an das Pferd und ich blieb zu seiner und meiner Verwunderung oben. Von da hatte ich gewonnen, denn von nun an gehorchte es mir wie jedem andern.

Während ich all diese Begebenheiten schilderte, war ich Quartaner von vier Semestern. Der Ordinarius von Quarta, der Menschenfeind, hatte mich das erste Jahr gehaßt, dagegen im zweiten Jahre ebenso ohne Verdienst protegiert. In allen Fächern wurde ich nach reifster Absitzung der Klasse ein angehend guter Schüler. Aber ich muß gestehen, ich war ebenso unzulänglich wie die Jahre vorher. Ich bekam eine Routine im Abschreiben, und da ich Glück hatte, befähigte Schüler als Nachbarn zu haben, so wurde ich von derselben Qualität wie meine Umgebung geschätzt und tummelte mich herum als einer der Ersten auf der ersten Bank, als wenn ich nie anderwärts hätte sitzen können.

Eine Episode aus der Singstunde wäre noch zu erwähnen, welche auf meine Anlagen ein charakteristisches Licht warf. Der Lehrer, welcher die Singstunde überwachte, war ein Musikdirektor Pabst. Nach meiner Erinnerung hatte er eine Oper ›Die letzten Tage von Pompeji‹ komponiert. Er schlief natürlich aus Langerweile nachmittags ein. Da wachte er plötzlich auf und fragte mich, der ich grade ihn abzeichnete, nach irgend einer Tonleiter. Ich drehte das Papier mit seinem Porträt um und leierte irgend etwas herunter. Dann besah er die Kritzeleien und es regnete Ohrfeigen. Darauf wachte er wohl zuerst aus seinem Schlafe auf und besah die andere Seite, wo sein Porträt[72] war. Er lachte amüsiert und fragte mich, was ich werden wollte. Ich antwortete darauf Soldat, denn dieses Metier war grade bei mir an der Reihe. Darauf er: »Jung, werde doch Porträtmaler«, faltete das Papier zusammen und steckte es in die Westentasche. Noch nie waren mir Ohrfeigen so angenehm gewesen wie heute.

Als Zweiter wurde ich nach Untertertia versetzt, wo es bald wieder erkenntlich wurde, welch schlechter Schüler ich blieb. Auf Tertia b hatten wir das seltenste Original, welches es in der Schule je gegeben hat: Dr. Knobbe mit einer Riesennase und von kleinster und magerster Statur. Bei uns Schülern ging die Sage, die Eltern seiner Frau hätten in die Zeitung gesetzt, daß der häßlichste Hauslehrer gesucht werde. Als Dr. Knobbe sich meldete, wurde er zu Gnaden angenommen; nichtsdestoweniger verliebte sich die Tochter dennoch in ihren Lehrer und sie heiratete ihn.

Er hatte Geometrie und Hebräisch. Er tummelte fleißig den Pegasus; im französischen Kriege war er natürlich begeistert und dichtete so manches Poem, was seine Schüler zum Beliebtmachen lernen mußten, z.B.


»Wir preußischen Ulanen, wer kennt uns nicht?

Wir sind berühmt in der Kriegsgeschicht',

Wir führen ein Fähnlein schwarz und weiß,

Wenn das der Franzos sieht, dann wird ihm

gleich heiß.«


In der Algebra machte er viele Merkverse zur Erklärung der Rechenkünste, z.B.[73]


»Gleiche Zeichen geben plus,

Ungleich aber stets minus.

Dieses man sich merken muß,

Sonst gibt es gar viel Verdruß.«


Während des Friedens mit Frankreich hatten wir andre Maße und Gewichte bekommen; auch deshalb zupfte Dr. Knobbe begeistert die Harfe:


»Der Daumen mit der Maus

Macht einen Dezimeter aus.«


Kolossal empfänglich war er für Schmeicheleien. Dieses »um den Bart gehen« war für strebende Schüler ein gefundenes Fressen. In seinem Notizbuch hatte jeder Schüler seine Merkmale, bestehend in Strichen, Nullen und Schlangenzeichen. Ließ er das Buch auf irgend einer Bank in seiner Zerstreuung liegen, so raffte es ein findiger Schüler an sich und füllte es mit Strichen an. In den Rechenstunden ging es folgendermaßen zu: Man rechnete und er klappte mit dem Lineal als Zeichen, daß alles zu Ende sei. Die Federn fortgelegt, las ein Aufgerufener das Resultat vor. Die ganze Klasse brüllte: »richtig!« und je lauter gebrüllt wurde, desto richtiger war es. Viele Jungens hatten einen kleinen Schummelstift im Ärmel verborgen, womit sie nach seinem Klappen ruhig das Resultat hinschrieben.

Auf eine gute Handschrift hielt er sehr viel. Ich hatte die Naturgeschichte eines Schwanes vor der Stunde in fünf Zeilen, aber schön geschrieben, abgetan. Da noch Zeit war, hatte ich auch einen lebensgroßen Schwanenkopf gezeichnet.[74] Das gefiel ihm so, daß er weiter auf den Sinn des Geschriebenen gar nicht achtete und mir versprach mich zu protegieren. Sein Notizbuch füllte er dann mit vielen anerkennenden Hieroglyphen aus.

Am Sonnabend hatte er Religionsstunde und schrieb zu gleicher Zeit die Sittenbücher aus. Wenn ein Schüler sich vergangen hatte, so strafte er ihn, indem er mit dem Kantel auf seine Fingerknöchel schlug; so vermischte sich sein Wehgeheul mit einem andern Aufgerufenen, welcher das Kirchenlied deklamierte: »Ach bleib mit deiner Gnade bei uns, Herr Jesu Christ« etc. Er hielt aber sein Versprechen mich zu protegieren, denn nach einem Jahr wurde ich nach der Obertertia versetzt. Natürlich hatten auch Privatstunden, welche ein Student mir erteilte, vieles dazu beigetragen, denn mein Vater hatte dieses sein Steckenpferd immer weiter geritten. Wenigstens war diese Versetzung ein letzter Trost für meine schwerkranke Mutter.

Sie lag fiebernd da und sah mich lange an, als wenn sie meine Zukunft ergründen wollte.

»Bis du zwanzig wirst, möchte ich doch noch erleben«, sagte sie mit ernster Miene.

Dann starb meine Mutter, als ich dreizehn Jahre alt war. Den Tod beobachtete ich mit der neugierigen Schärfe, welche den Kindern üblich ist. Die Ärzte rieten, falls noch Einzelheiten im Leben abzumachen wären, würde es jetzt die Zeit sein. So war ich auch bei dem Abschluß eines Testamentes zugegen, welches sich um die Erbberechtigung ihrer Kinder aus erster Ehe handelte. Eine Mißstimmung gegen diese Kinder, welche sich gegen ihren[75] Befehl erhoben hatten, bestimmte sie, ihr Vermögen auf Pflichtteil zu setzen. Das einzige Schriftstück meiner Mutter, welches ich unter den Papieren meines Vaters vorfand und zeigte, wie es ihm immerhin wichtig gewesen sein mag, will ich korrigiert in Schrift mitteilen, um zu zeigen, wie hart es in unserem Hause bei Alt und Jung zuging: »Mein Sohn, Du verlangst Antwort auf Dein Schreiben, um geholfen zu sein. Das ist ein unbilliges Verlangen. Du weißt, daß August und Marie da ist und die wollen auch. Du wärst ein guter Wirt, keine Unglücksfälle und in einundeinhalb Jahr so verwirtschaftet! Das hat nichtstun – nur leben. Soviel verbraucht ein Rat nicht als Du; und die Jahre, die ich gewirtschaftet habe, wieviel müßte ich brauchen. Das kränkt mir – nicht allein, daß Du noch den Julius dazu verführt und noch eine Person zugeheiratet. Der eben so wird. Wenn er allein war und sich ordentlich führt, könnte doch von ihm was werden; auch August war so, wenn er Euch gefolgt hätte. Aber wo kann das langen, wenn Du Leute von der Straße aufnimmst. Lohn, Essen und Trinken gibst, um Dir Schlechttaten auszuüben. Du hast Julius mit mir zum Prozeß zugeredet und von Dir erwarte ich auch noch einen Deiner Gläubiger. Die warten auch alle. Und wieviel Schulden noch? Dann hätte ich man immer zu geben. Du hast die Welt so ver ... [das Wort undeutlich]: Ihr habt das alles von Euch; warum könnt Ihr denn nicht? [die Zeile undeutlich]. Aber leider! Wer Eltern nicht horcht, meinen Rat wohl nicht folgen!«

»Das kann nimmer gut enden mit dem Jungen«, höre ich sie murmeln, mein aufmerksamer Leser. Dasselbe habe ich[76] auch selbst bereits zu jenen Zeiten gedacht, wie der nebenstehende Brief beweisen mag.

Um Alles aus meinem kleinen Leben zu erklären, daß es möglich war mich in eine derartig ungenügende Pension unterzubringen, ist es nötig, auf die Verhältnisse und die Charaktere meiner beiden Eltern näher einzugehen:

Vater wie Mutter waren ostpreußische Autochthonen, arbeiteten und sparten den Pfennig zum Gulden und zum Thaler. Seit Generationen hatte sich Enthaltsamkeit und eiserner Fleiß nebst einem ausgesprochenen Eigensinn und Sucht nach Erwerb entwickelt.

Der Vater meines Vaters war Bauer, der wohl in die Pregelniederung gezogen war, um neues Land zu kolonisieren. Der Vater meiner Mutter war ein Tapiauer Schuhmachermeister und Besitzer mehrerer Häuser in der Altstraße von Tapiau. Sie hatten es zu einer bescheidenen bürgerlichen Wohlhabenheit gebracht; im Pferdestall stampften sechs Füchse, Kühe, Kälber, Schafe und Schweine waren da nebst der gehörigen Anzahl von Hühnern und Enten. Charakteristisch ist unter anderm auch, daß von den fünf Söhnen, welche mein Großvater väterlicherseits hatte, drei von ihnen Witwen geheiratet hatten. Ob eine Convention vorherrschte, um zu Besitz zu kommen, möge dahingestellt sein, wenigstens warfen dieses meine Halbbrüder häufig im Zwist meinem Vater vor.

Eine ›gute Kinderstube‹, wie Bismarck von der seinigen rühmte, gab es nicht bei uns.

Bei uns wurde nur plattdeutsch gesprochen und alle Menschen, welche uns umgaben, waren von der primitivsten[77] Schulbildung. Gemäß dieser Umgebung konnte in mir, da noch außerdem in mir ein eigensinniger Charakter steckte, von keiner ›Weltbildung‹ gesprochen werden. Ja es wurde mir selbst vor den ärmeren Kindern erschwert, weil das harte Muß sie wenigstens schmeicheln lehrte und Unterwürfigsein gegen die Vornehmeren. Wir fußten auf dem Bewußtsein, eine höhere Stellung vor anderen voraus zu haben und Ehrfurcht und Unterwürfigkeit fühlten wir nur vor Beamten und Soldaten. Im Grunde unseres Wissens und durch die Einbildung unsrer Stellung, war ein deutlicher Stempel vor unsrer Stirn, der besagte: »gegen uns kann keiner!«

Der instinktive Trieb nach seelischer Verbesserung lag in meiner Mutter, wenn sie mich antreiben wollte: »Jung goah im Bloomegade bi de Herrschaftskinder.« Der Jung ging aber nicht dahin, und ihr wurde es bald darauf auch gleichgültig. Viel gewonnen hätte ich wohl doch nicht, ob ich den Verkehr mit Kaufmannskindern, Bürgermeisterskindern gepflegt hätte, oder ob ich mit Tagelöhnerskindern von uns oder den Jungens vom Nagelschmied Schöntaub oder vom Fleischer Pommer, Christenat 6, befreundet wurde.

Mein Vater, der nur die Dorfschule besucht hatte, aber eine große Intelligenz besaß, suchte sein höchstes Streben darin, seinen Jungen in die beste Schule zu bringen. Das Übrige, z.B. wie ich dort untergebracht war, war ihm vollständig gleichgültig. So kam es, daß ich vom neunten Jahre an in das Kneiphöfische Gymnasium in Königsberg kam.[78]

Von einer Pension für den Jungen hatte niemand einen Begriff. Er gipfelte in dem Spendieren an diejenigen, welche mich aufgenommen hatten, von einem oder mehreren Sack Kartoffeln und Weihnachten Geschenke von mehreren Enten nebst Schwarzsauer. Daß sie ein Verpflegungsgeld entrichteten, war ihnen natürlich selbstverständlich. Wo konnte ich denn nun besser untergebracht werden als bei der jüngeren Schwester meiner Mutter.

Diese Tante hatten wir in Tapiau seit vielen Jahren gar nicht mehr gesehen und es ist gar nicht unmöglich, daß sie meinen Eltern ganz aus dem Gedächtnis gekommen war. Bei ihr lernte ich Arbeit und die gewöhnlichsten Hausdienste wie Brotholen, ein Pfund Muschkabade etc.

Solange ihr Mann, welcher Schuster war, noch lebte, war sie gezwungen wenigstens seinetwegen und des Gesellen wegen eine gewisse Würde in der Haushaltung zu bewahren. Als er aber nach einigen Monaten seit meiner Ankunft starb, wurde der ganze Haushalt aufgelöst und ihr ganzes Naturell kam zum Vorschein. Geiz mit seinen Lastern im Gefolge. So war meine Erziehung die denkbar gefährlichste.

Aber wenigstens das Leben lernte ich gehörig kennen und zwar nur einen ausgesprochenen Teil des Lebens: das Proletariat – die Freundinnen der Schlafstellerin, Wahrsagefrauen, Armenvorsteher zur Kontrolle, und viele andere Menschen, welche mir interessanter erschienen als die konventionellen Gesichter, welche man überall sehen konnte, kamen in unsere Wohnung – daß es für mich äußerst gefährlich ausschlagen konnte, lag auf der Hand.[79] Schon hatte die Schule in mein Zeugnis gesetzt und später hörte ich es auch von meinem Vater, daß sie an ihn geschrieben hätte, daß ein Wechsel der Pension dringend zu wünschen wäre. Ich machte mir selbst viele Sorgen darüber, aber wie ich bereits früher geschrieben habe, reizte mich der groteske, dämonische Humor meiner Tante, was nicht zu verachten war. Für die Schule brauchte ich nichts zu lernen. Ich schnurrte Vokabeln herunter und sagte, das wäre die lateinische Schularbeit. Mit dem Übrigen ging es ebenfalls auf dieselbe Weise. Da sie nichts wußte, so glaubte sie alles aus Bequemlichkeit. Auch in die Kneipe stahl ich mich, wo wir eine geheime Verbindung hatten. So fehlte nichts und alles war darauf eingerichtet, mich zu vernichten, und dennoch geschah es nicht. Ich kann nicht anders sagen: »ich habe ein fabelhaftes Glück gehabt«, oder ein gütiges Schicksal meinte es gut mit mir, was beides wohl ein und dasselbe ist.

Im September 1916 besuchte ich wieder meine Heimatstadt Tapiau. Als Künstler war mein Ruf bis in jenen Winkel gedrungen und nun durfte ich nicht allein mit Herrschaftskindern verkehren, sondern Bürgermeister und Stadträte suchten eine Ehre darin mit mir zusammen zu sein. Einige aus der Jugendzeit waren gestorben, aber auch andere hatten sich in ihrer Art emporgeschwungen und tauschten viele Erinnerungen, welche sie mit meinen Eltern gehabt hatten, aus. Ein Herr Glaubitz rühmte sich, vielfach als Kind mit meiner Mutter gesprochen zu haben. Einstmals hatte sie ihm mitgeteilt, daß ich in der Schule einen Lehrer gezeichnet hatte; zuerst erhielt ich eine[80] Tracht Prügel und dann, als der Lehrer die Karikatur betrachtete, erhielt ich ein sehr großes Lob. In jenem Augenblick, als er mir das erzählte, war es mir nicht anders, als wenn ich einen Gruß aus dem Jenseits erhielt.

Gerade diese Szene war zwischen uns ein Geheimnis wie das Bett des Odysseus und der Penelope gewesen. Dieses war eine entschiedene Wahrheit, woran ich nicht mit meiner argwöhnischen Natur zweifeln konnte. Es war mir die schönste Ohrfeige gewesen, welche ich in der Schule einstecken mußte, und ich sehe noch heute das schmunzelnde Gesicht des Musikdirektors Pabst – denn ein gewöhnlicher Lehrer war er nicht – wie er schmunzelnd das Papier in die Westentasche schob und mir riet, doch lieber Maler zu werden. Von da ab versuchten die anderen Schuljungens in der Gesangstundes den schlafenden Musiklehrer immer zu karikieren, – aber nicht mehr mit demselben Erfolg. –[81]

Quelle:
Corinth, Lovis: Meine frühen Jahre. Hamburg: Claassen, 1954, S. 11-83.
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