Hummelshayn

[177] Von dem Städtchen Kahla aus, wo wir Mittag gemacht hatten, führte unser Weg unausgesetzt durch Hochwald, der die Aussicht erst dicht[177] vor dem Ziele unserer Reise freigab. Wir fuhren durch das wohlgelegene Dorf nach dem herzoglichen Schlosse, welches Herr von Ziegesar als Amtswohnung innehatte, und wurden von diesem aufs beste empfangen. Die Tante freilich fanden wir nicht. Sie war bei einem Besuche am weimarischen Hofe gewissermaßen auf dem Herzen der Erbgroßherzogin gestrandet. Diese hatte die Freundin nicht entlassen wollen, und es sei da nichts zu machen, wurde gesagt; man müsse warten, bis sie wieder flott werde.

Ich freute mich, daß wenigstens die Kinder zu Hause waren, die uns mit Wohlwollen begrüßten. Sie standen uns an Zahl und Jahren gleich und waren die ersten einigermaßen verwandten Altersgenossen, die wir mit Augen sahen. Der älteste Sohn, Hermann, ging uns zwar eigentlich nichts an, da er aus einer früheren Ehe seines Vaters stammte, doch wurde er als vollgültig mit angenommen. Sein gutes Aussehen wie sein ehrenfestes Wesen gewannen mich auf der Stelle, und auch die beiden jüngeren Geschwister, Otto und Mariechen, ließen das Beste erwarten.

Mariechen lebte noch wie meine Schwester im Kinderparadiese zwischen Traum und Wachen. Sie war jedoch sehr niedlich und lebendig und rühmte sich, daß der Riese Goliath Gevatter bei ihr gestanden habe. Als wir's nicht glauben wollten, fing sie an zu weinen und sagte, es wäre wahrhaftig wahr. Da gaben wir es zu.

Es war ein wahres Vergnügen, sich so anzusehen und miteinander bekannt zu werden. Aber, o wie bedauerten wir die arme Tante, daß sie an dieser Lust behindert war; hatte Hermann doch gesagt, daß sie sich so auf uns gefreut habe. Wir sprachen ziemlich lieblos über diejenigen, die sie zurückhielten, und wie denn Kinder ganz ernstlich von den untunlichsten Dingen handeln können, so entwarfen wir für den Fall, daß sie nicht bald käme, die abenteuerlichsten Pläne gewaltsamer Befreiung. Des Umstandes, daß hierzu scharfe Hirschfänger nötig waren, die von den Jägerburschen geliehen werden sollten, erinnere ich mich noch deutlich.

Unter solchen zum Teil sehr aufregenden Gesprächen durchwanderten und besichtigten wir die Räumlichkeiten des Hauses. Das Hummelshayner Schloß komponierte sich damals aus dem corps de logis oder dem eigentlichen Schloß, das mit seiner altertümlichen Einrichtung für gewöhnlich leer stand, und einem modernen Seitenflügel, den Ziegesars[178] bewohnten. Beide Schloßteile umfaßten mit den dazugehörigen Ställen und Remisen drei Seiten eines weiten steinernen Hofes. Die vierte begrenzte das Staket eines freundlichen Gartens.

In diese Lokalitäten wurden wir Neuangekommenen so eingefügt, daß meine Eltern mit der Schwester einige wohlgelegene Piecen des alten Schlosses bezogen, wir Knaben aber ein erwünschtes Unterkommen in den Mansarden des Seitenflügels fanden, wo die Vettern mit Herrn Bäring, ihrem Lehrer, hausten. Da wir uns alle vier in ein und dieselbe Kammer gebettet fanden, so war die Aussicht auf die Nächte sehr erfreulich, denn Kinder lieben beim Einschlafen die größtmögliche Geselligkeit, weil sie gerade in den Augenblicken, die dem Verluste der Besinnung vorhergehen, am stärksten leben. Auch lärmten und spektakelten wir entsetzlich, warfen uns die Kissen an die Köpfe und pflegten uns erst zu beruhigen, wenn Herr Bäring dräuend eintrat.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 177-179.
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