Ein Blick auf den Vater

[39] Mein Vater war das gerade Gegenteil von seiner Frau, schon nach der äußeren Erscheinung. Zwar waren sie beide, was man schöne Leute nennt; aber wie die Mutter durchweg den Norden repräsentierte, so er den Süden, denn er war brünett mit schwarzem Haar, mit feurigen, sehr dunkelbraunen Augen, und sein schmales, geistvolles Gesicht erinnerte an Spanien.

Der innere Unterschied war dem entsprechend. Die liebe Mutter, zwar unausgesetzt tätig und mit einem Herzen voll warmer Menschenliebe, war dennoch eine verwaltend kontemplative und kritische Natur, überall ihr Richtmaß anlegend, an sich selbst, an andere und vorzugsweise an ihre Kinder. Der durchweg produktive und wenig wählerische Vater konnte dagegen über eigenem Schaffen die Schattenseiten an Menschen und Dingen leichter übersehen und war in der Regel mit jedermann zufrieden, der ihm nicht gerade auf die Füße trat. So übersah er denn auch meist die Sünden seiner kleinen Kinder und zeigte wenig Neigung, die Abnormitäten unseres Verhaltens ernstlich nach Grund und Folgen zu beachten. Zwar wenn er sich belästigt fühlte, fuhr er wohl einmal dazwischen, doch weniger, um uns zu fördern, als sich selber Ruhe zu verschaffen. Im allgemeinen schien er unsere Ausschreitungen mehr von der lächerlichen Seite aufzufassen, und es mag seinem harmlosen, für das Komische äußerst empfänglichen Sinn oft bitterböse angekommen sein, bloß aus Gefälligkeit für meine Mutter jenes bekümmerte Gesicht zu erzwingen, dessen ich oben gedacht habe. Indessen hatten wir Kinder doch einen heiligen Respekt vor ihm, hüteten uns, ihn zu erzürnen, und gehorchten ihm aufs Wort. Es war eben ein anderes Genre von Edukation.

In der Tat, wenn es möglich wäre, willkürliche Wege bei der Erziehung von Kindern einzuschlagen, so fragte es sich, welches Verfahren den Vorzug verdiene, das der Mutter oder des Vaters. Ich genoß inzwischen beides und hätte demnach jedenfalls recht wohl geraten können; aber es sprechen bei der Erziehung noch ganz andere Faktoren mit, das sind die äußeren Lebensverhältnisse, die man nicht machen kann und die sehr häufig gerade da am nachteiligsten influieren, wo sie vorher am günstigsten erschienen.[39]

Mein Vater war als Künstler hochbegabt, und sein eiserner, durch nichts, selbst nicht durch Krankheit unterbrochener Fleiß hatte ihm schon bei jungen Jahren zu einem hohen Grade öffentlicher Anerkennung verholfen. Dazu war er ein Mann von seltener Herzensgüte und von so überaus einnehmendem Wesen, daß ihm trotz seines leicht aufflammenden Temperaments überall, wo er sich zeigte, die Freunde und Verehrer wie Tau aus der Morgenröte geboren wurden. Den Kurfürsten etwa ausgenommen, erschien mir daher mein Vater als der vornehmste und verehrungswürdigste Mann in der sächsischen Residenz, und wenn's ihm einfiel, sich mit mir abzugeben, fühlt' ich mich hoch erhoben.

So war ich denn auch sehr glücklich, wenn ich ihm ausnahmsweise, z.B. an meinem Geburtstag, im Atelier Gesellschaft leisten durfte. Da gab es so viel Herrlichkeiten, Statuen, Bilder, Kupferstiche, alte Knochen, Gliedergruppen, sonderbare Geräte und Stellagen. Ich sah dann der Arbeit zu und durfte fragen, was ich wollte; oder auch der Vater gab mir irgendwas zu meiner Unterhaltung heraus. Dann setzte ich mich kreuzbeinig auf die Diele wie ein Türke und spielte mit zum Teil sehr wertvollen Sachen, oder ich durchblätterte die schönsten Kupferhefte, am liebsten die Raffaelischen Bogen von Chapron, ein Werk, das mit seinen biblischen Objekten die Ähnlichkeit hat, sowohl Kinder als Weise anzuziehen und zu befriedigen.

Adam und Eva, die Arche Noä, die Geschichten der Erzväter und des Moses, diese uralten, ewig neuen Sachen erfüllten mich mit Teilnahme und mit Staunen. Am merkwürdigsten war mir Gott Vater, über der Erdkugel schwebend, nicht nur wegen dieses beneidenswerten Schwebens, sondern ich war auch bemüht, mir seine Gesichtszüge einzuprägen, damit ich wisse, wie er aussähe, wenn ich mein Gebet hersagte.

Da kam mir einst ein sehr natürlicher Gedanke, den freilich, eben wie das folgende Gespräch, mehr das Gedächtnis meines Vaters als das meinige bewahrt hat. Ich fragte nämlich, woher man es denn wisse, daß Gott die Welt erschaffen habe.

Ob ich denn glaube, erwiderte der Vater, daß das Bild, an dem er male, ebensogut auch von sich selbst entstehen könne. »Nein«, – sagte ich, – »du mußt es malen.« – »Nun denn, wenn ein so kleines Ding nicht ohne Meister sein kann, wie sollte da die ganze Welt von selbst entstanden sein?«

Ich wandte ein, ob sie nicht jemand anders gemacht haben könne? Aber[40] der Vater sagte, der Meister sei allezeit größer als sein Werk; wer aber größer als die ganze Welt wäre, könne niemand anders als der liebe Gott sein.

Ein Blick auf mein Bild bestätigte mir die Wahrheit dieser Worte, denn allerdings war Gott hier größer als der angedeutete Kreisabschnitt der Erde, über der er schwebte.

»Wer aber«, – fragte ich weiter, – »wer hat denn eigentlich den lieben Gott gemacht?« Da antwortete der Vater, der sei von Ewigkeit, ohne Anfang und ohne Ende, wandte sich herum und malte weiter.

Diese Worte imponierten mir. Ohne Anfang, ohne Ende! – Ich sah mein Bild genau darauf an und war sehr nachdenklich geworden. Endlich sagte ich – »Das wäre aber eine schöne Geschichte, Vater, wenn wir nun sterben und in den Himmel kommen, und am Ende wäre gar kein lieber Gott da!«

Dafür nannte mich mein Vater einen dummen Jungen, jedenfalls das Gescheiteste, was er gesprochen hatte, und die gelehrte Unterhaltung war zu Ende. Später aber, da er durch Gottes Gnade seinen damaligen Standpunkt überwunden hatte, gestand er, wie jener Kindereinfall, so natürlich aus seiner Deduktion hervorgegangen, ihn in Verlegenheit gebracht, da er nichts anderes enthalten habe als seinen eigenen Hintergedanken.

Glücklicherweise beruht auch unser Glaube nicht auf klugen Folgerungen und Schlüssen, die, wenn sie ihn auch oft bestätigen mögen, ihn ebenso oft auch widerlegen und nach Kant nichts anderes sind als Fehlschlüsse. Ein besseres Zeugnis gibt Gott selbst von seinem Namen auf allerlei Weise, und gerade in jener ernsten Zeit, von der ich schreibe, hat er sich in vieler Menschen Herzen offenbart.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 39-41.
Lizenz:
Kategorien: