Die Konfirmation

[267] Am Palmensonntag war ich früh aufgestanden und hatte die neuen Kleider angezogen, die meine Mutter tags zuvor geschickt. Des Fracks zwar schämte ich mich, weil ich bis dahin nur Jacken getragen hatte, aber weil die jungen Stolbergs in Eskarpins sein würden, sagte Roller, so sei der Frack das geringste, was ich tun könne.

Mich an mich selbst zu gewöhnen, ging ich in den Garten. Es war ein herrlicher Morgen. Die Frühsonne strahlte festlich durch das knospende Gesträuch und funkelte in den geschwollenen Fruchtaugen der Obstbäume. Die Stachelbeeren hatten sich bereits in grüne Florschleierchen gehüllt, die Weiden trugen gelbe Kätzchen, Erlen und Nüsse ihre wunderlich geschwänzten Blüten, die Lerchen tremulierten in hoher Luft, und aus den Wipfeln der alten Linden pfiff die Drossel. Die Natur beging ganz augenscheinlich ihren Geburtstag.

Ich Ärmster aber war im Frack und sollte öffentlich vor der ganzen Gemeinde examiniert werden. Letzteres lag mir besonders schwer im Gemüte wegen des Katechismus, der, wo er nicht in früher Kindheit überwunden wird, schwer ins Gedächtnis eingeht. Ich hätte den Frack darangegeben, wenn ich das Examen losgewesen wäre.

In dieser Stimmung trafen mich Herr Mann und Benzig. Sie sahen in ihren Kniehosen und mageren Beinen auch nicht zum Verlieben aus, doch waren wir allesamt zu feierlich gestimmt, um uns mit Lächeln aufzuhalten. Etwas durchfröstelt von der kalten Morgenluft, überhörten wir uns den Katechismus unter reichlichem Schneuzen und versammelten[267] uns dann mit allen Bauernkindern zum letztenmal in der stillen Stube. Hier trat Roller zu uns im vollen Ornat und führte uns unter dem Geläute der Glocken in feierlicher Prozession über den Kirchhof, zwischen Gräbern hindurch und hinein in die festlich bekränzte Kirche. Mein erster Blick fiel auf das andächtige Gesicht meiner Mutter. Sie war in aller Frühe mit meiner Schwester, Marien und Mariannen ausgefahren und in Hermsdorf abgestiegen, von wo sie mit Graf Dohnas zur Kirche kam. Die Orgel intonierte prächtig, und unter dem Begrüßungsgesange der Gemeinde scharten wir uns um den Altar, welcher mit ein paar hohen Palmenzweigen, einer Spende meiner Mutter, dekoriert war.

Vor uns stand Roller. Es war an diesem Menschen nichts Modernes, nichts Gestutztes und Gemachtes. Er sah wie ein Felsen aus vom ersten Schöpfungstage, wie ein Denkstein aus uralter Zeit. Die feste Gestalt, das unwandelbar edle Gesicht, die ruhige Haltung, die objektive Rede, aus der nicht die Zerrissenheit menschlicher Meinungen, Vermutungen und Gefühle, sondern die majestätische Gewißheit ewig unwandelbarer Wahrheit sprach: das alles hatte etwas Apostolisches. Sein dunkles Auge lag auf uns mit dem Ausdrucke – nicht des Stolzes, sondern der sorgenden Liebe, und als er nun aus der Tiefe seines Herzens zu uns sprach, stahl sich eine Träne nach der anderen über das steinerne Gesicht. Diese innere Bewegung eines Mannes, der seine Empfindung sonst unter Schloß und Riegel hielt, ergriff mich mehr noch als die Worte, die er sagte, und sehr bald fand ich mich so tief eingetaucht in die Feier jener heiligen Stunde, daß ich auf Worte kaum noch hörte.

Zu einigem Aufmerken kam es erst wieder, als ich, kniend auf den Stufen des Altars, meine Hand in Rollers rechter, seine linke auf meinem Haupte, den Segen der Kirche empfing.

»Gibst du dich dem Herrn Jesu mit Leib und Leben zum Eigentum hin?« So fragte mich Roller, und ich sagte: »Ja!« und meinte es aufrichtig und ehrlich.

Darauf sprach er weiter: »Selig sind, die reines Herzens sind! – Soll mir's hart ergehen – laß mich feste stehen – und selbst in den schwersten Tagen – niemals über Lasten klagen – denn durch Dornen hier – geht der Weg zu dir.«

Roller pflegte sich auf die Sprüche und Verse, die er seinen Konfirmanden bei der Einsegnung sagte, nicht vorzubereiten, sondern sich dabei ganz dem zu überlassen, was der Augenblick ihm zuführte. Er wußte daher nachträglich selbst nicht, was er gesprochen hatte, aber Angehörige und Freunde schrieben solche Worte, die wie Orakel angesehen wurden, nach, und so waren denn auch mir jene Sprüche erhalten[268] worden, die mir durch mein langes Leben vielfach mahnend und stärkend zur Seite gestanden haben.

Ich war nun eingetreten in die Reichsritterschaft der Kirche und, ihrer Gnadengüter teilhaftig, hatte ich am Grünen Donnerstage mit der ganzen Gemeinde und unter Absingung des Liedes: »Schmücke dich, o liebe Seele« zum ersten Male das Sakrament des Altars empfangen. Auch hatte ich an Erkenntnis zugenommen, gelernt, was recht und falsch sei, gut und böse; im übrigen aber war ich unverändert geblieben, d.h., ein lieber, guter Junge in meinen eigenen Augen, und wenn etwas von der Aussaat aufgegangen sein sollte, die ein treuer Lehrer damals in meine Seele legte, so würde dies doch erst einer viel späteren Periode meines Lebens angehören, da ich aus eigener Erfahrung mit dem heiligen Antonius bekennen lernte, daß der wesentlichste Fortschritt, dessen wir als Christen fähig sind, in der fortschreitenden Erkenntnis unseres eigenen inneren Verderbens liegt.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 267-269.
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