Der Verfasser ergibt sich der Demagogie

[315] Um jene Zeit war Eduards ältester Bruder Friedrich nach beendigten akademischen Studien von Jena zurückgekehrt. Lang, hager, blaß, das tiefliegende Auge von starkem innerem Leben glühend, trat er in sogenannt altdeutscher Tracht, mit gefedertem Barett und lang abwallendem Haar, wie eine Erscheinung aus verflossenen Jahrhunderten in unsern Kreis, Kernworte der Trauer und des Ingrimms sprechend: der Trauer über den Verlust der akademischen Freiheit, des Ingrimms über das Philisterium, dem er verfallen. Friedrich war ein hochbegabter und genialer Mensch, dessen übermächtige Persönlichkeit uns Jüngeren nicht wenig imponierte, daher er uns auch schnell zum Propheten und Apostel eines nagelneuen Evangeliums werden konnte, das er aus Thüringen mit heimgebracht. Er war tief eingetaucht in jene phantastische Strömung, welche damals die deutschen Hochschulen durchflutete und die Köpfe der besten jungen Leute mit sich fortriß. War er doch eine der Koryphäen der glorreichen Jenenser Burschenschaft gewesen, hatte die Fahne getragen beim Zuge nach der Wartburg und sich dort nach des[315] begeisterten Studenten Riemanns Worten mit allen Genossen aufs feierlichste verschworen: »zu streben nach jeder menschlichen und vaterländischen Tugend!«, und solche Tugend war es, welcher er jetzt das Wort redete vor den Ohren aller, die es hören und nicht hören wollten.

Worin sie eigentlich bestand, diese menschliche Tugend, ist schwer zu sagen, da ihr Begriff sich ebensowenig aus jener Bezeichnung als aus Beispielen der Geschichte deduzieren läßt. Eine andere Tugend hatte Cäsar und eine andere Brutus, und Diogenes hatte eine andere als Cato und Epicurus. Soll man von christlicher Tugend absehen, so ist die menschliche und vaterländische an sich ein wunderlicher Proteus und kann ebensogut Mord und Totschlag bedeuten als gut Essen und Trinken. Darin zwar war man einig, daß den Tugenden der Tapferkeit, der Wahrhaftigkeit und Keuschheit nachzusagen sei, und das war das Löbliche bei der Sache; ob aber z.B. die menschliche und vaterländische Tugend es gebot, zum Zweck der Herstellung eines einigen und freien Vaterlandes die sämtlichen deutschen Fürsten nebst ihren Helfern und Helfershelfern um einen Kopf zu verkürzen, oder ob es hinreichen würde, dieselben mit bescheidenen Pensionen – für den König von Preußen wurden in Jena 300 Taler vorgeschlagen – zu bourgeoisieren, darüber stritt man wie über vieles andere. Die ganze Bewegung glich einer unklaren und verworrenen, von den heterogensten Sympathien getragenen Konfusion. Mit derselben Begeisterung für deutsches Mittelalter wie für die modernsten Revolutionsideen der Franzosen streckte man die Arme gleichzeitig nach hinten und nach vorne aus und schwärmte für eine Vorzeit, die man nicht kannte und deren Bedingungen, Ordnungen und Formen man nach Herzenslust mit Füßen trat. Man war vom allerneuesten, wie Goethe sagte, indem man alt sein wollte, und am allerwenigsten war man deutsch.

Was mich anlangte, so verstand ich von dem ganzen Wirbel wenig mehr, als daß es eine Herrlichkeit sondergleichen war und daß man recht von Herzensgrunde deutsch sein müsse; ähnlich auch mochten es alle diejenigen meiner Mitschüler verstehen, die überhaupt begeisterungsfähig waren. Recht deutsch sein aber hieß: recht trotzigen Mut und feste Fäuste haben, und uns zu diesen vaterländischen Tugenden zu verhelfen, war Friedrich sehr erbötig. Mit Enthusiasmus sprach er von dem frommen, frischen, freien und fröhlichen Turnerwesen und weckte das Verlangen, uns unter seiner Leitung mit der Gesamtheit aller Schüler zu einer ordentlichen Turngemeinde zu organisieren.[316]

Um die Erlaubnis hierzu wie um Abtretung eines zum Turnplatz geeigneten Landstückes ward der Herzog angegangen, vorläufig aber im Hofraume der Superintendentur eine kleine Turngelegenheit improvisiert. Hier stellten wir mit des Ättis Erlaubnis aus gemeinen Mitteln die notdürftigsten Gerüste her, an denen wir des Abends unsere Kräfte übten, und ergötzten uns nebenbei an allerlei frischen und fröhlichen Turnspielen, die unser Meister Friedrich leitete. Dazu verschafften wir uns ungeschwänzte Anzüge von grauem Sackdrell, nahmen einen ungeschliffenen Kärrnergang an, wie er deutschen Flegeln zu ziemen schien, und sahen jedermann keck ins Angesicht. Leider aber mußte unser Verhalten sich nur allzuwenig empfohlen haben: besonnene Männer traten gegen die Neuerung auf und erhoben sogar im Wochenblatt den Wächterruf. Ich zweifle nicht, daß ihre Besorgnisse begründet waren; aber mit Gegengründen betrat Friedrich jetzt das Schlachtfeld. Sie replizierten, er replizierte wieder; es bildeten sich Parteien selbst unter Lehrern und Beamten, und immerhin brachte dieser gelehrte Hader einiges Leben unter die Bernburger Menschheit.

Mit Beckedorff war ich in stetem Briefwechsel geblieben. Ich war es gewohnt, ihn von allem zu unterrichten, was mich bewegte, und suchte ihn jetzt um so mehr über den Nutzen des Turnens aufzuklären, als ich annahm, daß er nicht ohne Einfluß auf die Entschlüsse des Herzogs sei, von dessen Erlaubnis doch endlich alles abhing. Wie sollten wir künftig, so argumentierte ich etwa, das Vaterland verteidigen, wenn wir nicht deutsche Knochen und Fäuste hätten?! Von einem auf Schulbänken verkümmerten und verblähten Geschlecht – als das wir uns plötzlich erkannt hatten – seien Heldentaten schwerlich zu erwarten, und überdem würde dem Landesfürsten eine bessere Gelegenheit, die Jugend zu verpflichten, so leicht nicht wieder geboten werden. Aber Beckedorff schien von alledem nichts weniger als erbaut. Zwar war er nicht so weit verblendet, daß er das Turnen nicht für recht gesund gehalten hätte; ob jedoch die Jahnschen Turngemeinden mit ihren spezifischen Gesetzen und Gebräuchen zu dulden, und ob es zweckmäßig sei, der männlichen Jugend in rein monarchischen Staaten eine entschieden republikanische Richtung zu geben, das gab er zu bedenken. Schließlich riet er, wir möchten vor allen Dingen zeigen, daß die Turnerei fleißiger, bescheidener, gehorsamer und liebenswürdiger mache, so würden wir, alle Bedenken zerstreuend, unsere Widersacher in Freunde und Gönner verwandeln.

Schwärmereien ist indessen mit Vernunft nicht beizukommen. Beckedorffs Rat erschien mir dem großen Ziele gegenüber, das ich vor Augen hatte, allzu philiströs, denn ich war der Meinung, daß irgend etwas faul sei in deutschen Landen und daß dem weder durch Bescheidenheit noch[317] Liebenswürdigkeit, sondern einzig und allein durch die unbescheidenste Kraftentwickelung abzuhelfen sei. In der Art schrieb ich auch zurück und war fest überzeugt, daß jedermann das einsehen müsse, selbst der Herzog. Doch hierin hatte ich mich geirrt, wie ich denn auch durch mein übriges Leben die Erfahrung gemacht habe, daß niemand sich von etwas überzeugen läßt, was nicht in seinen Kram paßt. Der Herzog war so frei, den Turnplatz zu verweigern und das Gezänk im Wochenblatte zu verbieten. Das war befremdlich. Es sah fast aus, als lege es der Landesvater eigens darauf an, die Kraft des Volkes abzuschwächen und sich die Herzen der Jugend zu entfremden. Wir räsonierten ganz unsäglich.

Glücklicherweise teilte wenigstens der Ätti nicht die Bedenken der herzoglichen Räte. Soweit er sich überhaupt um die Angelegenheit gekümmert hatte, war er geneigt, die besseren Seiten aufzufassen, freute sich des frischen Sinnes der jungen Leute und hielt die revolutionären Wasserreiser, die wir trieben, für eitel Kindereien. Zu einer wohlkonzessionierten Turngemeinde und einem öffentlichen Turnplatz konnte er uns freilich nicht verhelfen, doch hatte er nichts dagegen, daß wir unsere Kraftübungen nach wie vor in seinem Hofraum fortsetzten. Trotz unseres Kummers über den unerwarteten herzoglichen Bescheid unterließen wir daher nicht, daselbst allabendlich zu laufen und zu springen, zu wippen und kippen, exerzierten die Bein- und Rückenwelle, das Nest, den Schwebehang, den Katzen- und den Karpfensprung; und obgleich wir diese Künste keineswegs mit der Harmlosigkeit von Eichhörnchen oder Seiltänzern betrieben, sondern vielmehr mit dem Hochgefühle deutscher Jünglinge, welche die freie Brust im Morgenrot der Zukunft baden, sah die Behörde dennoch durch die Finger. Es waren schöne Stunden, die wir so im Bewußtsein schwellender Muskelkraft und trotzigen Mutes versprangen und verschwangen, und sonderlicher Nachteil ist auch nicht daraus erwachsen, es sei denn für die Speisekammern der Hausfrauen und Mütter; denn einen Knaben, der vom Turnen kommt, zu sättigen, ist nahezu unmöglich.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 315-318.
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