Goethe

[122] Nach den Preußen unter Blücher rückte Tschernitscheff nach Dresden vor. Die schöne Zeit des Onkels kehrte wieder. Russische Garden zogen ein, an ihrer Spitze Kaiser Alexander und der König Friedrich Wilhelm. Gleichzeitig aber fand sich noch ein anderer hoher Gast ein, ein Machthaber und Gewaltiger sondergleichen, der zwar über Roß[122] und Reiter nicht verfügte, dessen Stimme auch im Rate der Monarchen nicht gehört ward, der aber dennoch in einer anderen Sphäre fast unumschränkte Macht ausübte.

Solange ich denken konnte, hatte der Name Goethe in dem Freundeskreise unseres Hauses einen mehr als königlichen Klang gehabt. Er war ja auch der Jupiter des deutschen Olymps, seine Worte waren Sprüche von kanonischer Bedeutung, sein Urteil die letzte Instanz in allen Gebieten des Schönen, in der Gedankenwelt und aller Weisheit der Menschen. Goethe war der einzige deutsche Dichter, an welchem mein Vater Geschmack fand, weil er der einzige sei, der deutsch schreibe, sagte er, und so weit ging er in der Wertschätzung seines Lieblings, daß er den Goetheschen »Faust«, ihn gleich an die Bibel reihend, für das zweitbeste Buch der Welt erklärte.

Nicht so die Mutter. Für sie waren die Dichtungen des großen Meisters mannigfach verletzend. Zwar erkannte sie die Pracht und Wahrheit der Goetheschen Darstellung, den Wohlklang und die Einfalt der Sprache vollkommen und vielleicht mit größerem Verständnis an als die meisten unbedingten Anbeterinnen jenes geistigen Leviathans; aber es schien ihr diese hohe Meisterschaft zumeist an unwürdige Stoffe verschwendet, und es betrübte sie, allerlei Unsauberkeit der Sünde mit derselben, ja mit noch größerer Liebe behandelt zu sehen als sittlich Reines und Schönes. Sie wollte, daß so herrliche Kräfte allein im Dienste Gottes tätig wären, wie sie dies an Klopstocks und Herders Muse rühmte, die sie deshalb entschieden vorzog.

Dagegen nahm mein Vater seinen Liebling aufs wackerste in Schutz. Er entgegnete etwa, daß Goethe weder Schulmeister noch Pfaffe, sondern Dichter und als solcher wie alle Künstler nur mit seinem eigenen Maß zu messen sei. Er schildere die Dinge weder, wie er wünsche, daß sie sein möchten, noch wie Gott sie etwa fordern möge: er stelle sie vielmehr ganz einfach bloß nach ihrer Wahrheit dar, so wie sie wirklich wären, ohne sich ein Richteramt darüber anzumaßen. Was allen bekannt sei, was jeder habe und besitze, heiße es nun Glück oder Unglück, Gutes oder Böses, das stelle er als Wirkliches oder Unausweichliches dar, und zwar in einem versöhnlichen Lichte, bei dessen Schönheit und Liebenswürdigkeit man sich beruhigen könne.

Inzwischen blieb die Mutter bei ihren Sätzen. Wenn Dichter nur nach ihrem eigenen Maß bemessen werden dürften, sagte sie, so habe keiner einen Vorzug vor dem anderen. Überdem sei es keine Kunst, den Glücklichen mit seinem Lose auszusöhnen. Wem es wohlgehe in dieser Welt, wie dem Besprochenen selbst, der sei gar leicht befriedigt. Unglückliche aber würden schwerlich Trost in Goethes Schriften finden[123] und sittlich Verirrte keine Stütze. Die letzteren aber mit ihren Zuständen noch obendrein versöhnen zu wollen, sei ganz unverantwortlich.

So stritt man hin und wider mit vielem Recht auf beiden Seiten; aber dem Ruhm des großen Mannes geschah dadurch kein Abbruch. Der Dichter, wie ihn meine Mutter suchte, fand sich aber nirgends, und immer blieb es wahr, daß, wenn Künstler nur nach eigenem Maße zu bemessen seien, allein das Maß des Genies, nicht das des moralischen Wertes ihrer Werke oder Personen entscheiden dürfe.

In meinen Kinderaugen gewann der Vielbesprochene durch solche Diskussionen nur an Bedeutung. Ich hatte nichts von ihm gelesen, und doch erschien er mir auf Autorität des Vaters hin wie eine Sonne, vor deren Glanz jedwedes andere Gestirn verbleichen müsse. Ja, er war allgemach in meiner Vorstellung zu einem solchen Koloß angewachsen, daß ich selbst für den einziehenden Kaiser Alexander nur ein halbes Auge hatte, da ich zwei Minuten vorher den hochgefeierten Dichter gesehen, an seiner Seite gestanden und freundliche Worte aus seinem Munde vernommen hatte.

Goethe war nämlich am Morgen des Einzugs der Monarchen ganz zutraulich bei uns eingetreten, und da er den Vater, der ihn anderwärts suchte, nicht zu Hause fand, hatte er die Mutter um Erlaubnis gebeten, bei ihr bleiben zu dürfen, um aus ihren Fenstern und vom Straßengedränge unbelästigt den erwarteten Einzug mit anzusehen. Er werde in keiner Weise stören, hatte er hinzugesetzt, wolle sich ganz still verhalten und bitte, keinerlei Notiz von ihm zu nehmen.

Die Mutter glaubte zu verstehen, daß er selbst unbelästigt sein wolle. Sie überließ ihm daher ein Fenster, setzte sich mit ihrer Arbeit in ein anderes und drängte sich ihm mit keiner Unterhaltung auf. Da stand er denn, der prachtvoll hohe Mann in seinem langen Überrock und blickte, die Hände auf dem Rücken, behaglich auf das bunte Gewühl des drängenden Volkes nieder. Er sah sehr heiter aus, und meine Mutter glaubte es ihm abzufühlen, wie dankbar er ihr für die Schonung sei, mit der sie ihn gewähren ließ, denn sie wußte, wie sehr der seltene Gast bis dahin von der bewundernden Zudringlichkeit schöngeisterischer Damen belästigt und gequält gewesen. Er pflegte sonst immer von großer Cortège umgeben zu sein, und da er so allein gekommen, nahm meine Mutter an, daß es ihm gelungen, sich vielleicht, vom Gedränge begünstigt, aus seiner anbetenden Umgebung wegzustehlen und hierher zu retten, um die feierlichen Eindrücke eines geschichtlichen Ereignisses ungestörter in sich aufzunehmen.

Sie rief daher auch mich hinweg, der ich dem großen Manne immer näher rückte und ihn anstarrte, wie einer, der zum ersten Male in seinem[124] Leben einen Walfisch oder Elefanten sieht. Er aber zog mich an sich, legte die Hand auf meine Schulter und fragte mich dies und jenes, unter anderem auch, ob ich mich darauf freue, den Kaiser von Rußland zu sehen.

Ich sagte: ja, ich freute mich darauf, weil er mein Pate wäre, und allerdings hatte ich bis jetzt in dieser glücklichen Illusion gelebt, bloß weil ich eben auch Alexander hieß. Meine Mutter gab indes sogleich die nötige Aufklärung, und Goethe fragte nun manches über Rußland. So war sie dennoch mit ihm ins Gespräch gekommen.

Indem ward heftig an der Klingel gerissen. Ich sprang fort, um die Tür zu öffnen, und herein drang eine unbekannte Dame, groß und stattlich wie ein Kachelofen und nicht weniger erhitzt. Mit Hast rief sie mich an: »Ist Goethe hier?«

Goethe! Das war kurz und gut. Die Fremde gab ihm gegen mich, den fremden Knaben, weiter kein Epitheton, und kaum hatte ich die Zeit, mein einfaches Ja herauszubringen, als sie auch schon, mich fast übersegelnd, unangemeldet und ohne üblichen Salutschuß, wie ein majestätischer Dreidecker in dem Zimmer meiner Mutter einlief.

Mit offenen Armen auf ihren Götzen zuschreitend, rief sie: »Goethe! ach Goethe, wie habe ich Sie gesucht! Und war denn das recht, mich so in Angst zu setzen?« Sie überschüttete ihn nun mit Freudenbezeugungen und Vorwürfen.

Unterdessen hatte sich der Dichter langsam umgewendet. Alles Wohlwollen war aus seinem Gesichte verschwunden, und er sah düster und versteinert aus, wie eine Rolandssäule. Auf meine Mutter zeigend, sagte er in sehr prägnanter Weise: »Da ist auch Frau von Kügelgen.«

Die Dame machte eine leichte Verbeugung, wandte dann aber ihrem Freunde, dessen üble Laune sie nicht bemerkte, ihre Breitseiten wieder zu und gab ihm eine volle Ladung nach der anderen von Freudenbezeugungen, daß sie ihn glücklich geentert, beteuernd, sie werde sich diesen Morgen nicht wieder von ihm lösen.

Jener war in sichtliches Mißbehagen versetzt. Es mochte ihm etwa zumute sein wie einmal meiner Wenigkeit in der Mädchenpension, und ohne Zweifel würde auch er, wenn er die Wahl gehabt, ein heimliches Produkt Ruten der aufdringlichen Zärtlichkeit seiner ekstatischen Freundin bei weitem vorgezogen haben. Er knöpfte seinen Oberrock bis ans Kinn zu, und da mein Vater eintrat und die Aufmerksamkeit der Dame, die ihn kannte, für einen Augenblick in Anspruch nahm – war Goethe plötzlich fort.

Entsetzt eilte die Getäuschte ihm nach, sich jeden Abschied sparend. Ob sie ihn noch erreichte, weiß ich nicht, da in demselben Momente[125] die Ankunft der Monarchen das ganze Interesse von uns Rückbleibenden fesselte.

Während seines damaligen Aufenthaltes in Dresden habe ich indes den großen Dichter noch öfter anzustaunen Gelegenheit gehabt, und zwar stets mit einer Ehrfurcht, die sein königliches Wesen ganz von selbst hervorrief. Er schenkte meinen Eltern einen Mittag, und außerdem erinnere ich mich, daß wir die Rüstkammer miteinander besehen haben.

Diese ungemein reiche Sammlung alter Waffen befand sich damals noch in ihrem ursprünglichen Lokale, einem alten, burgartigen Gebäude auf der Schössergasse, und ward von uns Kindern jeder anderen Sammlung, auch der Bildergalerie, bei weitem vorgezogen. Wollte der Vater uns recht hoch beglücken, so ging er mit uns hin.

Gleich unten auf der dunkeln Hausflur standen vor dem Treppeneingang als Schildwachen zwei schwergeharnischte Figuren, die einen schon im voraus in die erforderliche Stimmung brachten. Dann ging es die steinerne, mit alten Hellebarden dekorierte Wendeltreppe in die Höhe durch drei verschiedene Etagen, deren Säle mit Dolchen, Schwertern, Speeren, Kampagnen- und Turnierharnischen, Fahnen, alten Feuergewehren und historischen Andenken aller Art gefüllt waren. Die Waffen standen und hingen da sämtlich noch ohne Gepränge und Ostentation, wie zu der Zeit, da sie im Gebrauch gewesen, und auch die Luft schien noch dieselbe, die Johann Friedrich und Kurfürst Moritz schon geatmet, wenn sie durch diese Räume schritten. Aber gerade dieser Moderduft schien mir das beste: er war die Melodie des Heldenliedes, das die Wände sangen.

Später, nach 1830, als der Fortschritt auch in Sachsen einbrach, wollte man es besser machen und stellte diese Waffen, etwa ein Drittel davon veräußernd, um die Kosten des Umzugs zu bestreiten, in den hohen, hellen Korridoren des Zwingers auf. Man ordnete nun die alten Mordgewehre zu glänzenden Sonnen oder freundlichen Rosetten und Girlanden an den Wänden, verbannte jenen mysteriösen Geruch der Vorzeit und nahm der Sammlung endlich selbst den Namen, indem sie jetzt ganz elegant »Historisches Museum« heißt. Das ist der Fortschritt des Geschmackes.

Goethe sah die Rüstkammer noch in ihrem alten Graus und freute sich daran. Noch sehe ich seine majestätische Gestalt mit der lebendigsten[126] Teilnahme unter den gespenstischen Harnischen herumwandeln, welche, wie lebendige Recken auf prachtvoll geschnitzten Streitrossen sitzend, in den niedrigen Räumen des alten Lokales fast riesengroß erschienen. Einer besonders imposanten Gestalt nahm Goethe den von Edelsteinen funkelnden Kommandostab aus der Eisenfaust, wog ihn in der Hand und zeigte ihn uns Kindern.

»Was meint ihr«, sagte er, »mit solchem Zepter zu kommandieren muß eine Lust sein, wenn man ein Kerl danach ist!« und er sah gerade aus, als wenn er selbst der Kerl danach wäre.

Das sind die dürftigen Erinnerungen eines Kindes von dem größten Genius seiner Zeit. Mit ihnen will ich diesen zweiten Abschnitt meines Jugendlebens schließen.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 122-127.
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