14 [24] Brief an Marie Schnür

Pasing, 26.12.1906


... Das Weihnachten war still, aber recht gemütlich bei uns ... Ich habe angefangen, Papa zu malen. Ich hoffe, es wird gut. Es ist ein schwieriges Halblicht voll von rosagrauen und grünlichen Tönen. – Ähnlich wird er jedenfalls. – Profil –. Alles konzentriert sich in dem müden Blick ins Leere. Ich fürchte, Maman wird es etwas grausig vorkommen. Aber dieses müde Warten auf den Tod hat etwas ganz Grausiges. Im Atelier habe ich auch fleißig gemalt, – tu verras. – Mir tun diese ruhigen Tage wohl. Der Gedanke an Dich und Deine Liebe ist wie ein kleines warmes Spükchen, das mir beständig um die Nase fliegt und mich beruhigt und zuweilen mir leise, leise zuspricht, meiner gequälten, traurigen Seele zuspricht. O Gott, wenn wir unsere[24] Kunst nicht hätten, laquelle est le véritable ›pouvoir de nos passions‹. Ce monde ne nous regarde pas autrement que comme transfiguration de nos passions. Nous montrons le cri de choses, mais nous pensons à nous (et non pas à ces choses, bienentendu). Dieses Verhältnis war mir lange verborgen, die Mystik liegt nicht in den Dingen. Aber wenn wir einer leidensvollen Verzweiflung oder einem leidenschaftlichen Entzücken unserer Seele und unseres Blutes (was wohl eines ist), Ausdruck geben wollen, so brauchen wir die Realität um uns als Form, um sie mit unseren Leidenschaften zu kleiden. Die Welt ist weder schön noch häßlich, aber unsere Leidenschaften sind immer schön und wunderbar – wenn wir sie nicht im Leben realisieren (wodurch sie gemein werden), sondern in der Kunst. – Diese Predigt hab ich nicht Dir gehalten, sondern mir. Vielleicht duftet sie auch stark nach der blauen Tinte, in der sie bis jetzt geruht hat; denn da habe ich sie beim Schreiben herausgeholt, – nicht aus meinem Kopf ...

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 24-25.
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