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Bonn, 5.10.1912
Lieber Kandinsky, wir sind nun glücklich von Paris zurück. Neben den für mich sehr tiefen Eindrücken, die ich aus den Museen (z.B. Trocadero, Negerplastiken) und Privatsammlungen mitnahm, sind unsre liebsten Erinnerungen der reizende Abend bei Frau Epstein in Montmorency und ein Abend bei Delaunay. Frau Epstein führt in[77] diesem kleinen Provinzstädtchen, das mich in der Dämmerung an Murnau und Tölz erinnert, ein einsames, melancholisches Leben, zwischen ihren stillen Bildern, die an den Wänden hängen; wir sagten uns schon, daß wir ein nächstes Mal nicht mehr in Paris, sondern im Vorort wie Montmorency leben wollen, um abends aus dem Pariser Gewühl eine stille Zuflucht zu wissen, ein Retirado; vor allem würde es uns freuen, Frau Epstein noch besser kennenzulernen und über vieles mit ihr zu plaudern; sie sehnt sich auch, glaube ich, zuweilen nach ein bißchen Besuch und Plauderstunden. Ihre Arbeiten mag ich alle sehr, wenn ich sie auch nicht gerade bedeutend finde; aber dieses dumme Wort bedeutet ja selber nichts, bedeutet nur die Relation zu andern Dingen, zu einem Milieu, das nichts mit den Bildern zu tun hat und ihnen vielleicht durch grelles Licht ein Teil ihrer Geistigkeit nehmen wird. Sehr stark wirkte wieder das Porträt von Kahler auf mich, dann ein Porträt, das sie von ihrem Knaben gemalt hat. Goltz war ja schon weg; so bat ich Frau Epstein, ihm einige Sachen direkt nach München zu schicken, Stilleben, Landschaft und ein Porträt.
Delaunay hat mich sehr interessiert, durch und durch Franzose, aber offen und klug. Es ist ihm sehr peinlich, z.B. die große Tour Eiffel bei Koehler zu wissen; er will nichts einzelnes ausstellen; die Bilder sind für ihn eine ganz überwundene, falsche Sache; er arbeitet sich zu wirklich konstruktiven Bildern durch, ohne jede Gegenständlichkeit, man könnte sagen: rein klangliche Fugen; es scheint mir, daß er sich dabei noch viel zu sehr auf Komplementärfarben und Prismenwirkung stützt; aber die Sachen sind zweifellos talentiert und [er] steckt voll großen Wollens, – im Gegensatz zum Kubistensaal des Herbstsalons, der für mich grauenhaft ist; pedantisch und äußerlich und möglichst blödsinnig; Le Fauconnier mit. Wir waren vor dem rendezvous im Salon, ahnten nicht, daß das große Bild von ihm sei. Später kam er und schleppte mich davor; ich verstand nichts; darauf begann er zu erklären (nicht etwa die Malerei, davon steckt nichts drin) sondern: voyez les ours, à gauche, puis voilà les montagnards qui tirent, – voici un enfant, – vous le voyez? Et encore un ours là, au coin – vous voyez, sa patte u.s.f. Ich sagte nicht viel, war aber ebenso wütend als traurig. Le Fauconnier erschien mir als müder, eitler Mensch, ohne Können. Seine früheren Sachen (jetzt ist er farbig geworden) mag ich auch jetzt noch, nur fühle ich sehr diese schlappe Müdigkeit in ihnen, die seine ganze Person darstellt. Ich glaube jetzt zu wissen, wie diese Bilder entstehen konnten.
Über Picasso schrieb ich Ihnen schon, glaube ich. Seine letzten Sachen sind für mich rein impressionistisch, d.h. keine Spur von innerer Konstruktion, sondern eine raffinierte Oberfläche, scharf und genau naturalistisch in den Pariser Straßen und Cafés beobachtet, Spiegel und Prismenkunst, Auslagefenster, wo das Licht sich auf der[78] Scheibe bricht, dazu die Telefonnummern und Firmenbuchstaben, die auf den Auslagefenstern kleben. In Köln wirkt Picasso vor allem durch seine früheren Sachen und die Pyramiden-Konstruktionen (l'homme à la mandoline) ernster, geheimnisvoller. Er scheint persönlich großen Wert darauf zu legen, daß man seine Bilder zu ›lesen‹ versteht, d.h. sieht, wo der Schnurrbart, die Schublade etc. ist. Aber eins hat er vor allen anderen voraus: das malerische Können. Das ist in Paris heute schon viel. Braque ist im Grunde konstruktiver, will es wenigstens sein, glaube ich, ist aber als Maler totlangweilig.
Nun Schluß, ein andermal mehr. Mitte Oktober sind wir wieder in Sindelsdorf. Gute Reise. Hoffentlich finden Sie mehr in Rußland als ich in Paris.
Herzliche Grüße von uns allen Ihr F. Marc