172

[146] 16.V.15


... Um mich lege die Sorge wirklich ein bißchen ab. Mein verändertes mageres Aussehen geht sicher auf Seelisches zurück, das sich auch wieder ausgleichen wird. Mein Körper ist sogar von einer mir ungewohnten[146] Elastizität und Leidensfreiheit; ich bin nicht einmal nervös. Von irgendwelchen Störungen wie bei Wilhelm ist bei mir keine Spur. Ich verdanke es allerdings einer scharfen Selbstzucht, (die Wilhelm, wie ich ihn beurteile, sicher nicht geübt hat), daß ich mich von meinem bedenklichen Herbstzustand so erholt habe. ... Vieles geht mir ab; am meisten aber Du; und dann die Musik. Ich bin äußerst neugierig auf die ›einfachen Stücke‹, die Dir K[aminsky] zum Spielen gab. Ich werde mich zu Musik noch ganz anders einstellen als früher. Musik und Malerei sind doch ganz gleich, – man muß nur das Organ haben, das diese Gleichheit mißt und erkennt; es ist auch nicht notwendig, daß jeder dies Organ hat; aber wer dies einmal erfaßt hat, daß die beiden ganz gleich sind, wird diesen Gedanken nie mehr los. Unbegreiflich ist mir nur, was Kandinsky z.B. mit der Vereinigung der beiden bezweckt. Ganz abgesehen von der technischen Unmöglichkeit, das grundverschiedene äußere Material (Zeit und Fläche) der beiden Künste zusammenzuschweißen, ist es vor allem ein künstlerischer Nonsens und einfach langweilig, das gleiche zweimal vorbringen zu wollen oder gar von den grundverschiedenen Materialien ein Stück von da und eins von dort zu leihen und daraus ein Ganzes machen zu wollen. Gar nicht zu verwechseln ist damit z.B. Musik mit Text wie z.B. Matthäuspassion oder ein vertontes Lied, – das ist genau dasselbe wie ein gegenständliches Bild; es bleibt ganz ›Bild‹, wie Musik ganz Musik bleibt trotz Text. Musik ohne Text gibt es nicht, er bleibt nur eben oft unausgesprochen, – Bachs Musik ist dafür klassisch. Ebensowenig gibt es abstrakte Bilder ohne Gegenstand; der steckt immer drin, ganz klar und eindeutig, nur braucht er nicht immer äußerlich da und augenfällig sein. Ich denke viel über diese Dinge nach; sie sind im Grunde so einfach; es lohnt so gar nicht, viel darüber zu disputieren. Es gibt da gar nicht viel zu disputieren. Schwer und wichtig ist nur das eine: den Schaffensgrund in sich finden. Für heute gute Nacht! Ich werde mit guten Gedanken einschlafen. Mit einem Kuß Dein Fz. M.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 146-147.
Lizenz:
Kategorien: