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[147] 18.V.15 Nachts


Liebste, ich habe eine merkwürdige Lektüre zufällig in die Hände bekommen, die mich unsagbar tief berührt hat, gerade weil sie mich so ganz überraschend und entgegen meinen bisherigen Anschauungen über Missionswesen ergriffen hat: eine Biographie Livingstones! Ich bin ganz erschüttert davon. Ich lege das Büchlein bei, (– es gehört nicht mir, schicke es mir darum baldmöglichst zurück). Es ist schriftstellerisch ganz armselig, – aber der Gegenstand, diese mystische Einfachheit des wahren Genies, der durch das tiefste, furchtbarste Dunkel das Licht seiner Idee trägt, ist so überwältigend, daß die Form einerlei wird. Ich möchte kaum ein wissenschaftliches Buch[147] über die Expeditionen Livingstones lesen, – allerdings wohl ein ausführlicheres als das vorliegende, vor allem eines, das mehr persönliche Worte und Notizen Livingstones enthielte; sieh Dich einmal im Buchhandel bei Lehmkuhl danach um, kauf es (im Tausch natürlich) und schenke es Maman von mir aus, – später will ich es dann auch lesen. Von der Lektüre dieses Büchleins aus bin ich Tolstoi, dem wahren Tolstoi wieder viel näher gekommen. Das ist Größe und ›Poesie durch sich‹; die wenigen angeführ ten Worte Livingstones sind von einer so klangvollen riesigen Erhabenheit wie auf dem Grabstein das Wort von der ›offenen Wunde der Welt‹ oder die Worte S. 25. Das ist ein Leben! Da kann man von einer Tat reden. Wir alle faulenzen. Man muß sich gänzlich opfern; nicht: ›sich an die Säule seiner Idee lehnen‹, wie ich mich letzthin, glaub ich, ausgedrückt habe, sondern sein Kreuz tragen, an dem man für die Welt stirbt, – dann nur könnte einst auf unserm Grabstein die Mahnung an die Nachwelt stehen, für die man sich geopfert: ›Ihr seid teuer erkauft, – werdet nicht der Menschen Knechte‹ (1. Corinth. 7.23)


Fortsetzung 22.V.15.!


Inzwischen sind wir weit gereist; die neue Adresse ist wieder wie im Herbst; siehe auf dem Couvert; wir sind wieder in unsrer alten Gegend wie im Oktober-November, wenn auch nicht am gleichen Ort, aber unter ähnlichen Umständen. Es wird alles für mich immer traumhafter; wir hatten zum Abzug aus E. die Wagen hochgeschmückt mit Blumen und trabten nun so durch die gaffenden Dörfer wie ein Zug aus Dantes Inferno; ich fühle dabei immer, daß eigentlich nur mein Körper reitet und ich ja ein ganz anderes Leben lebe, ich weiß nur nicht genau wo; ich bin jetzt so oft in solch einer Art Dämmerzustand, ähnlich wie im Traum, wenn man merkt, daß man nur träumt und doch trotzdem weiterträumt. Dieses Gefühl ist aber gänzlich unsentimental und unromantisch und noch weniger selbstquälerisch; vielmehr wie eine Tatsache, daß man zeitweise das Leben in mehreren Falten nebeneinander durchleben kann und die Einheit von Lebensfunktionen nur sehr locker und fragwürdig ist. Der Geist kann unbedingt auch ohne Körper leben. ...

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 147-148.
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