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[191] 5.II 16


Liebste, ich las nochmals Deinen Bericht über den Waldentee – ich kann ihn mir einfach nicht vorstellen! Daß das einer der Brennpunkte unsrer doch so aufrichtig, wenn auch unerfahren und naiv gedachten geistigen Bewegung wurde, das der Niederschlag so heißen Bemühens um Erneuerung! Nun, der Krieg ist einer Ernüchterung durch Waldens five-o-clock zuvorgekommen. Daß Du Dich dort grenzenlos einsam und unbehaglich fühltest, ist ja klar. Auch ich wäre nicht in der Stimmung, die Gesellschaft komisch zu nehmen; man kann sich nur fernhalten und ohne Ärger schweigen; denn es geht mit dieser Sache im kleinen wie mit dem Krieg im großen: man soll nicht über einen Zustand, über das Zustandekommen eines Blödsinns schmähen oder trauern oder lachen, sondern auf das Ur-Mißverständnis blicken, auf eigene Schuld. Das ist der einzig reinigende Gedanke. Der Blödsinn stirbt ja eines Tages an seiner eigenen Leere, nur das schöpferisch Gestaltete bleibt, das, was Felsen unter sich hat und keine Mauer vor sich, und was fröhlich bewußt vor sich sieht, nicht trauernd nach allen Seiten oder wehklagend rückwärts. Dein heutiges Kärtchen berichtet wieder von einem 8 seiti gen Klagebrief, den Du, weil er ›zu‹ traurig war, zerrissen hast! Erstens sollst Du keine Briefe, die Du mir schreibst, zerreißen, – Du kannst an ihnen[191] doch nur das Papier zerreißen, nicht die ›einmal gewesene und in alle Ewigkeit seiende Tatsache‹ dieses Briefes, und zweitens soll ein solcher mutig abgesandter Brief Dich wenigstens nötigen, ihm einen freudigeren Gegenbrief nachzujagen, – statt beides bleibenzulassen. ...

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 191-192.
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