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[195] 17.II 1916


Liebe Maman. Ich verstehe sehr, wenn Du so ruhig vom Tode sprichst wie von etwas, was Dich nicht schreckt. Ich fühle genauso. In diesem Krieg hat man's ja an sich erproben können, – eine Gelegenheit, die das Leben einem sonst selten bietet, da man im täglichen ... Leben die Todesgefahren meist nicht sieht und zum mindesten nicht an sie glaubt. Es ist mir aber im Kriege nie eingefallen, die Gefahr und den Tod zu suchen, wie ich es in den früheren Jahren des öfteren getan habe, – damals ist der Tod mir ausgewichen, nicht ich ihm; aber das ist lange vorbei! Heute würde ich ihn sehr wehmütig und bitter begrüßen, nicht aus Angst oder Unruhe vor ihm, – nichts ist beruhigender als die Aussicht auf Todesruhe – sondern weil ich ein halbfertiges Werk liegen habe, das fertig zu führen mein ganzes Sinnen ist. In meinen ungemalten Bildern steckt mein ganzer Lebenswille. Sonst aber hat der Tod nichts Schreckhaftes; er ist doch das allen Gemeinsame und führt uns zurück in das normale ›Sein‹. Die Strecke zwischen Geburt und Tod ist der Ausnahmezustand, in dem es viel zu fürchten und zu leiden gibt, – der einzige wirkliche, konstante, philosophische Trost ist das Bewußtsein, daß dieser Ausnahmezustand[195] vorübergeht und daß das immer unruhige, immer pikierte, im Ernste ganz unzulängliche ›Ich-Bewußtsein‹ wieder in seine wundervolle Ruhe vor der Geburt zurücksinkt; es scheint mir gänzlich gleichgültig, ob man das nun pantheistisch wie Spinoza und buddhistisch oder schintoistisch (wie im alten geistvollen Japan) oder christlich wie Pascal ausdrückt, – das Wesentliche des Gedankens über Leben und Tod ist immer dasselbe geblieben. Die Idee, daß man sich durch schlechte Verwaltung seines biblischen Pfundes im Leben die süße Ruhe des ewigen Lebens stören könnte, ist wohl eine allzumenschliche, allzu grausame Erfindung. Wer schlecht tut und wer nichts tut, – der hat die Strafe schon im Leben davon, in seinem Gewissen und in seiner – Todesfurcht. Diese Leute können das Leben nicht rein genießen (so sehr sie sich auch den Anschein geben), weil sie zuviel Angst vor dem Tode haben, der ihnen ›alles‹ nimmt. Wer aber nach Reinheit und Erkenntnis strebt, dem kommt der Tod immer als Erlöser. Das ist jetzt die reine Predigt geworden! So war's eigentlich nicht gemeint. Aber nun steht sie einmal da, und Du darfst es Deinem Platoniker nicht verdenken. Aber zunächst wollen wir uns im Leben, und zwar gesund wiedersehen!

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 195-196.
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