8. Religiöses*

Es ist unglaublich, wie wenig die Menschen von heute aus Museen lernen. Warum schaffen sie Museen, wenn sie nicht daraus lernen wollen? Und sie können alles daraus lernen, nämlich das Eine, Große: daß es keine große und reine Kunst ohne Religion gibt; daß die Kunst desto [reiner, echter] künstlerischer war, je religiöser sie gewesen; und umso künstlicher, je unreligiöser die Zeit war. Auch haben die vollkommen recht, die sagen, daß echte Kunst [heute] mit unsrer wissenschaftlichen und technischen Zeit unvereinbar ist, – nur glaube ich, irren sie, wenn sie denken, daß die Kunst sterben wird. Vielmehr ist gewiß, daß die Wissenschaft und die Technik zu kleinen Nebendisziplinen unsres Lebens herabsinken werden; der Taumel über unsre Klugheit wird sich bald legen und die Kunst wird wieder zum großen Gott, ja die Begriffe Gott, Kunst und Religion werden wiederkommen; neue Symbole und Legenden werden in unsre erschütterten Herzen einziehen; [ein Buddha oder Christus] [Will man die Stimmen der großen Propheten, Dostojewsky, Tolstoi und Nietzsche nicht verstehen? Ich habe eine lahme Zunge, die keinen überzeugt; Ich kann nur sagen, was mir mein künstlerisches Gewissen sagt und was ich sagen muß, um zum Thema der Kunst zu kommen.]

Gibt es ein kläglicheres Schauspiel als das Entzücken unsrer Leute über den Fortschritt der Wissenschaften und der Technik? Gibt es etwas beschränkteres und traurigeres als das Triumphgefühl unsrer Leute, alle Religionen überwunden zu haben? Das glauben sie nämlich, die »guten Mitteleuropäer«. Auf was stützen sie ihren Dünkel? z.B. auf Maschinen. Als ob es irgend eine Maschine gäbe, die nicht schlechteste Imitation vergangener Handarbeit des Menschen ist. Surrogat, an dem der Geist verhungert. Eisenbahnen – die platteste Plebejererfindung; Flugmaschine, – kann sie irgendwie dem Geiste dienen? Direkte Beförderung von A nach B, Luftlinie. Das ist doch nichts besonders Geistreiches. Im Gegenteil höchst plebejisch, so gefährlich zu eilen. Der einzige Witz unsrer gesamten modernen Technik und Wissenschaften ist offenbar der, uns vom Denken abzuhalten, Geist zu sparen. Wer mit Geist und im Gedanken heute geht, wird wegen Verkehrsstörung in Haft genommen oder überfahren. Es wird aber eine Zeit kommen, in Bälde, da wird man unsre ganze Technik und Wissenschaft grenzenlos langweilig finden; man wird sie vollkommen liegen lassen, ja. vergessen; man wird gar keine Zeit dazu haben, weil man mit geistigen Gütern handeln wird.[111]


* ›Religiöses(1912–1913)

Auf unnumeriertem Blatt in Quart

Maschinenschriftliche Kopie des Herausgebers von 1948 nach dem inzwischen verschollenen Original


Quelle:
Franz Marc: Schriften. Köln: DuMont, 1978.
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