2. Die Universität.

[25] Im Herbste 1841 bezog ich die Prager Universität. Nach der damals herrschenden Einrichtung ging den besonderen Fakultätsstudien ein für alle Studenten vorgeschriebener zweijähriger philosophischer Kursus voran. Lehrfreiheit gab es nicht. Die Vorlesungen waren nach Zahl und Ordnung ein für allemal festgestellt, für jedes Fach war nur ein einziger Professor angestellt. Demnach waren die zwei Jahre des philosophischen Kursus die einzige Zeit, in welcher sich der studentische Geist einigermaßen entfalten konnte. Aus dem ganzen Lande strömten die Jünglinge herbei. Wir saßen an drei- bis vierhundert Mann in den Hörsälen. Schon die große Zahl verschaffte uns den Lehrern gegenüber eine größere Freiheit und zwang dieselben, uns rücksichtsvoller zu behandeln. Und auch die Gegenstände der Vorlesungen, vorwiegend Philosophie, Mathematik und Physik waren wohl geeignet, unser Interesse zu erregen, vorausgesetzt, daß wir sie von tüchtigen Männern überliefert empfingen, das war glücklicher Weise an der Prager Universität der Fall. Namentlich der Professor der Philosophie, der leider viel zu früh verstorbene Franz Exner, stand durch seinen gediegenen[25] Charakter und sein reiches Wissen in höchstem Ansehn und wurde von einem engern Kreise, der sich auf philosophische Studien warf, wie ein Ideal verehrt. Exner hatte sich in seiner Jugend viel mit Mathematik beschäftigt. Da konnte ihm freilich die offizielle österreichische Schulphilosophie, die sich mit einer Verwässerung des Salletschen Systems (Sallet war, wenn ich nicht irre, ein Landshuter Professor und später katholischer Pfarrer) nicht genügen. Die Schriften Herbarts zogen ihn an, das Beispiel des Leipziger Herbartianers, Drobisch, welcher gleichfalls die mathematischen und philosophischen Studien vereinigte und die letzteren durch die ersteren stützte, schwebte ihm als Muster vor. Die Prager Universität war damals die einzige in Österreich, auf welcher die Gedanken eines protestantischen deutschen Philosophen eine heimische Stätte fanden. Wir folgten mit gespannter Aufmerksamkeit den psychologischen Deduktionen, welche in der That für den Laien und Anfänger durch ihre Sicherheit etwas Bestechendes besaßen, fühlten uns aber besonders durch Exners Vorlesungen über Moralphilosophie gehoben. Das absolute Walten der »praktischen Ideen«, welche die Sittlichkeit unsers Handelns bestimmen, nahm in unserer Phantasie die Gestalt einer majestätischen Herrschaft an. Sie wurden unsere Götter, neben welchen freilich der Glanz des alten katholischen Heiligen stark verblich. Wir waren jahrelang weidlich geplagt worden, die katholischen Dogmen zuerst »mit Vernunft«, dann »ohne Vernunft« d.h. aus der Offenbarung zu beweisen. Und nun hörten wir nicht nur, daß die ewigen[26] Höllenstrafen mit der Idee der Gerechtigkeit unvereinbar seien, sondern lernten ein sittliches Ideal, welches sich nicht auf den religiösen Glauben gründet, kennen. Man kann sich den Eindruck denken, welchen diese Lehre, trotz der maßvollen Form, in welcher sie vorgetragen wurde, auf unsere jungen durstigen Seelen machte. Je seltener wir ein vernünftiges Wort zu hören bekamen, desto tiefer prägte sich jedes einzelne in uns ein. Selbstverständlich wurden wir alle eine Zeitlang begeisterte Herbartianer. Eine Vorstellung unter die »Schwelle des Bewußtseins« herabzudrücken, durch Hilfskräfte, die wir bezifferten, sie wieder über dieselbe emporsteigen zu lassen, machte uns nicht bloß Vergnügen, sondern galt auch für wissenschaftliche Thätigkeit. Das geheimnisvolle Wesen der Seelenvorgänge ergründeten wir freilich nicht. Immerhin wurden wir durch diese nüchterne Denkweise vor der wüsten phantastischen Spekulation bewahrt, in welche wir sonst bei unserer Unkenntnis der Dinge und dem völligen Mangel geistiger Zucht und Schulung rettungslos verfallen wären. Ich trat bald in ein näheres persönliches Verhältnis zu Exner. Ein kleiner Kreis von Exners Zuhörern hatte sich zu einem litterarischen Konventikel vereinigt, in welchem Aufsätze, auch Gedichte vorgelesen, über das Vorgelesene debattiert wurde: Die Protokolle unserer Sitzungen und einzelne der besseren Arbeiten überreichten wir in zierlicher Abschrift am Semesterschluß unserm Lehrer. Exner nahm die Gabe freundlich auf, lobte wenigstens unsern guten Willen und forderte die Einzelnen zum Besuche auf. Ich eilte, der Einladung zu folgen. Exner erkannte[27] nach kurzer Prüfung gar bald die großen Mängel meiner Bildung, die Zerfahrenheit, die vorschnelle Sicherheit im Urteil, die Hast, mit der ich ohne Kritik alles, was jemals gedruckt war, in mich aufnahm, das Sprunghafte in meinen Interessen. Er gab mir die Platonischen Dialoge und Lessings Schriften in die Hand, damit ich den Geist sammeln und mich in einen Gedankenkreis vertiefen lerne. Mit den Studien Platos ging es freilich langsam, desto eifriger arbeitete ich mich in Lessings Laokoon, die antiquarischen und kritischen Schriften hinein. Meine Kenntnis der deutschen Klassiker war bis dahin dürftig bestellt gewesen. Schillers Dramen hatte ich oft gelesen, einzelne auch auf der Bühne gehört, die Balladen kannte ich auswendig, da wir dieselben unter Swobodas Anleitung hatten in lateinische Reime übersetzen müssen, von Lessing wußte ich, daß er den Philotas geschrieben. Denn dieser prangte in den Lehrbüchern deutschen Stiles für die Gymnasien neben Engels Edelknaben als Muster des dramatischen Stiles. Goethes Namen aber war bisher für mich ein leerer Schall geblieben. In den Kreisen, in welchen ich lebte, besaß niemand seine Werke, ich glaube überhaupt nicht, daß man damals in den Privatbibliotheken Prags mehr als zwei Dutzend Exemplare seiner Werke zusammengebracht hätte. Wer sie besaß, einzelne jüdische Litteraturfreunde, ein paar Advokaten und ältere Beamte, hütete ängstlich den Schatz, damit er nicht jüngeren unbedachten Leuten in die Hände falle. Während sich Schiller in Österreich der größten Popularität erfreute, bestand gegen Goethe ein tief[28] gewurzeltes Vorurteil, welches erst in den letzten Jahrzehnten vollkommen verschwunden ist. Er galt für gefährlich, Glauben und Sitte lockernd.

Lessings Schriften führten mich in eine neue Welt. Ich hörte zum erstenmal von Winkelmanns und Herders Thaten, erfuhr zum erstenmal, daß die künstlerischen Schöpfungen festen Gesetzen unterstehen, nach Zeit und Gattung ihren regelmäßigen Wirkungskreis wechseln und empfing die ersten klaren Begriffe von einer wahrhaft aufbauenden wissenschaftlichen Kritik. Schwer wurde es mir, nachdem ich monatelang in dieser idealen Welt gelebt, in die trübselige wirkliche Prager Welt wieder herabzusteigen. Nach dem allgemein herrschenden Gebrauch ließ ich mich nach vollendetem philosophischen Kursus in der Juristen-Fakultät einschreiben. Ich dachte zwar nicht im geringsten daran, die Beamtenlaufbahn zu ergreifen. Dazu war ich, abgesehen von der innern Abneigung, viel zu arm. Ein Lehrerberuf stand mir schon damals fest vor Augen, nur schwankte ich noch zwischen Philosophie und Geschichte. Es galt nun einmal in Österreich das Herkommen, die Studentenjahre in einer Fachfakultät zu beschließen. In den Volkskreisen waren Jurist und Student gleichbedeutende Ausdrücke, und wer nicht Arzt oder Priester werden wollte, von dem nahm man mit Sicherheit an, daß er der Jurisprudenz sich zuwende. Ein Jurist kann alles werden – dieser Satz stand in der öffentlichen Meinung fest und wurde in der That auch durch die Erfahrung bestätigt. Zu Erziehern, Privatlehrern wählte man vorzugsweise Juristen und auch die[29] Professoren der philosophischen Fakultät hatten der Mehrzahl nach in ihrer Jugend juristische Vorlesungen gehört. Ich folgte dem allgemeinen Vorurteile. Die Lehrgegenstände des ersten Jahrganges waren Naturrecht und Staatenkunde mit Statistik verbunden. Das eine Fach trug ein schwächlicher alter Mann vor, welcher es dem Zuhörer auch bei dem besten Vorsatze unmöglich machte, die Augen länger als zehn Minuten offen zu halten. Ein viel schlimmerer Geselle war sein Kollege, der Professor der Statistik, namens Nowack. Derselbe war ursprünglich ein kleiner Beamter in Wien gewesen, hatte die Kammerjungfer aus einem vornehmen, ich glaube, erzherzoglichen Hause geheiratet und da diese versorgt werden mußte, so stellte man den Menschen, der nicht einmal juris Doctor war, kaum die oberflächlichste Bildung besaß, als Universitätsprofessor an. Er ärgerte uns schon durch die schamlose Protektion, welche er an elegant gekleideten, stutzermäßigen Zuhörern übte. Nach jeder Stunde hielt er einen förmlichen Cercle und erklärte, selbst ein lächerlicher alter Stutzer, seinen Günstlingen den richtigen Schnitt eines Frackes, den besten Bürstenstrich für Seidenhüte, die damals aufkamen, die Vorzüge der verschiedenen Toilettenseifen. Uns arme Teufel, die wir nicht modisch gekleidet gingen, behandelte er mit empörender Geringschätzung. Nicht genug daran. Der Tropf hatte einmal die Phrase vom Prokrustesbett gehört und sich in dieselbe blind verliebt. Das Gleichnis des Prokrustesbettes würzte jede Vorlesung. Das war mir zu arg. Leise für mich hatte ich schon mehrere Tage, wie oft das Prokrustesbett[30] von ihm aufgeschlagen wurde, gezählt. In der folgenden Vorlesung zählte ich halblaut und als im Laufe von wenigen Minuten das Prokrustesbett dreimal sich zeigte, rief ich ganz laut: »Zum dritten und letzen Mal!« packte meine Hefte zusammen und verließ den Hörsaal. Später vernahm ich, daß er mir eine gar schlimme Nachrede gehalten und mich als Schandfleck der Universität denunziert hatte.

Mein Juristendasein hatte drei Wochen gewährt. Abermals war ich auf Privatstudien angewiesen. Leider war Exner nach Wien übersiedelt, um dort an der endlich beschlossenen Studienreform für Universitäten und Gymnasien teilzunehmen. Doch fand sich bald ein anderer Stützpunkt in der Person des Dr. Smetana, eines Priesters des Kreuzherrnordens, der aber gleichzeitig ein Universitätsamt bekleidete. Smetana war gewissermaßen der Erbe Exners geworden. Er hatte zuerst als sogenannter Adjunkt desselben fungiert, mit der Verpflichtung, philosophische Repetitorien wöchentlich ein- bis zweimal zu leiten, dann nach Exners Abgang die Vorlesungen provisorisch übernommen. Bereits in den Repetitorien war ich ihm näher getreten. Aus dem »Geistersaal« des alten Heidelberger Paulus hatte ich über den äußern Verlauf der neuern Geschichte der Philosophie, namentlich über die Streitigkeiten zwischen Fichte und Schelling, allerhand Notizen aufgeschnappt, die ich in meinen Antworten und schriftlichen Arbeiten gebührend verwertete. Diese bei einem Prager Studenten wahrscheinlich nicht häufigen Kenntnisse erregten Smetanas Aufmerksamkeit[31] und führten zu einem persönlichen Verkehre. Nichts war natürlicher, als daß ich ihn an Exners Stelle als Ratgeber erkor. Wie erstaunte ich, als ich aus seinem Munde nach und nach gar harte Urteile über Herbarts System vernehmen und daß dasselbe mit Recht in Deutschland kaum beachtet werde, kaum vereinzelte Anhänger zähle, erfuhr. Da sei die Hegelsche Philosophie, wenn sie auch nicht die Wahrheit enthalte, von ganz anderem Schwunge und ungleich großartigerer Bedeutung. Diese müsse ich gründlich studieren, überhaupt über die Entwickelung der Philosophie seit Kant mir volle Klarheit verschaffen. Nicht ein Einzelsystem, sondern die offenbar gesetzmäßige Aufeinanderfolge der Systeme biete den Schlüssel zur wahren spekulativen Erkenntnis. Er lud mich ein, mit ihm und einem seiner Freunde gemeinsam die Hauptwerke Hegels zu lesen. Seine Wohnung befand sich in dem prächtig am Moldauufer gelegenen Kreuzherrenkloster, in welchem ich nun in den Jahren 1843 und 1844 fast täglich mehrere Nachmittagsstunden zubrachte. So kam ich wieder in eine ähnliche Umgebung, wie in meinen Kinderjahren.

Vieles fand ich bei den Kreuzherren gerade so, wie in dem Stifte Strahof, die gleiche Handwerkmäßigkeit in dem Erfassen der kirchlichen Pflichten, die gleiche Geringschätzung des geistlichen Standes, dieselbe Versunkenheit in materielles Leben und – wofür mir erst jetzt die Augen aufgingen – dieselbe Sittenlosigkeit. Da gab es Priester, welche schon am Morgen nach dem Speisezettel sich erkundigten und, wenn er nach ihrem Sinn war, laut die zu erwartenden[32] Genüsse von Zelle zu Zelle verkündigten. Andere vertrieben sich die Zeit bei Kartenspiel und Bier, noch andere lauerten den Küchendirnen auf und priesen unverschämt die Reize der Klosterköchin, welche wegen ihrer imposanten Figur bei allen Insassen den Namen Maria Theresia führte und mit vielen der jüngeren Kleriker in einem Liebesverhältnisse stand; fast alle waren darin einig, den kirchlichen Dienst als eine langweilige, unwürdige Knechtsarbeit zu betrachten. Wohl gab es auch ernstere, besser gesinnte Männer in der Klostergemeinde. Diese waren durchgängig von einem politischen und religiösen Radikalismus angehaucht. Es war ein katholisches Kloster, aber gläubige Katholiken waren darin die letzten, welche man suchte und fand. Zu den Ungläubigsten und Radikalsten gehörte Smetana. Seltsame Wandlungen hatte der Mann durchgemacht. Als Sohn eines Prager Küsters lebte er von Kindheit an fast nur in der Kirche und für die Kirche. Strengste Gläubigkeit erfüllte seine Seele und steigerte sich in seinen Jünglingsjahren bis zu einer mystischen Frömmigkeit. Er erzählt selbst in seiner lesenswerten Autobiographie, wie er vor Marienbildern in Verzückung kniete und in Andacht und Hingebung an die himmlischen Heiligen sich förmlich aufgelöst fühlte. In den geistlichen Stand zu treten war sein höchster Wunsch, ein frommer Klosterbewohner, der frei von weltlichen Sorgen, nur der Religion diente, sein Ideal. Der Wunsch wurde erfüllt, Smetana in seinem neunzehnten Jahre in den Orden der Kreuzherren aufgenommen. Hier entrollte sich ein ganz anderes Bild[33] vor seinen Augen. Gar bald entdeckte er die schlimmen Seiten des Klosterlebens, die sittliche Verwilderung oder geistige Beschränktheit der Brüder, die Hohlheit der kirchlichen Einrichtungen. Er zerfiel mit seinem Stande und verfluchte seinen Beruf, besaß aber doch nicht die Thatkraft, demselben rechtzeitig zu entsagen. Bereits hatte sich seiner der in Klöstern rasch wuchernde Quietismus bemächtigt. Er hatte keine Nahrungssorgen; eine reiche Muße stand ihm zur Verfügung, und was ihm in seinen geistlichen Pflichten lästig oder widersinnig erschien, hoffte er sanft dadurch abschütteln zu können, daß er nicht zur praktischen Seelsorge, sondern zu einem Lehramt an der Universität, wie so mancher Ordensbruder, bestimmt wurde. Er warf sich auf das Studium der Philosophie, erwarb auch nach einigen Jahren den Doktorgrad und erhielt eine provisorische Anstellung an der philosophischen Fakultät. Freilich war das Studium Spinozas, Kants und Hegels nicht geeignet, ihn mit seinem Stande innerlich auszusöhnen. Er rettete sich aus der Verwilderung der Sitten und aus der gemeinen materiellen Auffassung des Lebens, er gab aber dafür den Glauben an die katholischen Dogmen preis und zerschnitt auf diese Art das letzte Band, das ihn an die Ordensgemeinschaft geknüpft hatte. Im Kloster besaß Smetana keinen Freund, kaum einen Bekannten –, wie ein Fremdling wanderte er unter den Genossen herum, die ihn nicht verstanden, auch um seine größere Freiheit beneideten, und allgemein, da er ihre Vergnügungen nicht teilte, als einen hochmütigen, ungenießbaren Menschen haßten. Um so eifriger war er bemüht, sich außerhalb[34] des Klosters Freunde und Anhänger zu erwerben. Bald sammelte sich ein Kreis junger Männer um ihn, welche, von liberalen Anschauungen erfüllt, namentlich in der Anlehnung an die zwar polizeilich verpönte, aber doch auf Hintertreppen leicht zugängliche jungdeutsche und junghegelsche Litteratur das Heil für ihre freiheits- und wissensdurstigen Seelen zu finden hofften. Smetanas bester Freund und eifrigster Besucher war ein czechischer Schauspieler und Dichter, Georg Kolar, derselbe, welchen mir Smetana als dritten Teilnehmer an unsern Hegelstudien bezeichnet hatte.

Auf komische Art war Smetana zu diesen Freunde gekommen. Er besuchte eifrig das Theater, nicht das deutsche, da die Vorstellungen auf der deutschen Bühne in die späten Abendstunden fielen, wo die Klosterpforte schon geschlossen war, sondern das czechische Theater, welches Sonntags in den Nachmittagsstunden spielte. Als erste Liebhaberin war Frau Kolar engagiert, in der That eine Zierde der czechischen Bühne, welcher sie seit ihren Mädchenjahren angehörte und welcher zuliebe Freund Kolar den Juristenberuf mit dem eines Schauspielers vertauscht hatte. In Frau Kolar war Smetana, eine leicht entzündliche, überspannte Natur, sterblich verliebt. Sie bloß aus der Ferne bewundern zu dürfen, genügte ihm nicht. Eines schönen Tages suchte er den Gatten auf, um ihm mitzuteilen, daß er die Frau anbete und deshalb auch mit dem Manne Freundschaft zu schließen wünsche. Kolar sah den seltsamen Bittsteller staunend an. Smetana mit seiner Mulattenfarbe, seinen häßlich aufgeworfenen Lippen, mit seinem stark gewölbten[35] Rücken, seiner vorgebeugten Haltung und blöden Bewegung kam ihm nicht als gefährlicher Rival vor. Die Offenheit des Bekenntnisses imponierte ihm. Er ging auf Smetanas Anerbieten ein, zog aber doch vor, statt ihn bei sich zu empfangen, ihn lieber in der Klosterzelle aufzusuchen, deren häufigster Gast er wurde.

Die Lesestunde kam in Gang. Der eifrigste und für Hegel empfänglichste Leser war Kolar. Er konnte sich in einen wahren Rausch hineinlesen. Wir hatten mit der »Phänomenologie des Geistes« begonnen. Bei einzelnen Stellen, in welchen der dialektische Prozeß so recht kühn und hoch wogte, die souveräne Gewalt des Absoluten sich insbesondere deutlich zeigte, da litt es ihn nicht auf dem Stuhl; er sprang auf den Tisch (wir ihm nach) und deklamierte mit tönender Stimme halbe Seiten. Ein paarmal in der Woche vergrößerte sich unser Kreis. Kolar führte mehrere Schauspieler ein, welche das gute Bier vielleicht noch stärker lockte wie unsere Unterhaltung. Ein junger, feuriger Arzt, Dr. Zimmer, welcher nachmals die Teilnahme am Stuttgarter Rumpfparlamente mit mehrjähriger Haft büßen mußte, gesellte sich zu uns, ebenso einzelne Studiengenossen Smetanas. Mir ist namentlich ein junger Rechnungsbeamter Fritsch erinnerlich, welcher seine Mußestunden mit meteorologischen Studien ausfüllte und später Direktor der meteorologischen Lehranstalt in Wien wurde, und dann ein gutmütiger Geselle, namens Nahlowsky. Dieser schwärmte gleichmäßig für Herbart und Beethoven, kam aber wiederholt mit seinen Idealen[36] in Konflikt, da er die Programmmusik liebte, welche namentlich nach Herbarts ästhetischen Lehren ein Unding ist. Er wurde von uns arg gehänselt und wegen seines furchtsamen, fast kriechenden Wesens verspottet. Auch ein Polizeispion weilte unter uns. Zufällig erfuhren wir in späterer Zeit, daß die Polizei von unserm Treiben genau unterrichtet war, und welche politische Ansichten von jedem Einzelnen von uns verteidigt wurden, genau wußte. Den falschen Freund haben wir niemals erraten.

Über Jahr und Tag hatte bereits das gemeinsame Hegelstudium gedauert. Es mußte in mir noch ein Stück Herbartschen Sauerteiges zurückgeblieben sein, welches mich immer an der Wahrheit der Hegelschen Lehren zweifeln machte. Ich gestand Smetana, als ich eines Tages mit ihm allein war, offen meine geringe Befriedigung. Da öffnete er behutsam die Thür, sah sich sorgfältig um, ob niemand auf der Flur lausche, verschloß dann mit dem Schlüssel die Thür und zog aus einem Schranke ein großes Papierheft heraus: Hier ist die Wahrheit, hier ist die Lösung aller Rätsel! Mit leuchtenden Augen und in begeisterten Worten erzählte er mir, auch er hätte lange geirrt und geschwankt, bald diesem, bald jenem Philosophen sich zugeneigt, endlich aber durch eigenes Nachdenken das Weltsystem begriffen und die Entwickelung der äußern und innern Welt von den Nebelflecken bis zum absoluten Geiste ergründet. Die Papiere, die er in den Händen halte, wären sein größter Schatz, aber auch für die Menschheit von höchstem Werte, denn wenn er sein System publiziere,[37] dann habe es mit der Philosophie für immer ein Ende, werde endlich die reine Wahrheit jedermann zugänglich sein. Diesen Schatz zu hüten, müsse ich ihm helfen. Die Originalhandschrift könne leicht durch Feuer gestört, oder ihm im Kloster entwendet werden. Er wolle mir daher den Text diktieren und die Abschrift an einem sichern Ort bewahren. Ich war kaum zwanzig Jahre alt und wollte so gern die Wahrheit wissen. Wie hätte ich nicht dem Manne glauben sollen, aus dessen Worten eine so unerschütterlich feste Überzeugung sprach und welcher mit so vornehmer Ruhe über den Erfolg seines Werkes urteilte. Freudig willigte ich ein und pilgerte von nun auch täglich in den frühesten Morgenstunden nach dem Kloster, um »den Geist, seine Entstehung und Vernichtung«, so lautete der Titel des Werkes, kennen zu lernen. Das mechanische Geschäft des Nachschreibens förderte das Verständnis nicht sonderlich, aber auch als ich später die einzelnen Kapitel im Zusammenhang durchlas, blieb ich vor einem verschlossenen Thore stehen. Das Buch machte auf mich den Eindruck, als wären in merkwürdiger Weise katholischmystische Phantasieen mit Hegelschen Ideen vermischt. Die Zwischenalter, in welchen die eigentliche Weltentwickelung wie hinter der Scene vor sich ging (zwischen dem Mineral- und dem Pflanzenreich statuierte Smetana ein jenseitiges Übermineralreich, welches den Übergang vom Stein zur Pflanze vermittelte und so ähnlich), erschienen mir als kümmerlicher Notbehelf, die Auflösung der Menschheit in Geister, die im Lichte aufgehen, in eine einzige dumpfe[38] Empfindung sich verflüchtigen, erinnerte an buddhistische Träume. Ich wurde stark ernüchtert. Dazu trug wesentlich der Umstand bei, daß meine Studien allmählich eine festere Richtung angenommen hatten. Von Hegels Schriften hatte mich die Ästhetik und Philosophie der Geschichte am meisten gefesselt. Auf diesem Grunde wollte ich weiter bauen, zunächst Material sammeln und mit den historischen Thatsachen bekannt werden. Was ich an Büchern über die Geschichte und Kultur des alten Orients und der Antike auftreiben konnte, – natürlich waren es meistens Quellen zweiten und dritten Ranges – wurde eifrig studiert und excerpiert. Als ich dann daran ging, aus den vielen hundert Bogen von Auszügen und Notizen einzelne Abhandlungen über die Stellung Chinas, Indiens, Vorderasiens, Griechenlands in der Weltgeschichte zusammenzustellen, da fielen gar bald die Schilderungen der landschaftlichen Natur, der Politik und Litteratur wie Spreu zu Boden. Ich merkte, mit der Ausdehnung der Stoffkreise wachse in bedenklicher Weise die Oberflächlichkeit der Behandlung. Nur die Studien über die Kunstentwickelung hafteten fest und nahmen immer mehr mein ausschließliches Interesse in Anspruch. Die Bilderfreude aus meinen Kinderjahren erwachte mit neuer Stärke und half mir, die historische Betrachtungsweise fruchtbar und genußreich zu machen. Diesen Studien bin ich seitdem, wenn nicht politische Ereignisse störend dazwischen traten und meine Thätigkeit zeitweise in andere Bahnen lenkten, immer treu geblieben.[39]

Quelle:
Springer, Anton: Aus meinem Leben. Berlin 1892, S. 25-40.
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