7. Tübingen.

[102] Mein erster Besuch galt Schwegler. Er war anfangs über meine jugendliche Erscheinung etwas verblüfft, da er mich für älter gehalten hatte. Nachdem ich ihm meinen Lebenslauf gebeichtet hatte, meine Kämpfe geschildert, meine Pläne und Wünsche dargelegt, sprach er mir Mut zu. Ich solle vorläufig mich in Tübingen niederlassen, ab und zu in Vorlesungen hospitieren, um mich an den akademischen Ton zu gewöhnen, in persönlichem Verkehr mit Lehrern die herrschenden Strömungen kennen lernen und im Laufe des Winters meine Doktordissertation ausarbeiten. Dann stehe es mir noch immer frei, entweder als Privatdozent in Tübingen zu bleiben oder an einer andern Universität mein Glück zu versuchen. Er glaube an die Möglichkeit eines Erfolges in Tübingen, da Vischer schon oft eine Ergänzung seiner ästhetischen Wirksamkeit durch einen Kunsthistoriker gewünscht habe, durch Vischer jedenfalls das Kunstinteresse unter den Studenten in hohem Grade gefördert werde.

Mein zweiter Gang führte mich in den Buchladen, wo ich Goethes sämtliche Werke kaufte. Eine Doppelschranke[102] hemmte den raschen Eintritt des Österreichers in das Reich lebendiger deutscher Bildung. Er konnte seinen Sprachschatz nicht aus Luthers Bibel sammeln und stand Goethe fremd gegenüber. Die Bibel war in Österreich kein Hausbuch, vollends die Luthersche Übersetzung arg verpönt. Eine Fülle der glücklichsten Redewendungen und kräftiger, das Schwarze treffender Ausdrücke, welche dem deutschen Protestanten von Kindheit an geläufig sind, hatte der katholische Österreicher in seiner Jugend niemals gehört. Ihm wurde es daher schwer, volkstümlich, ungekünstelt zu schreiben, seine Muttersprache nach der Tiefe hin auszubilden. Ebenso erwarb sich von allen deutschen Klassikern Goethe am spätesten in Österreich das Bürgerrecht und übte auf Sprachsinn und Stilgefühl gar keinen Einfluß. Die eine Schranke wollte ich wenigstens sobald als möglich wegräumen und so erwarb ich, trotz knapper Geldmittel, die stattliche Ausgabe in dreißig Bänden, und zwar gleich in festen Einbänden, um ja keine Stunde zu versäumen. Es war eine glückliche Zeit, in welcher ich mich behaglich in Goethe einlebte, jedes Wort in mich aufnehmen konnte und den Meister nicht bloß im glänzenden Staatsgewande, sondern auch im einfachen Hausrock, in seinen kleinen Schriften und Aufsätzen kennen lernte. Die in Österreich verehrten Götter: Schiller und Jean Paul traten völlig in den Hintergrund zurück.

In kurzer Zeit wurde ich in Tübingen heimisch. Die Tagesstunden verbrachte ich in meinem kleinen Stübchen in der Neckarhalde oder in der Bibliothek bei der Arbeit. Den Mittagstisch im Museum, die Tasse Kaffee bei Frau[103] Müller an der Neckarbrücke nahm ich gemeinsam mit einigen Dozenten und jüngeren Beamten, und auch der Abend führte uns öfter zu einem Schoppen Wein zusammen. Natürlich schloß ich mich dem Kreise am engsten an, welcher in den Jahrbüchern der Gegenwart seinen Mittelpunkt besaß, in politischen und religiösen Dingen liberal dachte und gegen die wissenschaftliche Schablone, den rein mechanischen Betrieb der Universitätsfächer scharf zu Felde zog. Die Seele unsrer Versammlungen war Friedrich Vischer. Die über ihn verhängte Disziplinarstrafe, das Verbot der Vorlesungen auf ein Jahr, hatte er kurz vorher überstanden. Er fühlte sich durch die neuerwachte Teilnahme der Studenten gehoben, durch das längere Stillleben gekräftigt. Sein Erfolg als Lehrer war größer als je. In Haß und Liebe der Alte, ließ er doch im Privatverkehre jetzt einen fröhlichern Ton walten. Vischer leitete regelmäßig bei unserm Zusammentreffen den Gang der Gespräche, führte vorwiegend das Wort und hielt uns durch geistreiche Scherze, pikante Witze, scharfe satirische Hiebe in unaufhörlicher Bewegung. Vorausgesetzt, daß er guter Laune war. Leider genügte oft schon eine Kleinigkeit, um sie zu stören. Wenn sich z.B. die sogenannte Amtspflege, der Messingapparat zum Stopfen und Räumen der Pfeife, oder der Becher mit Fibibus nicht an der gewohnten Stelle, links von seiner Hand befanden, so blieb er für eine gute Viertelstunde verschnupft und verärgert. Leicht faßte er auch eine rein sachliche Bemerkung persönlich auf und schleuderte dann unbarmherzig auf den Gegner spitze Pfeile. Man mußte[104] sich überhaupt erst an seine eigentümlich kräftige Ausdrucksweise, an seine lebhaften Phantasiebildungen gewöhnen, um nicht unwillkürlich anzustoßen. So gab es gleich in den ersten Tagen ein arges Mißverständnis. Vischer hatte mir von seinem Hans erzählt, einem kleinen Prachtkerl, immer munter, immer in Bewegung, der zwar der Frau schlecht gehorche, ihm aber auf das Wort folge, dabei schon so klug, daß man mit ihm über alles sprechen könne. Ich dachte nicht anders, als daß von seinem Söhnchen die Rede sei. Bald darauf besuchte ich seine Frau, eine Dalmatinerin von fesselndem slawischen Typus, aber leider einem geringen Verständnis für die Interessen ihres Mannes. Sie klagte mir, daß sie sich oft ganz einsam fühle. Da meinte ich, einen guten Trost zu spenden, indem ich auf Hans hinwies, der ihr gewiß große Freude mache. »Das ist ja der Hund!« rief sie lachend. Ich hatte in meiner Unschuld den Hund mit dem Sohn verwechselt, was übrigens verzeihlich war, da Vischer es liebte, mit Hans wie mit einer vernünftigen Person zu verkehren. Noch später hatte ich oft, wenn er von Schelmenstreichen in seinem Hause erzählte, die Frage auf den Lippen: Meinen Sie Hans oder Robert?

Zu unserm Kreise gehörte außer Vischer und Schwegler der Professor der Staatswirtschaft I. Fallati, ein Hamburger von Geburt, der Mediziner Griesinger, später als Irrenarzt berühmt, der Stiftsbibliothekar Dr. Reichardt, die Dozenten Köstlin, Planck und Köhler, der Zeichenlehrer an der Universität, Leibnitz, und einige liberale Gerichtsbeamte. Einmal in der Woche traten auch Uhland und Karl Mayer[105] hinzu. Uhland verhielt sich in der Regel schweigsam. Ein einziges Mal im Laufe des Winters entfesselte Zorn in ihm einen mächtigen Redestrom. Auf dem Turm hatte die Glocke noch nicht zehn Uhr ausgeschlagen, als ein Polizeidiener erschien, um uns Feierabend zu bieten. Nun war es allgemeiner Brauch, noch ein akademisches Viertel zuzugeben, gegenüber in der Post saßen die Regierungsbeamten oft bis elf Uhr ungestört zusammen. Wir befanden uns überdies nicht in der allgemeinen Wirtsstube, sondern in einem abgeschlossenen Privatzimmer des Museums. Wir wollten alle gegen die offenbare Polizeibosheit laut protestieren. Aber Uhland kam uns zuvor. In unverfälschter schwäbischer Mundart schüttelte er einen Sack von Grobheiten auf den Polizeidiener, so daß dieser betroffen schnell die Thüre suchte. Dann hielt er aber zu unserer Überraschung eine förmliche politische Rede, in welcher er die schwäbischen »Befehlerle's« brandmarkte, und das im großen unfähige und feige, im kleinen brutale Regierungssystem Würtembergs ausmalte. Beim Nachhausegehen meinte Fallati: »Jetzt werde ich jeden auslachen, welcher Uhland die Redegabe abspricht.«

Die Mehrzahl der Genossen waren Stiftler, entweder in dem evangelisch-theologischen Seminar, dem sogenannten Stifte, ausgebildet, oder noch mit ihm durch das Amt verbunden. Lauter grundgelehrte, scharfdenkende Männer, lautere Charaktere, fest in ihrer Überzeugung, gewissenhaft in ihrem ganzen Wesen, aber fast alle angekränkelte und angebrochene Naturen. Sie hatten wohl innerlich die abstrakte Stiftlerbildung[106] überwunden, fanden aber schon schwer den Übergang zu freieren Lebensformen und einer frischern Weltanschauung. Aus dem Kopfe hatten sie den Stiftler vertrieben, im Buckel, in den Armen und Beinen steckte er noch immer. Die ihnen anerzogene Stumpfheit gegen die Kraft sinnlicher Eindrücke konnte nur mühsam bekämpft werden, die Anerkennung der Macht der Thatsachen kostete schwere Arbeit. Immer drohte die Gefahr, in die Gewohnheit allgemeiner Abstraktionen und Spekulationen zurückzufallen. Selbst Schwegler, von Natur energisch und rücksichtslos, sprengte nur langsam die Fessel der Stiftlerbildung. Er klagte bitter über die verlorenen Jahre und fürchtete, nie mehr sein Leben harmonisch ausgestalten zu können. Die theologische Laufbahn hatte er aufgegeben, dem philosophischen Lehramte sich zugewandt. Wenn er auch vorwiegend die Geschichte der Philosophie trieb, so blieb es doch nicht aus, daß er sich wiederholt im Walde der Spekulation verstrickte, welcher er doch entfliehen wollte. Schon damals hegte er den Wunsch, sich ausschließlich dem Studium der alten Geschichte zu widmen, wobei ihm die gediegene philologische Gelehrsamkeit die größte Hilfe bringen mußte. Er seufzte nur, daß es ihm schwer falle, die einzelnen Nachrichten zu geschlossenen Bildern zu fassen und das Leben der Alten sich farbig auszumalen. »Zu historischer Kritik wurden wir im Stifte angeleitet, von historischen Darstellungen besitzen wir keine Ahnung.«

Diese und noch viele andere Dinge wurden in den kurzen Plauderstündchen erörtert, zu welchen wir allabendlich[107] nach gethaner Arbeit zusammen kamen. In diesen traulichen Zwiegesprächen gewann ich von dem wissenschaftlichen Treiben der Gegenwart eine bessere Kunde, als in den Vorlesungen, welche ich ab und zu besuchte. Das Hospitieren gab ich bald auf, denn ich merkte, daß namentlich die älteren Lehrer dasselbe nicht liebten, durch die Anwesenheit eines Fremden in Verlegenheit gebracht wurden. Einzelne baten ausdrücklich um Einstellung meiner Besuche. Am längsten hielt ich bei Vischer aus. Leider zeigte er sich gerade in diesem Semester nicht in seiner wahren Gestalt. Unter allen Vorwürfen, welche die Gegner gegen ihn geschleudert hatten, erbitterte ihn keiner so heftig, als der angebliche Mangel an streng wissenschaftlicher Form seiner Vorlesungen. Er wollte den Leuten zeigen, daß er auch grundgelehrt vortragen könne, wenn er nur wolle. In den Vorlesungen über Ästhetik, erster Teil, welche er im Winter hielt, that er offenbar des Guten zu viel. Er diktierte immer erst einen Paragraphen und gab dann eine ausführliche Erläuterung der einzelnen Teile desselben. Absichtlich steckte er sich in die schwerste spekulative Rüstung und wahrte der Hegelschen Terminologie ihr volles Recht. Nur ab und zu guckte der Schalk aus dem Helm heraus und durchbrachen einzelne geistreiche Wendungen und witzige Spitzen den eintönig gelehrten Vortrag. Übrigens mußte ich bald aus äußeren Gründen den Besuch der Vorlesungen einschränken. Je weiter der Winter vorschritt, desto mehr nahm die Politik Zeit und Interesse in Anspruch. Mit fieberhafter Spannung verfolgten wir den Sonderbundskrieg,[108] über dessen Verlauf die Briefe einberufener schweizer Studenten uns eingehend unterrichteten. Anfangs überwog die Sorge, ob die liberalen Kantone dem Ansturm der reaktionären Weltmächte widerstehen würden. Um so größer war der Jubel, als der Sonderbund, trotz Landsknechten und Jesuiten, österreichischer Waffen und französischen Geldes, jämmerlich zusammenbrach und der Liberalismus zum erstenmal seit vielen Jahren einen vollen, durch nichts getrübten Sieg feierte. So war er also doch eine Macht, praktische Erfolge, so lange selbst von den eigenen Anhängern bezweifelt, keineswegs von der Zukunft ausgeschlossen. Unsere politischen Hoffnungen schwollen gewaltig an und wo bisher teilnahmlose Entsagung, Kleingläubigkeit, dumpfe Verbitterung herrschte, regte sich die Lust zu wirken und zu handeln. Der Rückschlag auf die deutschen Dinge ließ nicht auf sich warten. Die Verfassungskämpfe in Preußen wurden immer heftiger, im benachbarten Baden hob die Kammeropposition immer mächtiger das Haupt, in Bayern drohte eine sinnliche Verirrung des Regenten das Band zwischen der Dynastie und dem Volke zu zerreißen. Die allgemeinen Wünsche und unklaren Träume begannen sich zu bestimmten Forderungen zu formen, überall traten die politisch gereiften Männer einander näher, um sich zu einer großen Nationalpartei zusammenzuschließen. Die Gründung der »Deutschen Zeitung« in Heidelberg war die Furcht dieses Strebens. Der politische Idealismus feierte goldene Tage. Wir glaubten und hofften, daß alle staatlichen Reformen ohne schwere und lange Kämpfe eingeführt würden,[109] dank der Nachgiebigkeit der Regierungen und des maßvollen Sinnes im Volke, und ahnten nicht, daß an Stelle des beschränkten Unterthanenverstandes, der ebenso beschränkte souveräne Dünkel treten, die politische Rohheit der Massen der tönenden aber hohlen Phrase zur Herrschaft verhelfen werde.

Der politische Umschlag hatte auch für mich persönliche Folgen. Schwegler empfand es immer peinlicher, daß die Jahrbücher der Gegenwart als Monatsschrift stets den Ereignissen nachhinkten. Oft waren die letzteren bei dem raschen Laufe der Dinge schon halb vergessen, ehe sie in den Jahrbüchern erörtert wurden. Sie in eine Wochenschrift zu verwandeln, ging nicht an, da sie den schärferen Censurvorschriften wäre unterworfen gewesen. Schwegler entschloß sich daher zu einer zehntägigen Ausgabe. Dreimal im Monat sollte eine Nummer von einem bis zwei Bogen ausgegeben, der Politik und den unmittelbaren Tagesinteressen ein größerer Spielraum gegönnt, die Redaktion aber von ihm und mir gemeinsam geführt werden. Am 1. Januar 1848 erschienen die Jahrbücher zum erstenmal in der neuen Gestalt. Die Arbeit, namentlich der weitläufige Briefwechsel, war für einen Anfänger ziemlich beträchtlich, aber auch die Befriedigung, mitten im Strome fröhlich mitzuschwimmen, groß. Noch in anderer Weise wurde ich der praktischen Politik näher gebracht. Schon längst war der Wunsch der liberalen Tübinger Gelehrten gewesen, mit der ständischen Opposition, an deren Spitze der alte Römer stand, engere Beziehungen anzuknüpfen.[110] David Strauß, welcher in Stuttgart ganz heimisch war, übernahm die Vermittelung. Es wurden regelmäßige Zusammenkünfte in einer stillen Stuttgarter Weinstube verabredet, an welchen von den Tübingern Vischer und ich am eifrigsten teilnahmen. Die lange Fahrt im Stellwagen, übrigens nicht länger als die spätere Eisenbahnfahrt von Tübingen nach Stuttgart, verkürzte Vischer, ohne daß ich etwas weiteres zu thun hatte, als die Ohren offen zu halten. Immer lebendig und anregend, immer bereit, die Dinge unter einen überraschend neuen Gesichtspunkt zu stellen, geistreich zu beleuchten, reich an Paradoxen, aber nicht minder reich an Kernsprüchen, brachte er es zuwege, daß wir stets das Ende der Fahrt bedauerten. Bald unterhielt er uns über den wahrscheinlichen Verlauf der Reform oder der Revolution – denn allmählich begann das häßliche Wort bei uns häufiger über die Lippen zu strömen. Eine politische Revolution müsse auch von einer ästhetischen begleitet werden. Er malte die Erscheinungsweise der künftigen freien Menschheit farbig aus, erging sich in Schilderungen der rechten manneswürdigen Tracht. Die Trachtenfrage spielte überhaupt in seinen Gesprächen eine große Rolle. Forschte man freilich genauer nach, so ergab sich, daß er eigentlich nur den umstehenden Rockkragen, das »Pferdekummet« und den falschen (affenschändigen) Sitz der Taille hasse, in einem festgeschlossenen, grünen, kurzen Rock und grauen, weiten Beinkleidern das Ideal der freien Tracht erblickte. Über die richtige Stiefelform kam er nie in das Reine. »Sie wollen uns ja alle zu Förstern machen«, war[111] häufig die Gegenrede. Der Widerspruch erregte gerade bei diesem Anlaß seinen heftigen Zorn. Wer mit Vischer gut stehen wollte, durfte über seine ideale Männertracht keine Witze machen. Als er sich einmal in eigener Person, nachdem er uns lange darauf vorbereitet, und wie ein Kleid »gebaut« werden müsse, erörtert hatte, im grünen Röckchen, grauen Hosen und grauen Schlapphut zeigte und einzelne von uns das Lachen über die durchaus nicht anmutende, sondern recht schwerfällige, etwas schneidermäßige Erscheinung nicht unterdrückten, wurde er ernstlich böse. Doch zurück zu unsern Postfahrten! Viehhändlern, welche gern, sobald sie die Kutsche bestiegen, ihre schweren Stiefeln auszogen und in ausgetretenen Pantoffeln es sich bequem machten, hielt er halb grobe, halb launige Vorträge über Anstandslehre. Mit Gemeinderäten erörterte er die Lokalpolitik und ließ sich von ihren Nöten und Kämpfen erzählen. Präzeptoren gaben Anlaß zum Austausch persönlicher Erinnerungen. Nur wenn ein Helfer oder Diakon eine Strecke mitfuhr, blieb er stumm und gab höchstens einige Knurrlaute von sich.

Zu den wertvollsten Bekanntschaften bei den Stuttgarter Zusammenkünften gehörte jene Christian Märklins. Die Tübinger waren seines Lobes voll, priesen ihn einstimmig als den tüchtigsten Charakter des ganzen Kreises. Vischer, der für persönliche Schwächen ein gar scharfes Auge hatte, nannte ihn stets einen ganzen Mann, den einzigen, welcher den Stifter in seinem Wesen vollständig begraben hätte. Wie hoch Strauß ihn stellte, sagt uns[112] sein Buch über Märklin, die beste Biographie, welche er geschrieben hat, gleichzeitig ein Ehrendenkmal für den Freund, wie ein wichtiger Beitrag für die Kenntnis der geistigen Kämpfe vor dem Jahre 1848. Märklin war ein Studiengenosse von Strauß und Vischer gewesen, hatte mit ihnen im kleinen Seminar von Blaubeuren, wie im Stifte in Tübingen Leid und Freud geteilt und nachdem er wacker und ehrlich durch theologische und philosophische Systeme sich durchgekämpft, im praktischen Lehrfach (in Heilbronn) Frieden und einen ihm zusagenden Beruf gefunden. Was ihn von den Genossen unterschied, war sein praktischer Sinn, seine klare, ruhige Anschauung der Dinge, sein unbestechliches Urteil. Bei Vischer übte Temperament und augenblickliche Laune oft einen unberechenbaren Einfluß auf das Urteil. Er hätschelte mit Vorliebe seine persönlichen Schwächen und gab ihnen eine Wichtigkeit, als ob das Weltheil von ihrer Befriedigung abhinge. In Strauß hatte die Kühnheit seiner Anschauungen, die geniale Freiheit nicht vermocht, gewisse Züge eines spießbürgerlichen Konservatismus gänzlich zu verwischen. So kam eine gewisse Schüchternheit und gewundene Zaghaftigkeit in sein Wesen. Märklin dagegen stand fest und tapfer für die Sache ein, sobald er sie als die rechte erkannt hatte und ließ sich durch kleine Bedenken, durch persönliche Stimmungen von dem einmal eingeschlagenen Wege nicht ablenken. Praktisch denken, kräftig handeln, that nach seiner Meinung den Deutschen, besonders den eigenen Stammesgenossen, am meisten not. Dieses Ziel zu fördern, darauf war sein Absehen vornehmlich[113] gerichtet. Hätte ihm das Schicksal ein längeres Leben gegönnt (er starb unerwartet schon im Jahre 1849), so würde er in der Heimat gewiß eine hervorragende politische Stellung gewonnen haben. Auch bei unsern Zusammenkünften kam seine vornehme, klare Natur zur Geltung. Die Mitglieder des Landtags erschraken denn doch zuweilen über die Opfer, welche dem Partikularismus durch eine stramme Einheit Deutschlands zugemutet würden, die Abneigung gegen Preußen, die großdeutschen Träumereien ballten alle Pläne in abstrakte, leblose Formen. Märklin allein kam immer wieder auf den Satz zurück, daß, wer das Ganze wolle, sich nicht mit abgeschlagenen Splittern begnügen dürfe, und verteidigte ihn mit gewinnendem Eifer, wie er auch am kräftigsten das Mißtrauen gegen die preußische Führung zurückwies.

Es machte sich von selbst, daß ich bei dem öftern Aufenthalt in Stuttgart mit dem Schwäbischen Merkur, der würtembergischen Hauptzeitung, in Verbindung trat. Ich lieferte für die Beilage, Die Schwäbische Chronik, mehrere kleine Artikel und focht auch in ihr einen größern Streit aus. Nach altem Gesetz durften in Tübingen zwar Seiltänzer, Kunstreiter und ähnliches fahrendes Volk ihre Künste zeigen, Theateraufführungen dagegen waren im Weichbilde der Universitätsstadt streng untersagt. Da machte ein anständiger Theaterunternehmer, ein Schüler Immermanns, Namens Kramer oder Kraner, das Angebot, im Laufe des Winters eine Reihe klassischer Vorstellungen zu geben. Vischer war für diesen Plan Feuer und Flamme.[114] Mir übertrug er die Aufgabe, in der Presse dafür zu wirken und das Ministerium zur Rücknahme des veralteten Verbotes zu bewegen. Ich stieß in ein arges Wespennest. Die Pietisten im Lande erhoben einen greulichen Lärm, allen voran der sogenannte Zionswächter Hoffmann in Ludwigsburg, und verdammten nicht allein den Plan, sondern auch seine Förderer in der Presse. Wie tief mußten die gottlosen Junghegelianer gesunken sein, daß sie einen hergelaufenen Österreicher als Advokaten wählten. Der österreichische Gesandte wurde angewiesen, meiner verderblichen Wirksamkeit ein rasches Ende zu setzen. Zum Glück schützte mich noch vorläufig ein regelrechter Paß; aus Vorsicht ließ ich mir doch durch die Vermittelung des alten braven Prokurator Lang das Gemeindebürgerrecht in einer kleinen würtembergischen Stadt (Echterdingen) zusichern.

Unterdessen hatte ich meine Doktordissertation vollendet und zur Prüfung eingereicht. Anfangs März 1848 erhielt ich das Doktordiplom. Gegenstand der ziemlich umfangreichen Abhandlung war die Kritik der Hegelschen Geschichtsanschauung. Ich wollte den künstlichen Aufbau des Systems nachweisen und die inneren Widersprüche in Hegels Philosophie der Geschichte darlegen, also das Werk fortsetzen, welches Trendelenburg an der Logik Hegels, mein Lehrer Exner an der Psychologie vollführt hatten. Indem ich mich noch einmal in die Hegelsche Philosophie vertiefte, Schritt für Schritt ihr willkürliches Spiel mit den Thatsachen verfolgte, hoffte ich zugleich, den spekulativen Mantel, soweit er noch um meine Schultern lose hing, völlig abzuwerfen.[115] Die Häutung gelang. Ich habe seitdem der schulmäßigen Spekulation allen Einfluß auf meine Gedankenbildung gewehrt. Dieser persönliche Vorteil war der einzige Nutzen, welchen mir die Schrift schaffte. Sie wurde ohne Sang und Klang begraben, meines Wissens niemals in einem kritischen Blatte besprochen, oder auch nur in irgend einem Buche, welches von der Philosophie der Geschichte handelt, erwähnt. Wahrscheinlich bin ich der einzige, der von ihrem Dasein Kenntnis hat. Es war übrigens höchste Zeit gewesen, daß die Arbeit vollendet wurde. In den nächstfolgenden Monaten hätte ich sie schwerlich fortgesetzt. Die Vorrede feierte bereits in burschikosem Tone den Beginn einer neuen Periode, in welcher nicht philosophiert, sondern Geschichte gemacht wird, der Humor seine Herrschaft in der Weltgeschichte antritt. Die Revolution begann ihren Rundgang durch Europa. Die Nachrichten von den Volksaufständen, von ihrem siegreichen Verlauf, von der Nachgiebigkeit oder der Niederlage der Regierungen, der Abdankung und Flucht mißliebiger Minister überstürzten sich. Bald gab es keine Stadt und kein Städtchen in Deutschland, in welchen nicht Volksversammlungen gehalten, scharf lautende Beschlüsse gefaßt und kräftige Petitionen an die Regierung unterschrieben wurden. Auch Tübingen kam in Bewegung. Eine von Bürgern und Professoren ausgeschriebene Versammlung fand in den ersten Märztagen in der großen Universitäts-Reitschule statt, in welcher Uhland, mit Jubel begrüßt, die Hauptrede hielt und die in einer Petition niedergelegten Forderungen an die Regierung knapp[116] und bündig und doch auch mit wahrhaft poetischem Schwunge begründete. In dem Uhlandbüchlein von Otto Jahn habe ich viele Jahre später diese Scene beschrieben. Obschon ich erst kurze Zeit in Schwaben weilte, hatte ich doch das Vertrauen der Bürger gewonnen, daß sie auch meine Dienste gern in Anspruch nahmen. Mit dem jungen Römer, dem spätern Reichsgerichtsrat, zusammen hatte ich für zahlreiche Unterschriften unter die Petition Sorge zu tragen. Sie lag im Museum auf, wohin nun die kleinen Leute, die Handwerker und Winzer vom Morgen bis zum Abend pilgerten, nicht um einfach zu unterschreiben, sondern um sich zunächst die Petition vorlesen und erklären zu lassen und dann die Bitte auszusprechen, daß doch noch dieses oder jenes besondere Anliegen, das ihnen am Herzen lag, eingefügt werden könnte. Oft dauerte es eine Stunde, ehe das Bäuerlein nachgab und seinen Namen unter die Petition setzte.

Es war mir bestimmt, auch mit den Waffen in der Hand, d.h. mit einer alten Vogelflinte, welcher das Schloß fehlte, meinen neuen Mitbürgern zu dienen. Das politische Possenspiel, welches einige Tage lang ganz Süddeutschland in Aufregung hielt und die ehrsamen Spießbürger in Währwölfe verwandelte, wurde auch in Tübingen aufgeführt. Schwerlich hatte der hasenfüßige Schneidergeselle, welcher zuerst in Kehl erzählte, daß sich in Straßburg ein Arbeiter- und Emigrantenhaufe zum Einbruch in Deutschland rüste, eine Ahnung davon, wie rasch das Gerücht anschwellen und welche abenteuerliche Gestalt es im Hinterlande[117] gewinnen werde. Der Feind rüstet nicht – er steht bereits am Rhein – er ist bereits im Lande eingebrochen. Der Haufe zählt nicht einige hundert Mann, sondern bildet ein wirkliches Heer, dem es an geschickter Leitung nicht fehlt. Reitende Boten, von geängstigten Bürgermeistern abgesandt, brachten die Nachricht von Ort zu Ort, in jedem Ort fügte die geschäftige Phantasie noch irgend einen schreckenden Zug hinzu, und so kam eines schönen Tages nach Tübingen die Kunde, das Arbeiterheer stehe bereits einige Meilen hinter Reutlingen und könne am nächsten Morgen Tübingen erreichen. Sofort versammelten sich die angesehensten Männer der Stadt auf der Universität zur Beratung, wir aber, das freie Volk, mehrere hundert Mann stark, standen aufgeregt auf dem Universitätsplatze und sahen im Geiste bereits die Augen des Vaterlandes auf uns tapfere Vorkämpfer gerichtet, was übrigens nicht hinderte, daß durch eine Stafette in Stuttgart die schleunige Sendung militärischer Hilfe erbeten wurde. Endlich trat ein Professor der Landwirtschaft, ein ehemaliger Offizier, einen mächtigen Pallasch in der Hand, auf den Balkon des Universitätshauses und hielt eine feurige Ansprache, welche mit der Aufforderung schloß, uns sofort zu bewaffnen, militärisch zu organisieren und den bereits in der Nacht erwarteten Angriff des Arbeiterheeres kräftig zurückzuweisen. In wenigen Stunden war das friedliche Tübingen in ein wildes Kriegslager verwandelt. Die älteren Männer traten zu einer Schutzkompagnie zusammen, wir jungen Leute bildeten gleichsam ein fliegendes Corps und wurden beordert,[118] die Neckarufer und das Vorland in der Richtung auf Reutlingen zu bewachen. Bei Anbruch der Nacht bezogen wir die Postenkette, suchten die Neckarufer sorgfältig ab, stellten auf allen Wegen und Stegen Wachen aus und sandten auch einzelne Späher vor. Alle Mühe war umsonst. Der Feind kam nicht, wohl aber am nächsten Tage die Nachricht, daß alles nur ein blinder Lärm gewesen sei. Ich konnte meine Vogelflinte ohne Schloß unversehrt dem Eigentümer zurückgeben.

Diese Komödie war glücklich vorübergegangen, die leidenschaftliche Aufregung und Unruhe blieb, das politische Interesse nahm uns ausschließlich in Anspruch und drängte alle andern Angelegenheiten vollkommen in den Hintergrund. Da mußte ich freilich mit mir zu Rate gehen, ob der alte Plan ausführbar sei. Die Entscheidung erfolgte rasch. Auf die Kunde von dem siegreichen Ausgange der Wiener Revolution schrieb ich flugs in die Jahrbücher der Gegenwart einen Triumphartikel. Er wurde in den Prager Zeitungen abgedruckt und fand allgemeinen Beifall. Daraufhin bestürmten mich alle alten Bekannten, ich möchte doch eilig zurückkommen und auch meine Kräfte dem »Neubau des Staates« widmen. Die Sorge eines Rückschlages sei ganz ausgeschlossen, jetzt blühe in Österreich der Weizen des Liberalismus üppiger als in Deutschland. Eine neugegründete große Zeitung, das Constitutionelle Blatt aus Böhmen, hoffe auf meine eifrige Mitwirkung und werde mir in ihren Spalten freies Spiel geben. Gleichzeitig bekam ich einen Brief meines alten Lehrers Exner, welcher[119] in Wien die Reformen des höhern Schulwesens leitete. Ich hatte ihm meine Dissertation übersandt, als Antwort kam gleichfalls die Einladung, in die Heimat zurückzukehren. Er wisse, daß das Gedeihen der Universitäten von der Einbürgerung des bis dahin in Österreich fast ganz unbekannten Privatdozenten abhänge und glaube, wenn ich etwa im Herbst als Dozent der Geschichte oder Kunstgeschichte aufträte, mir guten Erfolg versprechen zu können. Also bis zum Herbst Zeitungsschreiber, vom Herbst an Universitätslehrer, diese Aussicht erfüllte meine Wünsche vollständig. Da Schwegler ohnehin die Jahrbücher der Gegenwart aufgeben wollte – sie hinkten, trotz der kürzeren Fristen, den Ereignissen mehr als jemals nach – der Besuch der Universität und der Vorlesungen sich zu verringern drohte, so folgte ich dem Rufe und schied nach siebenmonatlichem Aufenthalte von Tübingen, das mir im wahrsten Sinne des Wortes eine Schule gewesen war.[120]

Quelle:
Springer, Anton: Aus meinem Leben. Berlin 1892, S. 102-121.
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