|
[140] Die ersten Schritte lenkte ich nach Belgien, wohin Mama Czermak mit Jaroslav vorangegangen war, um ihn auf eine der blühenden belgischen Kunstschulen zu bringen. Sein großes Maltalent stand in Gefahr, in Prag vollständig ertötet zu werden. Auf den Rat ihrer Dresdener Freunde, Hübner und Bendemann, stellte sie ihn dem Direktor der Antwerpener Akademie, Wappers, vor, welcher nach Einblick in Jaroslavs Skizzen sofort die Aufnahme in die Malklasse zusagte. Wappers war ein untergeordneter Künstler, welcher seinen Ruhm vornehmlich einem Jugendwerk verdankte. Teils die patriotische Tendenz des Gegenstandes, er stellte den Bürgermeister von Leyden dar, welcher den hungernden Mitbürgern sein Blut darbot, teils der eifrige Versuch, die Malweise von Rubens nachzuahmen, lenkten die allgemeine Aufmerksamkeit (1830!) auf ihn und machte ihn mit einem Mal zum berühmten Manne. Wappers erfüllte die auf ihn gesetzten Hoffnungen nicht, aber er blieb lange Zeit ein ganz vortrefflicher Lehrer. Er ließ unaufhörlich nach der Natur malen und lenkte die Blicke auf die großen Koloristen in den benachbarten[140] Galerieen. In deutschen Kunstschulen sah man aber gewöhnlich die Farbe als eine unvermeidliche Beigabe zur Zeichnung an und ließ die Schüler so lange nach der Antike kopieren, bis sie richtig das fröhliche Verständnis der mannigfachen Formen im wirklichen Leben verloren. Ich bemühte mich nach Kräften, die mir neue Unterrichtsmethode kennen zu lernen und benutzte zugleich die bequemen Verkehrswege, um mich in die alte flandrische Malerei, sowohl des fünfzehnten, wie des siebzehnten Jahrhunderts einzuleben. Mitte Oktober übersiedelte ich nach Paris. Eine sehr beliebte Herberge für junge Leute, welche sparen wollten und doch in französischer Weise leben, war die Cour de commerce, im lateinischen Viertel, in der Nähe der Rue de Medicis und Rue Mazarin. Die Luft in der schmalen, ganz geschlossenen Cour de commerce war nicht gut, die Gesellschaft nicht übermäßig fein, die Kost ziemlich dürftig, aber das Haus war streng anständig. Wirt und Wirtin, ein ehemaliger Kurier, aus der Schweiz gebürtig, und eine englische Kammerjungfer, welche sich auf einer Reise zusammengefunden und ihre Ersparnisse in diesem kleinen Hotel garni angelegt hatten, duldeten nicht den Einbruch lockerer Pariser Sitten. Unsere Gesellschaft bestand aus schweizer Medizinern, Korrespondenten deutscher Zeitungen (auch des Konstitutionellen Blattes), angehenden französischen Gelehrten, welche die Studententollheit abgestreift hatten und jetzt als Muster des Fleißes und der Arbeitsamkeit gelten konnten, deutschen Doktoren und Schriftstellern. Ab und zu verlor sich auch ein Flüchtling in die[141] Cour de commerce, doch hielten diese es unter uns Philistern nie länger als ein paar Tage aus.
In der Cour de commerce machte ich auch die Bekanntschaft mit dem später so berühmt gewordenen Czechenführer Franz Rieger, der schon damals als der beste Redner der Reichstagsrechten galt. Rieger hielt sich bereits mehrere Monate in Paris auf, hatte sogar ein kleines politisches Abenteuer hier erlebt. Der Zufall, vielleicht auch die Langeweile, welche er um jeden Preis fliehen wollte, brachten ihn mit magyarischen und polnischen Emigranten in nähere Berührung. Sie waren hoch erfreut, auch ein Mitglied des österreichischen Reichstages, noch dazu der gemäßigten Partei, in ihren Reihen zu zählen. Nach einer Zusammenkunft im Palaste des Fürsten Czartoryski, welcher er unvorsichtiger Weise beiwohnte, kam auch sein Name als eines revolutionären Führers auf die Polizeiliste, und bei einer Streifung nach anrüchigen Flüchtlingen seine Person ins Gefängnis. Nur auf vierundzwanzig Stunden. Es bedurfte gar nicht der Vermittelung eines befreundeten Banquiers; der Polizeipräfekt Curlier überzeugte sich gleich nach dem ersten Verhöre von seiner politischen Harmlosigkeit und daß er ahnungslos den klügeren Magyaren und Polen in die Netze gelaufen war und gab ihn frei. Er suchte seitdem nur die Gesellschaft friedfertiger Leute auf. Prager Freunde hatten ihn an zwei Landsleute empfohlen, welche schon längere Zeit in Paris ansässig waren, an den Schneidermeister Hulek und den Vorsteher einer Knabenpension, Porak. Meister Hulek hatte im Lauf der Jahre seine[142] czechische Muttersprache vergessen, das französische nicht erlernt; Porak war kenntnisreicher, sprach namentlich ein vortreffliches Französisch, wovon Rieger großen Vorteil zog. Um seine Persönlichkeit war ein gewisses Dunkel verbreitet, welches jeden andern als den harmlosen Rieger zur Vorsicht gemahnt hätte. Als Rieger von meiner Ankunft hörte, besuchte er mich, um etwas Abwechslung in seinen Verkehr zu bringen. Er gefiel sich in unserm Kreise so sehr, daß er ein ziemlich regelmäßiger Gast an unserm Mittagstische (6 Uhr) wurde. Oft verbrachten wir dann noch den Abend in einem Kaffeehause, oder gingen in eines der kleinen Theater, was nicht viel kostete, wenn man erst nach dem Schlusse des ersten Stückes die Eintrittskarte kaufte.
Rieger war in jenen Tagen durchaus nicht der nationale Fanatiker, welcher dem Traume eines czechischen Staates die liberale Gesinnung und die feinere Bildung zu opfern bereit war. Ihm hatte der von Stammesgenossen gestreute Weihrauch noch nicht den Kopf umnebelt und zur Überschätzung seiner Kraft verleitet. Er war eitel, aber nicht ehrgeizig, mit geringem Erfolge schon ganz zufrieden. Gern sprach er von dem Aufsehen, welches sein starker schwarzer Vollbart bei den Weibern aus dem Volke erregte. Als ihm eine blutrote Sammetweste aufgeschwatzt wurde, welche schon von weitem leuchtete, begrüßten ihn die Straßenjungen wegen dieser ungewöhnlichen Tracht als Türken. Er fühlte sich dadurch nicht wenig geschmeichelt und vergaß nie, uns von solcher Huldigung zu erzählen. Keine größere Freude konnte ich ihm bereiten, als wenn ich ihn aufforderte,[143] in einem der Restaurants im Palais royal mit mir zu speisen und bat, eine Viertelstunde früher vorzusprechen, um das »Menu« festzustellen. Wenn ich eintrat, war alles in der schönsten Ordnung und er nun meines Lobes, das ich ihm natürlich niemals vorenthielt, gewärtig.
Vom Deutschenhasse war er noch weit entfernt. Er verkehrte fast ausschließlich mit Deutschen, sprach mit Vorliebe Deutsch – er war stolz auf seine deutsche Beredsamkeit – und führte auch seinen Briefwechsel vorwiegend in deutscher Sprache. Die Politik konnte uns nicht füglich entzweien. Die Reaktion lastete gleichmäßig auf allen Völkern und dadurch wurde jeder Streit über das größere oder geringere Recht der einzelnen Stämme gegenstandslos. Das Ministerium Schwarzenberg-Bach hatte das Gezänke der Nationalitäten glücklich zum Schweigen gebracht. Dafür brachte uns das gemeinsame Interesse an der Volkswirtschaft näher. Wollte ich auch nichts mehr mit der praktischen Politik zu thun haben, so hatte ich doch meine Unwissenheit in allen ökonomischen Fragen, die Unkenntnis selbst elementarer wirtschaftlicher Gesetze zu bitter gefühlt, als daß ich nicht willig die Gelegenheit ergriff, mich darin zu unterrichten. Rieger war in der gleichen Lage gewesen. Und so kauften wir und lasen fleißig die gangbaren französischen Lehrbücher der Nationalökonomie. Bastiat, gerade wegen seiner Oberflächlichkeit, die keine Schwierigkeit sah, alles harmonisierte, in weiten Kreisen beliebt, wurde namentlich Riegers Führer. Wenn ich nicht irre, so hat er mehrere kleine Schriften Bastiats in das Czechische übersetzt.[144]
Überraschend schnell verging der Pariser Winter. Erst nachträglich rechnete ich nach, daß ich doch eigentlich jeden Tag die gleiche Beschäftigung geübt, in Wahrheit ein recht eintöniges Leben geführt hatte. In Paris kennt man keine Langeweile. Ein Spaziergang an einem sonnigen Tage durch die Champs Elysées, am Abende über die Boulevards bringt stets Zerstreuung und Unterhaltung. Der Hauptgrund, daß mir der Aufenthalt in Paris so kurz schien, war das viele Neue, was mir das Museum Cluny für meine Studien darbot. Ich wurde nie müde, dasselbe zu besuchen. In der Louvregalerie waren mir eigentlich nur die französischen Maler völlig unbekannt geblieben. Gerade die Meister aus der Zeit Ludwigs XIV. – das achtzehnte Jahrhundert war damals nur dürftig vertreten – flößten mir geringe Teilnahme ein. Lesueurs in Blauwasser getauchte Brunobilder konnte ich ohne Lachen nie betrachten. Im Cluny-Museum trat mir dagegen eine ganz neue Welt entgegen. Es war die einzige öffentliche Sammlung, in welcher man die mittelalterliche Kunst eingehend studieren konnte. Das that aber nicht wenig not, da bis dahin, mit Ausnahme der Bauwerke, die Kunst des Mittelalters selbst für die Kunsthistoriker ein unwegsames Gebiet geblieben war. Einige Hauptwerke wurden aufgezählt, im übrigen begnügte man sich, mit bedauerlichem Achselzucken an den barbarischen Jahrhunderten vorüberzueilen. Was die Romantiker als Mittelalter begrüßten und priesen, war die frühe deutsche Renaissance. Das wahre Mittelalter war ihnen und den auf ihnen fußenden Kunstschriftstellern[145] fern geblieben. Im Museum Cluny sah ich die mannigfachsten Schöpfungen echter mittelalterlicher Kunst gesammelt und geordnet, lernte die Rührigkeit und die eifrige Kunstpflege auch des sogenannten finstern Mittelalters kennen und entdeckte, daß an dem falschen Urteile die unselige, gar nicht berechtigte Trennung der kunstgewerblichen Leistungen von künstlerischen Schöpfungen die Hauptschuld trage. So wurde eine der empfindlichsten Lücken in meinem Wissen ausgefüllt.
Die Zeit zur Fortsetzung meiner Kunstwanderschaft war herangerückt. Vor Antritt meiner Reise hatte ich noch Freund Noël in Rosawitz besucht und von ihm erfahren, daß ihn Familienangelegenheiten im Frühjahre nach England führen würden. Sein Angebot, die Reise mit ihm gemeinschaftlich anzutreten, nahm ich natürlich mit Jubel an. Einen bessern Führer und liebenswürdigen Mentor konnte ich mir gar nicht denken. Als Stelldichein wurde Antwerpen, wo sich Mama aufhielt, bestimmt, als Zeitpunkt der Anfang April gewählt. Ich reiste drei Wochen früher nach Antwerpen, um mit Jaroslav, der sich in der Akademie prächtig entwickelt hatte, einen Abstecher nach Holland zu machen. Rotterdam, Leyden, Haag und Amsterdam wurden besucht, überall die Kunstschätze eifrig studiert. Mit ganz andern Augen sah ich natürlich die Meister in ihrer Heimat, wo die ganze Umgebung, die Luft, die Stimmung, die Häuser, die Typen der Bewohner unmittelbar an sie erinnerten. Ich betrachtete überhaupt die Gemälde jetzt anders als vor drei Jahren auf meiner italienischen Reise,[146] frug nicht viel nach der Bedeutung und dem ästhetischen Werte der Bilder, sondern bemühte mich, die eigentümliche Natur der einzelnen Meister verstehen zu lernen. Die große Gleichartigkeit der Darstellung zwang diese Betrachtungsweise von selbst auf.
Während ich auf Noëls Ankunft in Antwerpen wartete, trat eines Tages Rieger unerwartet und wirklich unverhofft in die Thüre. Überängstliche Prager Freunde hatten wieder einmal vor den Gefahren, welche ihn in Paris bedrohten, geschrieben, und ihm ohne allen Grund, wie sich später zeigte, eine Höllenfurcht eingejagt. Er ließ alles in Stich und kam mit einem kleinen Koffer nach Antwerpen mit der Erklärung, die Reise nach London gemeinschaftlich mit mir machen zu wollen. Im freien England fühle er sich allein sicher. Ich verwies ihn an Noël, der mit gewohnter Liebenswürdigkeit auch in diese Begleitung willigte, aber Rieger unverhohlen darauf aufmerksam machte, daß er ohne Kenntnis der englischen Sprache sich sträflich langweilen werde.
In London mieteten wir mit Noëls Hilfe in einer Nebenstraße der Oxfordstreet, in einem Kaffeehause, unsere sehr bescheidenen Wohnungen und begannen nun unsere Irrfahrten. Noël war unermüdlich, mich in die bessere Gesellschaft einzuführen. Einer unserer ersten Gänge galt Mrs. Jameson, der in England hochgeschätzten Kunstschriftstellerin, Noël als beste Freundin der Lady Byron noch besonders nahe stehend. Rieger ging mit. Mrs. Jameson hauste gemeinsam mit ihrer Schwester. Zwei prächtige[147] Matronen voll Lebenslust und scharfen Geistes, dessen Äußerungen sie durch die milde Form liebenswürdig dämpften. Das Gespräch kam bald in lebhaften Gang. Nur der arme Rieger wußte mit seiner Person nichts anzufangen. Während wir am Kamin saßen, spazierte er in der Stube auf und ab, betrachtete den Wandschmuck, nahm bald diese, bald jene Nippsache in die Hand und näherte sich endlich dem Schreibtische, um auch diesen genauer zu untersuchen. Das war denn doch der Schwester der Mrs. Jameson zu arg. Sie flüsterte Noël zu, daß sie in der Nebenstube allerhand Spielzeug für eine kleine Nichte, wenn diese zum Besuch komme, bewahre. Dieses wolle sie dem böhmischen Gentleman bringen. Sie verschwand, kam aber gleich darauf, einen Korb mit Aus- und Anziehpuppen im Arm, zurück und lud Rieger in gebrochenem Französisch ein, an einem Nebentische Platz zu nehmen und mit den Puppen zu spielen. Der in allen gesellschaftlichen Dingen überaus naive Rieger war mit dem Vorschlag ganz zufrieden und unterhielt sich stundenlang, die Papierpuppen aus- und anzukleiden. Er nahm es auch Noël nicht übel, als dieser die Meinung aussprach, daß Rieger wohl von nun an auf englische Gesellschaften verzichten werde. Ich verlor Rieger, obschon wir im selben Hause wohnten, beinahe ganz aus den Augen. Das Frühstück nahmen wir im Kaffeehause gemeinsam ein, sonst aber vergingen oft mehrere Tage, daß ich ihn sprach. Ich hörte nur, daß er zumeist mit den Deutschen verkehre, sich an Moritz Hartmann enger angeschlossen habe, fleißig die Londoner Sehenswürdigkeiten studiere und am Abend,[148] wie er es in Paris zu thun gewohnt war, in den Hauptstraßen flaniere. Er muß furchtbar viel Stiefeln in London zerrissen haben.
Mich erfüllte das englische Leben von Tag zu Tag mit immer größerem Behagen. Noël führte mich bei seinen vornehmen Verwandten und seinen persönlichen Freunden ein. Jede Familie, zu welcher ich den Zutritt gewann, hielt sich verpflichtet, mich wieder bei ihren Freunden einzuführen, so daß ich mich nach wenigen Wochen in einem stattlichen Kreise eingebürgert fand. Im wahren Sinne des Wortes eingebürgert. Erst in England lernte ich den Wert echter Gastfreundschaft kennen. Hier wird nicht der Gast mit einer Tasse Thee oder einem Mittagessen abgespeist und dann einfach fallen gelassen. Wirt und Wirtin sehen ihn als einen Schutzbefohlenen an, welchem sie zu jedem Dienste verpflichtet sind. Sie gewähren ihm die freieste Bewegung, drängen sich ihm niemals auf, suchen aber jeden Wunsch zu erfüllen und sind bestrebt, ihm den Aufenthalt so angenehm als möglich zu machen. Gar bald stellt sich ein bequemer Verkehr, ein gemütlicher Ton zwischen Gast und Wirten ein, so daß sich der erstere schließlich ganz wie zu Hause fühlt und als Glied der Familie ansieht. Die in England verlebten Monate zählen denn auch zu den schönsten Erinnerungen aus meinen jungen Jahren. Mit Noël zusammen konnte ich noch eine kurze Reise nach den großen Industriebezirken und dem Norden Englands unternehmen. In Manchester suchten wir etwas vom Fabriksbetriebe, neben welchem damals die deutsche Industrie zum[149] Spielzeug herabsank, abzusehen, versäumten aber auch nicht, Mrs. Gaskell, die auf der Höhe ihres Ruhmes stehende Verfasserin von Mary Barton, aufzusuchen, eine einfache, liebenswürdige Dame, welche uns sofort bei ihren Freunden, insbesondere bei der Familie Souchay einführte. Auch Birmingham bereicherte unsere technischen Kenntnisse. In Bristol dagegen lenkten unsere Gastfreunde, zwei Misses Carpenter, die Tanten des bekannten Chemikers, unsere Aufmerksamkeit auf die Wohlthätigkeitsanstalten und die Versuche, der hier herrschenden großen Armut abzuhelfen. Wiederholt mußte ich in den Bettelschulen (ragged schools) dem Abend- oder besser gesagt Nachtunterrichte beiwohnen, in einer derselben, auf die Bitte des Lehrers, sogar eine kurze Rede halten. An einer Landkarte wies ich ihnen den weiten Weg, welchen ich zurückgelegt hatte, erzählte ihnen von den armen Kindern in meiner Heimat, für welche nicht so gut gesorgt würde, wie für sie und ermunterte sie, brav zu werden. Ein dreifaches cheer aus dem Munde der Knaben, der Mehrzahl nach Taschendiebe, belohnte meinen oratorischen Versuch. Bei Noëls Bruder in Yorkshire endlich gewann ich einen Einblick in das wohlhäbige englische Pächterleben.
Die freundliche Einladung eines Seidenbandfabrikanten, Mr. Bray, führte uns nach Rosehill bei Coventry. Doch ließen wir dieses Mal die industriellen Interessen ganz beiseite liegen. Mr. Bray war gleichfalls der Phrenologie zugethan und stand mit Noël schon lange in brieflichem Verkehre. Als er meinen Titel: Doktor der Philosophie[150] hörte und vernahm, daß ich in Tübingen Freunde besitze, da klatschte er lebhaft in die Hände: das ist etwas für die »Erzieherin meiner Kinder!« Miß Mary Anne Evans wurde gleich gerufen und nach den ersten Begrüßungen mußte ich sofort ein Kreuzfeuer von Fragen bestehen. Miß Evans machte einen bedeutenden, aber keinen angenehmen Eindruck. Das einfach zurückgestrichene Haar ließ die ohnehin hohe und breite Stirn noch mächtiger erscheinen, ihre kalten, wenn mich die Erinnerung nicht täuscht, grauen Augen bohrten sich förmlich in die Seele des Zuhörers ein, die feinen zusammengepreßten Lippen deuteten mühsam unterdrückte, leidenschaftliche Empfindung an. Ihre Bewegungen wie ihr Mienenspiel waren scharf und bestimmt, es fehlte ihnen aber die anmutige, weibliche Weichheit. Ich mußte ihr von Strauß erzählen, dessen Standpunkt sie nicht mehr teilte, dann von Feuerbach, dessen »Wesen des Christentums« sie gerade übersetzte. Meine offen ausgesprochene Meinung, daß das Junghegeltum sich überlebt habe, überhaupt ein Widerstand gegen die spekulative Richtung sich vorbereite, schien sie unangenehm zu berühren. Über die englischen Zustände sprach sie sich herbe und bitter aus. Wer hätte gedacht, daß sich aus diesem, wie auch Noël schien, etwas überspannten Frauenzimmer eine Dichterin ersten Ranges entpuppen werde. Denn Mary Anne Evans ist der Familienname für die nachmals so gefeierte Mrs. Elliot. Ich kam noch einmal in späteren Jahren mit ihr in nähere Beziehungen. Sie frug bei mir in Bonn an, in welchem deutschen Staate[151] die Wiederheirat eines von seiner Frau thatsächlich, aber nicht gerichtlich geschiedenen Mannes – dies war Mr. Lewis – auf die geringsten Schwierigkeiten stoßen würde. Ich empfahl ihr schließlich Coburg. Ob sie meinen Rat befolgt hat, weiß ich nicht.
Als Noël im Mai abreiste, vermochte ich bereits selbständig in der Londoner Gesellschaft zu schwimmen. Wie viele bunte Bilder zogen an mir vorüber, welche freundlichen Beziehungen ergossen sich in kurzer Zeit über mich. Ich bewahre noch jetzt mehr als ein halbes hundert Einladungen, welche meinen Erinnerungen an jene genußreichen Tage zu Hilfe kommen. Heute war ich auf einem »Rout« bei Lord und Lady Lovelace, der Tochter Lord Byrons. Hunderte von Personen drängten sich durch die Gemächer, Prinzen von königlichem Geblüte, Peers und Mitglieder des Unterhauses, Bischöfe und Gelehrte, letztere in ziemlich großer Zahl, da Lady Lovelace als mathematisches Genie in hohem Ansehn stand. Hier sah ich auch Macaulay, um welchen sich stets ein Kreis aufmerksamster Zuhörer sammelte, um seiner wunderbar fesselnden Plauderei zu lauschen. Am andern Tage konnte ich meinen Namen im Morning Chronicle und zwar gleich hinter den Bischöfen lesen. Mein simpler Doktortitel galt in England als Abzeichen höherer geistlicher Würde. Ein anderes Mal, in einer Abendgesellschaft bei dem Nationalökonomen Senior, traf ich die politischen Spitzen des Landes versammelt. Mr. Moncton-Milnes, der spätere Lord Houghton und Präsident des britischen Schriftstellervereins, führte mich in die litterarischen[152] Kreise ein, Tom Taylor, ein beliebter Komödieendichter, gewährte mir Einblick in das muntere Leben im Temple. An einem Tage hörte ich in einer privaten Matinee die berühmtesten Sänger und Musiker der Season, an einem andern Tage bekam ich eine Einladung, Mrs. Procter mit ihrer Tochter in die italienische Oper zu begleiten. Ich warf mich in meinen besten Staat, fuhr mit den Damen in die Oper, wo uns Rubini, Lablache entzückten und geleitete sie nach Schluß des Theaters als galanter junger Mann wieder an ihren Wagen, dann aber schlug ich mich seitwärts, suchte eine noch offene Kneipe auf und trank mitten unter Kutschern und Lastträgern stehend einen Krug schäumenden Porters.
Am liebsten und häufigsten verbrachte ich meine Abende in zwei Familien. Mrs. Jameson hatte mich an ihre Freundin Miß Julia Smith empfohlen, eine Vorstandsdame des Ladies-College in Bedfordsquare, in welchem, ich glaube in London zuerst, Frauenerziehung nach liberalen Grundsätzen durchgeführt wurde. Sie hatte dabei die Zuversicht ausgesprochen, daß ich von nun an gut versorgt sei und keine weiteren Empfehlungen bedürfe. So war es auch. Die kleine, behende, unaufhörlich thätige Dame ließ mich nicht einen Augenblick aus den Augen. Sie fand immer einen Gegenstand, für welchen sie ein Interesse bei mir voraussetzte, entsann sich auf eine Persönlichkeit, deren Bekanntschaft sie als nützlich oder wünschenswert vermutete. Oft brachte mir die Post am Morgen das Tagesprogramm, welches sie noch am späten Abend vorher für[153] mich entworfen hatte, oder sie sandte einen Boten, um eine Zusammenkunft mit ihr zu verabreden. Miß Julia Smith war die Seele und der Mittelpunkt einer weitverzweigten Familie. Sie stand dem Haushalt eines Bruders vor, welchen Geschäfte zwangen, den größten Teil des Jahres außerhalb Londons zu verleben und dessen Töchter unter der Aufsicht ihrer Tante in London erzogen wurden. Sie hatte aber außerdem auch noch auf die Familie eines zweiten Bruders stetig ihr Augenmerk geworfen, deren weibliche Mitglieder gleichfalls in London wohnten, während der Vater mit Vorliebe auf einem Landgute (Combehurst) weilte. In beiden Häusern war ich ständiger Gast, mit den Töchtern machte ich, sobald es die Jahreszeit erlaubte, Ausflüge nach Windsor, Hamptoncourt, Richmond oder besuchte Londoner Ausstellungen und Konzerte. Niemals belästigte uns eine steife Gardedame. Die gute englische Sitte gestattet dem Verkehr zwischen jüngern Leuten beiderlei Geschlechts große Freiheit und steigert dadurch, wie ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann, nur das Ehrgefühl und den Sinn für feineren Anstand bei den jungen Männern. Wir lebten wie gute Kameraden zusammen, ich selbst kannte aber keinen höhern Stolz, als von Miß Julia freundlich als echter Gentleman begrüßt zu werden.
Während in den verschiedenen Smithfamilien der Verkehr sich zumeist in den Grenzen der allerdings zahlreichen Verwandten hielt, herrschte im Hause von Mr. und Mrs. Proctor eine weitere Geselligkeit. Mr. Proctor hätte ich niemals die Identität mit dem beliebten Dichter Barry[154] Cornwallis angesehen. Der rundliche Mann, ruhiges Behagen im Blicke, verhielt sich in der Regel wortkarg und wenn er sprach, kam mehr der scharfe Verstand als die leicht erregbare Phantasie zur Geltung. Einen ungleich poetischeren Eindruck machte seine Tochter, eine wahrhaft ätherische, wie sich später zeigte, auch hysterische Persönlichkeit. Sie ergab sich einer ungeregelten Phantastik und starb als katholische Nonne. Mrs. Proctor, viel jünger als ihr Gatte und noch immer eine anmutige Erscheinung, liebte eine reiche Geselligkeit, zu welcher sie nicht allein zahlreiche einheimische Notabilitäten, sondern auch mit Auswahl an sie empfohlene Ausländer heranzog. Sie gab im Monat drei größere Abendgesellschaften, außerdem sammelte sich an jedem Sonntag ein engerer Kreis um ihren Theetisch. Solange ich in London weilte, versäumte ich keinen Abend. Hier lernte ich, außer vielen andern Berühmtheiten, auch Carlyle näher kennen. Er war seit Jahren Hausfreund, doch jetzt in seinen Besuchen besonders eifrig. Fanny Lewald, bei Mrs. Proctor in hoher Gunst stehend, war, wie wir bald entdeckten, der Magnet. Obschon nicht mehr jung und von einer fast überquellenden Körperfülle, fesselte Fanny durch den schönen Schnitt des Kopfes, ihre feurigen Augen und ihr reiches, tiefschwarzes Haar noch immer viele Männerherzen. Vielleicht danke ich dem Umstande, daß ich Carlyle manches über Fanny Lewalds Jugend und Schicksale erzählen konnte, sein Wohlwollen. Er lud mich ein, ihn in seinem kleinen Hause in Chelsea zu besuchen, was ich natürlich freudig annahm. Carlyle schrieb[155] damals seine Latter-day Pamphlets und beschäftigte sich viel mit politisch-sozialen Fragen. Was er darüber im Gespräche – er liebte wie Macaulay die Monologe – mitteilte, war von größtem Interesse. Ich beherrschte aber den breiten schottischen Dialekt nicht genug, um ihm stets folgen zu können. Und so gewann ich doch nicht soviel durch Carlyles Verkehr, als ich erwartet hatte.
Man darf übrigens nicht glauben, daß diese reiche Geselligkeit meine Fachstudien ganz in den Hintergrund drängte. Sie nahm mir allerdings viel Zeit, doch versäumte ich darüber nicht den regelmäßigen Besuch des Britischen Museum und der Nationalgalerie. Mrs. Jamesons Empfehlungen öffneten mir außerdem die Thüren zu vielen Privatsammlungen, welche Fremden sonst wenig zugänglich waren.
In den beiden Sommermonaten Juli und August lernte ich das englische Leben von seiner schönsten Seite kennen. Die Sonntage brachte ich regelmäßig bei meinen Freunden und Gönnern auf dem Lande zu, dehnte zuweilen die Besuche bis zu einer halben Woche aus. Der Sonntag in einem englischen Landhause besitzt bei weitem nicht den öden langweiligen Charakter, welcher ihm in den Städten, besonders in London anklebt. Die Morgenandacht wurde im Hause gehalten, da alle meine Wirte der Hochkirche fern standen, also auch nicht den öffentlichen Gottesdienst in der ohnehin meist entlegenen Kirche besuchten. Dann zog sich jeder in seine Stube zurück oder las im Bibliothekzimmer, das in keinem größeren Landhause fehlt,[156] die eingelaufenen Wochenschriften. Dem zweiten Frühstück folgte ein weiterer Spaziergang der jüngeren Welt. Eine kurze Abendandacht nach dem »dinner« schloß die Sabbathruhe. Nun kam die Musik, allerdings die ernste zu ihrem, Recht. Die Macht der Töne zeigte sich nach der Stille des Tages besonders wirksam und die heiligende Kraft der Kunst wurde nach der vorangegangenen inneren Sammlung der Seele in ihrer ganzen Gewalt offenbar.
Der gewöhnliche Zielpunkt der Sonntagswanderungen war Combe-Hurst, durch die vielen anmutigen Nichten von Miß Julia Smith belebt, dann Lea-Hurst in Derbyshire, wo Mr. Nightingale einen reizenden Landsitz besaß und ich die im Krimkriege so berühmt gewordene Tochter, ein zartes, klug blickendes, in ihren Gedanken bereits für Armen- und Krankenpflege erglühendes Mädchen zuerst näher kennen lernte, und endlich Waverley-Abbey, dem Eigentum des Mr. Nicholson. Alle diese Familien waren in irgend einer Weise miteinander versippt und verschwägert, so daß ich mich niemals völlig in der Fremde fühlte. In Waverley-Abbey spielte die Musik eine Hauptrolle. Die jüngste Tochter Marianne besaß eine silberhelle, gut ausgebildete Stimme, auf deren weitere Pflege sie mit Recht bedacht war. Ihr Musikmeister, mein Landsmann Kropp, den das Schicksal von Prag nach London verschlagen hatte, gehörte daher zu den ständigen Gästen in Waverley-Abbey. Eines Abends kam die Rede auf Volkslieder und alte nationale Gesänge. Ich wurde aufgefordert, einige böhmische Volkslieder zu spielen und gab unter andern[157] Proben auch das Hussitenlied zum besten. Es ist bekannt, daß Liszt von ihm so entzückt, von seinem historischen Werte so überzeugt war, daß er die von der Censur verweigerte Druckerlaubnis mit vieler Mühe bei dem Fürsten Metternich endlich durchsetzte. Als ich die Melodie zu Ende gespielt hatte und meine Erzählung, wie das Lied jetzt beliebt sei, geschlossen, klopfte mir der Musikmeister auf die Schulter. Er dankte mir für mein Lob und die interessante Geschichte. Aber das Lied wäre kein Hussitenlied, sondern sein Eigentum, von ihm 1831 zu Ehren der polnischen Revolution in Mainz, wo er als Theatersänger engagiert war, komponiert worden. Als Beweis brachte Marianne alsbald ein Musikheft herbei, und in der That, hier stand schwarz auf weiß Kropp als der Kompositeur, Schott und Söhne in Mainz als Verleger, die innern Seiten zeigten die identische Melodie mit dem Hussitenlied. Kropp hatte den Refrain einem altböhmischen Kirchenliede entlehnt und dadurch der Melodie einen altertümlichen Charakter verliehen. Darauf bauten die czechischen Musikpatrioten ihre Fälschung auf. Eine Fälschung lag vor, eine ganz grobe und gemeine, und Liszt, Metternich, zahlreiche Musikfreunde waren ihr zum Opfer gefallen. Als ich einige Tage später in London Rieger die Fälschung vorhielt, gab er sie sofort zu, meinte aber, das sei nicht schlimm, da ja doch der Refrain wenigstens altböhmisch sei. Im folgenden Jahre enthüllte ich den wahren Ursprung des Hussitenliedes in Prutz' »Deutschem Museum«, erregte aber dadurch bei den Czechen einen gewaltigen Zorn,[158] besonders Palatzky, der Historiker, sprach sich grimmig über meine vorlaute Kritik aus, wodurch ein so »nützliches« Denkmal czechischer Kultur im Werte herabgesetzt würde.
Ich kann die Reihe meiner englischen Freunde nicht abschließen, ohne noch einer besonders werten Freundin zu gedenken. Sie war keine Engländerin, sondern eine echte und rechte Schwäbin, die aber schon lange als Erzieherin bei einem Zweige der Smithfamilie lebte und als halbe Engländerin gelten konnte. Julie Becher, die Schwester des Reichsregenten, mit Robert Mohl, dem Tübinger Baur, Zeller nahe verwandt, war nichts weniger als hübsch, dabei etwas radikal angehaucht, und auf die deutschen Zustände schlecht zu sprechen. Man vergaß aber rasch ihre Häßlichkeit und versöhnte sich mit ihrem Radikalismus, sobald sie jemandem näher trat und ihr klarer Geist, ihr reiches Wissen, ihre Herzensgüte sich offenbarten. Sie erwies mir nicht allein viele freundliche Dienste, sondern gab mir auch in liebenswürdigster Weise nützliche Winke, daß ich mir keine arge Blöße in den geselligen Formen und Sitten gab. Sie schmuggelte wahrscheinlich auch meine Schilderung der Reformthätigkeit Robert Peels aus der Geschichte des Revolutionszeitalters in die Daily News, wodurch mein Name in weiteren englischen Kreisen bekannt wurde.
Mit schwerem Herzen schied ich Mitte August von England, mit um so schwereren, als keine Hoffnung naher Wiederkehr sich zeigte. Um so größer war meine Freude über die Besuche so mancher englischer Freunde in den beiden nächsten Jahren in Prag. Sie scheuten oft Umwege[159] nicht, um mich in meiner Heimat zu begrüßen. Zuerst kam Mrs. Anne Jameson, welcher zu Ehren ich in einem befreundeten Hause eine größere Abendgesellschaft improvisierte, dann Moncton-Milnes, bemüht, durch persönliche Anschauungen etwas Klarheit über die österreichischen Wirren zu gewinnen. Auch die Familie Nicholson überraschte mich durch mehrtägigen Besuch. Ich hatte die peinliche Aufgabe, sie auf den, durch Sturz des Postwagens in einen Abgrund erfolgten Tod ihres ältesten Sohnes in Spanien vorzubereiten. Nicht wenig stolz war ich auch durch Miß Nightingales Begrüßung auf ihrer Rückreise aus Griechenland. Sie trug stets eine auf der Akropolis gefangene junge Eule im Strickbeutel. – Leider hat schon nach wenigen Jahren Tod, Heirat, Übersiedelung nach den Kolonieen fast den ganzen schönen Kreis auseinandergesprengt.[160]
Buchempfehlung
Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.
286 Seiten, 12.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro