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[105] Eifrig lag ich meiner Lehrtätigkeit an der Akademie ob. Ich hatte sehr talentvolle Schüler. Nennen will ich sie nicht – ich bin ängstlich. Denn bei der Empfindsamkeit, die unter Künstlern herrscht, steht es wohl dem Schüler zu, seinen Meister zu nennen, – aber es dürfte manchmal unangenehm berühren, wenn der Lehrer von dem und jenem sagt, er war mein Schüler. Denn Künstler werden geboren zum Unterschied von Gelehrten, die nach dem Sprichwort nicht vom Himmel fallen. Ich habe auch gefunden, daß gerade das Professorsein gelernt oder geübt sein muß, und ich wurde erst mit sechzig Jahren Akademieprofessor. Mein Eifer als Lehrer den Schülern zu nützen war groß, vielleicht aber ungeduldig, so daß manche Mißverständnisse entstehen mußten. Doch aber meine ich, daß mein Einfluß im ganzen sich später doch als guter erwiesen hat und bei einigen doch guten Grund gelegt haben könnte.

Die Sorge um die Galerie nahm meine Tätigkeit auch sehr in Anspruch, und ich konnte manche guten Bilder der Sammlung einfügen. So wurden die Tauberbischofsheimer Altarbilder von Grünewald gleich im Anfang meines Amtes von der Großherzoglichen Kunsthalle angekauft, und diese Erwerbung freute mich um so mehr, da ich diese Bilder schon bei meinem Münchener Aufenthalt kennen lernte in ihrer wechselvollen Geschichte. Ich freute mich besonders an den altdeutschen Bildern, die schon beim ersten Karlsruher Aufenthalt meine Lieblinge waren. Sie waren in sehr verwahrlostem Zustand in einem Korridor der Galerie aufgehängt. Ich konnte sie später bei dem Anbau an die Galerie zusammen und in besserm Lichte unterbringen. Gründliche[105] Restaurierung war nötig, wenn sie der Zukunft erhalten bleiben sollten als Wahrzeichen deutscher Kunst. Es wurden auch bemerkenswerte neuere Bilder in die Galerie aufgenommen, teilweise durch Ankauf, teilweise durch meine Schenkung, so z.B. von Scholderer, Courbet, Burnitz, Ludwig, Leibl, Böhle, Steinhausen, abgesehen von Bildern Karlsruher Künstler. Es war eine ziemlich angestrengte Tätigkeit, die mich das Gefühl des heranschleichenden Alters weniger empfinden ließ.

Mein hoher Landesfürst würdigte mich eines vertrautern Verhältnisses, das sich wohl auch mit auf eine annähernde Altersgleichheit gründete. So konnte ich dem Fürsten in einer traulichen Stunde des Beisammenseins auch von den vielen Plänen sagen, die ich für Bilder gehabt habe und noch hätte. So z.B. hätte ich gerne in früherer Zeit schon vorgehabt, einen Bilderzyklus aus dem Christusleben zu malen, aber ich hätte nirgends Wände dafür gefunden und so seien in kleinerem Format manche Bilder unter diesem Plane entstanden. So z.B. Christus und Nicodemus, die Samariterin, Flucht nach Ägypten, Versuchung und andre, die aber als einzelne Bilder keinen Zusammenhang gehabt hätten und als Staffeleibilder zerstreut worden seien. Da sagte der Gütige, es klang fast wie scherzhaft: »Wände könnte man doch dafür schaffen!« Nun war der alte fast vergessene Plan wieder aufgeweckt, er wurde um so greifbarer, da inzwischen die für die Peterskirche in Heidelberg bestimmten zwei Altarbilder an ihre Stelle gekommen waren.

Da ich aber schon 65 Jahre geworden, so war ich zaghaft und traute mir kaum mehr zu, eine solche Arbeit noch zu unternehmen. Doch machte ich einen Entwurf zu einem Weihnachtstriptichon, welches ich den hohen Herrschaften zeigen konnte. Großherzogin Luise ließ die Arbeit vergrößert, als Weihnachtstransparent, von Süs ausführen und es wurde bei Weihnachtsfeiern in Schulen und auch einmal im Rathaussaal aufgestellt.

Im August 1905 lud mich der Großherzog nach St. Moritz ein, wo ich das Glück hatte, auf Ausfahrten, auf Spaziergängen, bei Tisch usw. diese hochstehenden edeln Menschen so recht in ihrem grundgütigen Wesen kennen zu lernen. Diese Ausfahrten in der großartigen Natur, so einmal ins Unterengadin auf einer Tagestour, dann nach Pontresina,[106] an die Seen, bei Mariä Sils, wo im Walde der Tee bereitet wurde, bleiben mir unvergeßlich. Dort bei der Überfahrt über den See und im Walde fielen mir das erstemal zwei starke Männer in Zivilanzügen auf, die ich schon anderswo in der Nähe bemerkt hatte. Die Großherzogin sagte mir, das sei die Bewachung, welche die Schweizer Regierung zum Schutze der hohen Herrschaften angeordnet habe. Bei einem schweren Gewitter standen Seine Königliche Hoheit und ich an dem Fenster des Gasthauses in Maloja. Wir sahen hinunter in das so steil unter uns liegende Bergell, sahen auf der sich heraufwindenden Landstraße den winzig klein erscheinenden Postwagen. Aber wie aus einem Höllenkessel wallten die Nebel an den Felsenwänden auf und nieder, während Blitze über uns zuckten und weithallender Donner über das Gebirge hinrollte. Ein solcher großer Natureindruck gemeinschaftlichen Genießens und Betrachtens verbindet mehr, als es noch so ausdrückliche Gespräche vermögen. Es sind Eindrücke, vor denen auch die Sprache verstummen muß.

Zu St. Moritz war es, als der Großherzog, nachdem er mich fast bedeutungsvoll ansah, sagte: »Wenn wir Weißbärte noch etwas machen wollen, so meine ich, daß es hohe Zeit ist.« Ich verstand den Wink und gestand, daß ich in einer Art von Verzagtheit kaum den Mut habe, die Sache zu unternehmen in Furcht, wenn der Bau gemacht sei, ich die Kraft nicht mehr haben könnte, die Sache fertig zu machen. Ich machte nun den Vorschlag, daß ich zuerst den Bilderzyklus fertigmachen wolle und daß dann erst ein Bau dafür gemacht werden solle, nur so könne ich in Ruhe arbeiten, ohne den Druck nichterfüllbarer Verpflichtungen auf mir zu fühlen. So geschah es auch, ich fing die Malerei auf Grund und in den Maßen des Weihnachtstransparentes an und hatte am Ende des Jahres 1928 die Christusbilder fertig, ebenso die Kalenderwand mit den Monatsbildern und den Jahresregenten, so daß das Ganze unter dem Begriff eines Festkalenders sich zusammenfassen lassen konnte. Der hochselige Großherzog sah die fertigen Bilder nicht mehr. Aber Seine Königliche Hoheit Friedrich II. ließ einen Anbau an die Galerie errichten mit einem Anbau für die Christusbilder. In zwei Zimmern des untern Raumes konnten eine größere Anzahl von Bildern von mir untergebracht werden, die zum Teil schon der Galerie[107] gehörten, zum größten Teil aber aus einer Schenkung bestehen, welche ich aus noch in meinem Besitz befindlichen Bildern dem badischen Hof zum Schutze übergeben durfte. Auch Freunde von mir schenkten in gleicher Weise Bilder; so Eduard Küchler das Porträt meiner Frau als Gärtnerin. Die Gräfin Erdödy schenkte ein Paradies, die Nornen und das Seeweib. Mein Selbstporträt mit Amor und Tod hat mir vermacht, so daß ich es hier unterbringen konnte.

An meinem 70. Geburtstage 1909 war die Eröffnung dieses Thoma-Museums. Es war eine große Feier mit Beteiligung der hohen Herrschaften, der Staats- und Stadtbeamten, Deputationen der hiesigen und auswärtiger Akademien und Künstlervereinigungen. Zu Tisch war die ganze Gesellschaft der Festgäste ins Schloß geladen. Am Abend war ein Festakt im Museum und weitere Ehrungen für mich. Der Großherzog hatte mir das Großkreuz des Zähringer Löwenordens verliehen, vom Großherzog von Hessen erhielt ich das Großkreuz des Philippordens. Im Museum wurde ein mit Hilfe vom Hoftheater und vom Verein bildender Künstler von Albert Geiger verfaßtes Festspiel mit Anklängen an Bilder von mir aufgeführt. Ehrendiplom und eine Kassette mit Zuschriften wurden mir überreicht usw. Tags darauf, am Sonntag, war im Stadtgarten gemeinschaftliches Mittagessen der Freunde von nah und fern. Am Abend war eine allgemeine Feier in der Stadthalle mit Aufführungen. Die Kinder der Duncanschule in Darmstadt waren hergekommen und führten ihre schönen Tänze auf. Es wurden Reden gehalten. Eine Militärkapelle spielte, die ganze Halle war gefüllt. Es war eigentlich erdrückend für mich aber ich hielt stand und überwand meine Schüchternheit und hielt vom Podium aus, unvorbereitet, eine gar nicht kurze Ansprache an das festgästevolle Haus. In einem gedruckten Festbericht ist die Rede aufgenommen. Daß ich noch einmal öffentliche Reden halten würde, hätte ich auch nie geglaubt. So hatte ich ein paar Jahre vorher schon, veranlaßt durch den Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein, bei dessen Ausstellung in Köln 1907 die Eröffnungsrede zu halten.

Aber es waren eben doch die Tage der Vereinsamung gekommen, und da die Süddeutschen Monatshefte, deren Herausgeber H. Coßmann[108] ich von Frankfurt her schon kannte, mich veranlaßten für sein Blatt dann und wann einen schriftlichen Beitrag zu liefern, so entstand aus diesen in stillen Stunden entstandenen Aufsätzen und Reden usw. später ein Buch im Verlag der Süddeutschen Monatshefte unter dem Titel: »Im Herbste des Lebens gesammelte Erinnerungen«, das ziemlich freundliche Aufnahme gefunden hat. Auch wurde auf meine Veranlassung eine Neuherausgabe von Dürers »Unterweisung der Messung«, bearbeitet von meinem jungen früh verstorbenen Freund Alfred Pelzer vom gleichen Verlag herausgegeben. Bei uns im Hause wurde es noch einsamer, da unsre Tochter Ella sich mit Friedrich Blaue verheiratet hatte – so waren Agathe und ich recht allein in der Wohnung.

Aber ich hatte gar nicht viel Zeit allein zu sein. Der Großherzog hatte mich zu meiner großen Überraschung im Jahre 1907 in die erste badische Ständekammer berufen, welcher ich seitdem als Mitglied angehöre. Da ich diese Ernennung als Wunsch meines Landesfürsten ansah und annahm, sagte ich mir und andern, daß ich mir wohl bewußt sei, daß ich kein gesetzkundiger Politiker sei und daß meine Berufung doch als Vertretung der Kunst in diesem hohen Hause aufzufassen sei, so werde es mir gelingen mit Ehren zu bestehen. Ich kam auch bei jeder Landtagsperiode immer ein- oder zweimal zum Reden, dabei ließ ich mich nur auf Fragen ein, in denen auch ein Künstler mitsprechen kann. So z.B. über Naturschutz, über Vogelschutz, auch über die jährlich wiederkehrenden Kunstakademie- und Galeriefragen, über Zeichenunterricht, auch einmal über die Sittlichkeitsfragen, insoweit sie die Kunst berühren. Ich nahm an allen Verhandlungen lebhaften Anteil und so darf ich mich wohl ein guter Zuhörer nennen. Einmal über eine Petition in Gartenstadtangelegenheiten war ich sogar Berichterstatter. In meiner künstlerischen Tätigkeit herrschte ruhiger Fleiß und es entstanden recht viele Bilder. Auch habe ich viele Radierungen gemacht, über welche der treue Freund Beringer wie auch über meine andern graphischen Arbeiten ein Verzeichnis herausgegeben hat. In dem kleinen Marxzeller Häuschen, welches ich einem Forstmann abgekauft hatte, machte ich recht oft Radierungen.

Für die Bernauer Kirche malte ich zwei Seitenaltarbilder, eine Maria[109] über dem Tal schwebend am Morgen von Vögeln begrüßt, und Johannes den Täufer, der auf den herankommenden Jesus zeigt. Anregung zu diesem Marienbild gab mir ein Gedicht von Franzis Grün.

Als ich im Jahre 1859 in die Kunstschule kam, sagten meine Bernauer Kameraden: »Du mußt uns einmal Bilder malen für unsre Kirche!« Ich, in dem Gefühl, das hat lange Zeit, sagte bereitwillig ja, ich mal euch einmal was. Bei spätern Besuchen in Bernau wurde ich öfters daran erinnert, was ich versprochen hätte. Ich wich aus, und so kam ich nicht dazu, mein Versprechen zu erfüllen. Darüber wurde ich alt und dachte, die Sache sei längst vergessen. Doch als ich im Sommer 1910 wieder einmal in Bernau war, erinnerte der Bürgermeister Maier wieder daran und der Pfarrer Joos stimmte lebhaft bei. Ich schützte mein Alter vor und daß ich, mit allerlei Arbeitsverpflichtungen überhäuft, nicht mehr dazu kommen würde die Bilder zu malen. Doch der Bürgermeister spielte noch seinen letzten Trumpf aus, indem er sagte: »Es kommen jetzt immer so viel fremde Besucher nach Bernau, wenn die im Adler Mittag gemacht haben, so sagen sie, jetzt wollen wir in die Kirche hinüber und die Bilder vom Hans Thoma ansehen. Denn es wird angenommen, daß die vorhandenen Bilder von Ihnen gemalt seien, und die Bilder, die da hängen, sind ja nicht so besonders gut. Diese falsche Meinung sollten Sie sich nicht gefallen lassen und uns jetzt ein paar Bilder malen.« Das zog. Und ich machte mich in Karlsruhe dann gleich daran, nicht ohne eine gewisse Freude, daß mir vergönnt war ein Versprechen, welches ich im Jahre 1859 gegeben hatte, im Jahre 1912 noch einzulösen.

Einige Aufzeichnungen, die ich noch auffinde, erleichtern mir das Erzählen über die Zeit, wie und wo ich mich nach meinem siebzigsten Jahre herumgetrieben habe. Nachdem ich im Winter 1910 eine ziemlich schwere Erkrankung überstanden hatte, meinte mein Arzt, daß ich eine Gegend aufsuchen sollte, wo ich in guter Waldluft Spaziergänge auf ebenem Boden machen könne. Dies fanden Agathe und ich im Waldhotel bei Villingen, wo sich alles dies erfüllen ließ. Stundenlange Spaziergänge kann man durch würzigen Tannwald gehen, und ich spürte, wie wohl mir die frische reine Luft tat. Wir machten auch öfters Wagenfahrten. Villingen ist eine schöne alte Stadt mit schönen Häusern[110] mit gemütlichen Erkern und breiten Straßen; auch besitzt es eine recht interessante Altertums-Volkskunstsammlung. Bei den naiv treuen Porträten, die dort hängen, fiel mir meine ganze Uhrenschildmalerzeit ein. Ich gestand es gerne ein, daß ich aus dieser einfachen Volkskunst meinen Ursprung genommen und freute mich, daß ich diesen Ursprung auch heute noch nicht verloren habe.

In dem wunderbar heißen Sommer 1911 waren wir und auch die Familie Blaue mit den zwei Kindern im Bad Dürrheim. Es war mir von jeher am wohlsten bei der Sommerhitze, und so war ich hier wochenlang recht in meinem Element. Als alter Mann ist man sich seines Rechtes, auf sonnigen Plätzen herumzulungern, gar sehr bewußt, gern möchte man sich ledig aller Pflicht betrachten. Man ist doch nur zum Lebensdienst verpflichtet bis zum siebzigsten Jahr, man möchte sich auch das Denken abgewöhnen, ohne daß man dadurch Schaden anzurichten fürchtet. Man setzt sich in so warmen Sommertagen gleich nach dem Frühstück auf eine Bank, breitet eine Zeitung aus, groß genug sich dahinter zu verstecken, so daß jeder der etwa auch nach dieser Bank strebt, schon von weitem sieht, daß sie besetzt ist. Ist ein Herankommender neugierig, so kann er aus dem Titel der Zeitung schon ersehen, welcher Partei der Zeitungsleser angehört. Nach Partei und Konfession wird gar viel geforscht. Was man in der Zeitung liest, bei so herrlichem Sommerwetter vergißt man es sehr bald und wenn es sogar Kriegsgeschrei ist von einem tückischen Feindesüberfall. Man will es nicht glauben, daß die Völker – »Platz für alle hat die Erde« – so verrückt sind, einander die Gurgel abschneiden zu wollen um nichts und wieder nichts, ja noch um weniger als nichts; um schnöde Habgier. Man kann es besonders in Dürrheim nicht glauben, welches eine Art von Kinderparadies ist. Die Gesundheit vieler Kinder soll durch Salz wieder hergestellt und bewahrt werden für den bösen Winter mit seiner Schulzeit. Das Salz wird hier aus der Erde gepumpt, getrocknet, in Säcke gefüllt, steueramtlich gewogen, mit Bleisiegel versehen und dann in die Welt verschickt.

Im Kurgarten wurde von einer Schauspielergesellschaft das Glöcklein des Eremiten gespielt. Freilichttheater hieß man es. Daß die Nachtszene im blendenden Sonnenlicht gespielt wurde, störte weiter nicht;[111] auch das störte nicht, daß ein aufgebrachtes Hündlein einem der spielenden Helden an die Waden springen wollte, so daß er heftig abwehren mußte.

Wunderbar bei diesem lustklaren Wetter waren hier auf dem Hochgebiete der Baar die Sternennächte. Als ich einmal um Mitternacht auf den Balkon hinaustrat, bin ich fast erschrocken über diese Pracht, die Sterne von gleicher Klarheit vom Zenit bis an den Horizont, jeder Stern glänzend und groß. Sie schienen so nah, daß ich das Gefühl hatte, ich stünde mitten unter ihnen, zwischen ihnen, ganz mutterseelenallein. Ich konnte mir dies erhabene Schauspiel solcher Sternenpracht noch manchmal auf dem freien Felde verschaffen. Die Trockenheit war groß, man jammerte und hoffte immer auf Regen, wenn aber Wolken sich bildeten, so standen sie hochgetürmt, weißgeballt im reinen Ätherblau, welches sie in kurzer Zeit aufzehrte.

Das Hochgebiet, in dem die Donau sich bildet, wie auch etwas südlich der Neckar, ist in seiner Weite und Einfachheit gar schön. Die Bäche troddeln so durch das Gelände ostwärts und auch von da an, wo sie sich zur Donau vereinigt haben, sind sie gar nicht eilig. Die junge Donau scheint es noch gar nicht zu wissen, welchen weiten Lauf sie zu gehen hat. Wie unentschlossen geht sie dahin, und fast könnte man sich denken, daß sie es sich bei Immendingen nochmals überlegt hätte und gerne ins Rheingebiet abgeschwenkt wäre. So versucht sie es hehlings auf unterirdischen Wegen ihrem Bruder Rhein einen Gruß zuzuschicken, ehe sie den ihr bestimmten großen Gang antritt. Daß die Gewässer hier oben so träg nach Osten gehen, das kommt wohl daher, daß ganz nahe dahinter, wo sie hervorquellen, ihre Bruderbäche in mächtigen Sprüngen z.B. bei Triberg in tiefe Täler dem Rheingebiet entgegenstürzen. Die Hauptstadt der Baar, Donaueschingen, ist nach einem Brande gar schön wieder aufgebaut, freundlich und einladend zum wohnen. Im September dieses schönen Sommers kam ich auch nach St. Blasien, dem jetzt so lebhaften Kurorte. Als ich jung war, war es ein gar stiller Ort und seine gewaltige Kirchenkuppel stand sozusagen im Walde, es war damals schöner und die Kirche zeugte von einer großen Vergangenheit. Die notwendig gewordenen Villen und Fremdenpensionshäuser, die unharmonisch herumstehen, verschönen das[112] Bild nicht. Das ist freilich in allen hochgekommenen neuen Badeorten der Fall.

Ich ging auch in mein Bernauer Tal und fand es gar schön in seiner goldnen Septembersonnenklarheit. Die von der anhaltenden Hitze verdorrten Berghalden waren wie aus Bronze gegossen, und auf dem Rücken des Herzogenhornes war ein richtiges Glanzlicht, wie es auf Metall entsteht. So waren auch die Gliederungen der Tälchen, durch welche die Wiesenbächlein fließen, von größter Deutlichkeit der Modellierung. Darüber strahlte der Himmel in blauester Klarheit. Ein geradezu paradiesischer Vormittag, wie ich ihn mir eigentlich nur in Bernau denken kann, war es, als ich und Maler Haueisen, der gar oft in Bernau weilte, in dem Tannenwäldchen waren, durch welches der braune Forellenbach rieselt. Wir empfanden die feierliche Stille des Augenblicks, daß wir uns nur stumm ansehen konnten.

Als ich nach Bernau ging, lag ein etwas ängstliches Gefühl auf mir, ob ich in meinem Alter noch einmal die Stätte meiner Jugend besuchen dürfe. Denn der Jugendtraum kann einem da wie ein Gespenst vor die Seele kommen. Man könnte erschrecken und fragen: »Habe ich denn die gleiche Seele noch wie damals?« Dies beängstigende Gefühl verschwand aber, und ich fühlte bald wieder den Zusammenhang mit meiner Jugend. Es waren Ewigkeitseindrücke, die mich umschwebten. Die blaue Unendlichkeit im Sonnenlicht, in Raumklarheit verscheuchte alle Nachtgespenster, und meine Seele war wieder unsterblich.

Schön sind die braunen Holzhäuser, deren Schindeldächer wie Silberschimmer aus dem Wiesengrün leuchten. Dies Jahr waren besonders schön die großen Vogelbeerbäume an den Straßen hin und um die Häuser herum, so üppig habe ich die Scharlachbeeren noch nie gesehen. Dieser Zusammenklang von Scharlachrot, Blattgrün und tiefblauem Kristallhimmel war von märchenhafter Pracht. Ein wenig gefreut hat es mich auch, daß ich einige der Vogelbeerbäume erkannte, die ich meinem Vater vor etwa 55 Jahren bei einem unsrer Acker habe einpflanzen helfen. Sind die aber groß geworden!

Agathe und ich machten nun öfter kleine Reisen. So kamen wir auch einmal nach Wildungen, Kassel, wo wir die beiden Schwestern Käthe[113] und Lullu Blaue besuchten. Dann mit Frau Schumm zusammen in Düsseldorf, wo eine große Kunstausstellung war usw.

1903 waren wir mit der Familie Sattler in Schönenberg bei Schönau ein paar Wochen zusammen, sahen vom Belchen aus eine ungewöhnlich schöne Alpenaussicht. Ein uns unbekannter Wanderer, der uns auf dem Berge begegnete, war ganz hingerissen und rief aus: »Das zu sehen ist eine Gnade von Gott. So wie heute sieht man die Alpen vielleicht in dreißig Jahren nur einmal.« So hatte ich sie noch nie gesehen in solcher Klarheit und deutlichen Plastik, so oft ich sie auch schon von Kindheit angesehen hatte. Alb. Lang und Süs kamen auch; auch die Familie Küchler besuchte uns dort.

Im Sommer 1905 wohnten wir mit Blaues in dem Schlößchen, welches zum Kloster Frauenalb gehörte. Das Albtal wurde uns vertraut, und das Jahr darauf kaufte ich das kleine Waldhäuschen in Marxzell, wo wir dann bis jetzt fast jeden Sommer ein paar Wochen zubrachten, um auszuruhen, d.h. ich habe gerade hier immer so ganz für mich gearbeitet, und bei dem beschränkten Raum konnte ich nicht viel andres machen als radieren – aber es entstanden auch ein paar große Bilder von unserm Garten aus gesehen.

Eine längere Schweizerreise mit Blaues machten wir auch wieder in diesen Jahren; über Luzern, Vierwaldstätter See, Rigi, Pilatus, von wo ich ein Bild malte, zu welchem mir der Pilatus in seinem Nebelmantel etwa 10 Minuten Zeit für eine Zeichnung von ihm gewährte. Dann fuhren wir über den Brünig nach Interlaken und Wangen. Das großartige Lauterbrunnertal erregte mich sehr. Fast scherzhaft sagte ich zu Agathe in dem Orte Wangen: »Jetzt wünsche ich nur, daß unser Freund Professor Gerland aus Straßburg hier wäre, vielleicht könnte ich von ihm, dem Geologen, erklärt bekommen, wie die Welt gemacht worden ist.« Kaum hatte ich dies ausgesprochen, so kam aus einem der Häuser eine Dame auf uns zu, und wahrhaftig, es war Fräulein Gerland, die Tochter des Geologen. Wir waren gegenseitig freudig überrascht, und sie sagte, daß sie seit gestern mit ihrem Vater hier wohne. Der kam nun auch gleich dazu. Wir machten nun in den nächsten Tagen sehr anregende Spaziergänge in dieser großartigen Welt. Es war gar schön, mit einem so lieben Menschen, der ein so großer[114] Gelehrter ist, in gemeinsamer Ergriffenheit vor den Weltwundern zu stehen. Freilich wie die Erde gebaut worden sei, weiß ich immer noch nicht, so sehr ich auch ein Frager war. Aber ich habe es schon öfters im Leben erfahren, gemeinsames Schauen, gemeinsames Empfinden verbindet die Seelen zu dem, was wir im höchsten Sinne Freundschaft nennen, mehr als alle Erörterungen jemals tun können, ja wo wir das Gefühl dieser Seelengemeinschaft haben, scheut man sich, sie durch Wortbegriffe zu stören. Merkwürdigerweise weiß man auch gegenseitig diese Übereinstimmung, ohne daß man es einander sagt. Leider empfindet man es auch sehr stark, vielleicht bis zur Ungerechtigkeit, wenn man mit einer widerborstigen Seele zusammentrifft. Je weniger bei solchem Einklang Begehrlichkeiten irgendwelcher Art mitsprechen, desto reiner kann das Gefühl der Freundschaft sich entwickeln. Dieses Einigkeitsgefühl ist wohl in der Jugend am häufigsten. Im Mannesalter ist es am stärksten wirksam. Findet es im einsamen Greisenalter noch statt, so kann es den Charakter von etwas Heiligem annehmen, denn es ist durch alle Lebensstufen ein deutlich geistiges Element. Wir suchen ja mit heißem Bemühen nach dieser Seelenübereinstimmung, ja wir reißen uns gar oft gegenseitig unsre Meinung, unser Denksystem herunter, um uns seelisch näherzukommen. Vielleicht könnte man alle Konflikte des Weltgeschehens zurückführen und erklären aus dem Bestreben nach Denkübereinstimmung, nach einer Einheit, unter der sich die Menschheit verstehen kann, unter der sie sich nahestehen kann, unter der sie sich verbinden kann. So könnte man denken, daß der heutige Völkerkrieg wohl zwar kein Konfessionsstreit, wohl aber ein tiefgründig unbewußter Religionsstreit ist, hervorgegangen aus dem allzu heftigen Willen nach Verständigung, hervorgegangen aus den geheimen Tiefen der Menschheit, die der Mensch selten erkennt.

Im Sommer 1906 waren wir ein paar Wochen in Neustadt, besuchten das Donautal, waren in Beuron. Im Buche: »Im Herbste des Lebens« steht ein Aufsatz über diese Sommerfrische. Je näher ich in diesem Le benslaufschreiben der Jetztzeit komme, desto mehr muß ich Betrachtungen allgemeiner Art anstellen. Dieselben gehören aber auch dazu, um mein Lebensbild zu vervollständigen. Ich füge sie dort ein, wo ich keinen rechten Abstand von zu nahe liegenden Geschehnissen habe,[115] wo ich nicht mehr die Übersicht habe, daß ich über sie berichten darf. Denn beim höhern Alter hat man eine gewisse Scheu vor Begebenheiten, man fürchtet aufgescheucht zu werden. Es mag wohl so ziemlich richtig sein, daß man sich in jüngern Jahren, sage ich einmal vor dem siebzigsten Jahre, vor dem Tode fürchtet, aber im hohen Alter bekommt man mehr Angst vor all den Dingen, welche das Leben noch über uns verhängt. Dem Leben gegenüber ist man verzagt. Die Worte aus dem Johannesevangelium fühlt man stark: »In der Welt habt ihr Angst«, und nur noch der beigefügte Ausspruch »Aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden« kann die glaubende Seele mit Hoffnung erfüllen.

So mögen hier als Zwischenlage zwischen den Ereignissen folgende Gedanken ihre Stelle finden.

Alles Allzuviel im Guten wie im Bösen kann den aufrechten, wahrhaftigen Menschen aus dem so notwendigen Gleichgewicht bringen. Allzuviel Güte und Barmherzigkeit, allzuviel Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit, allzuviel Demut und Gefügigkeit, allzuviel Treue und Tapferkeit wirken zerstörend, wenn sie maßlos walten. Wir Menschen haben gar enge Schranken, die wir nicht ausschweifend überschreiten dürfen. Das bißchen freier Wille, der uns gegeben ist, macht, daß wir zu messenden Wesen geworden sind, daß wir gezwungen sind, Maß zu halten, wenn wir nicht in dem engen uns gestatteten Raum auf allen Seiten anstoßen wollen. Wir müssen von allen Grenzen die Mitte kennenlernen, damit wir bei Fehlgriffen immer wieder in ihr Halt finden. Die vielgeschmähte »Mittelmäßigkeit« ist vielleicht doch der Menschheit notwendig, sie hält ihren Stand im Gleichgewicht. Kraftäußerungen im Guten und im Bösen führen zu Kampf und Krieg. Und wo Tugenden oder Laster über die Stränge schlagen, entsteht Zwiespalt, Zweifel und Zerstörung.

So treiben wir uns mit unsern Meßinstrumenten herum zwischen Leben und Tod, zwischen Fürchten und Hoffen, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Freud und Leid, zwischen Wohl und Weh, zwischen Glauben und Zweifeln, zwischen Falschheit und Treue, zwischen Hochmut und Demut, zwischen Mut und Angst, zwischen Trotz und Verzagtheit, zwischen Sattheit und Hunger, zwischen Gesundheit und Krankheit,[116] zwischen Lust und Schmerz, zwischen Liebe und Haß, zwischen Weisheit und Narrheit, zwischen all diesen Gegensätzen, die in der Seele vorhanden sind, damit das Geschöpf Mensch erhalten bleibe, daß sie aufrecht bleibe, die schwankende Gestalt. Mit diesem so reichen Material von Gegensätzen soll das Leben aufgebaut werden, und man sollte denken, daß ein weise messender Meister einen harmonischen Bau aus ihnen herstellen könnte, ein Meister der über sein Material die Herrschaft hat. Aber das ist eine gar schwere Kunst, sie ist vielleicht gar nicht zu erlernen. Wir mögen immer wieder vor unserm Lebensbilde stehen und mit Katzenjammer sehen, wie so vieles davon verpatzt ist. Es wäre oft zum Verzweifeln, wenn nicht der göttliche Leichtsinn über uns käme, den wir Vertrauen nennen, mit dem wir sagen: »Lieber Gott ich kann nicht weiter, zimmere du mich so zurecht, wie du mich haben willst, ich weiß es ja doch nicht, dein Wille geschehe!«

Quelle:
Thoma, Hans: Im Winter des Lebens. Aus acht Jahrzehnten gesammelte Erinnerungen, Jena 1919, S. 105-117.
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