[117] Nach einer Schweizerreise, die ich mit Agathe im Jahre 1909 gemacht habe, ist folgender Bericht entstanden, den ich hier einfüge, obgleich derselbe mit wenigen Abweichungen einmal in den Süddeutschen Monatsheften erschienen ist: Von Sternen und Kindern.
Es gibt wohl kaum ein größeres Vergnügen für einen Schriftsteller, als so vor einem weißen Bogen Papier zu sitzen und im voraus zu vermuten, zu ahnen, was da alles auf diesem Papierbogen an geistigem Gehalt vertintet wird. Die Feder ist gespannt, im Kopfe wirbelt und brodelt es, und nun kann er losschießen, das übrige wird sich finden. Es wird aus Kopf und Feder fließen, nur nicht ängstlich. Ein ähnliches Vergnügen kennt wohl nur noch der Maler, wenn er vor einer reinen Tafel sitzt und sich im Geiste vorstellt, wie sie wohl aussehen wird, wenn er sie mit seinen Flecken (ein verstärkter Ausdruck für Flächen) bedeckt haben wird. Auch er fange unbedenklich an, er ist doch ein Individuum, und da müssen die Flecken seinem Wesen nach sich gestalten, also mindestens Originalflecken werden. Fast kann er die Ungeduld seiner Palette, seiner Pinsel nicht beschwichtigen, nach jedem Schmiß, den er[117] der reinen Tafel beigebracht, tritt er zurück und sieht, ob er gelungen ist, und mißt, wohin der andre Schmiß zu tun ist.
Dies Vorstellen und Vorahnen, wie das Ding werden wird und wie es auch auf den Urheber wirken wird, ist überhaupt eine der schönsten Seiten an jeglichem Kunstbetrieb, und gar manche Kraft würde an der Langeweile des Betriebes erlahmen, wenn nicht bei jedem neuen Papierbogen, bei jeder neuen Tafel sich wieder diese unbestimmte schöne Vorahnung einstellen würde von dem, was herauskommt. So sitze auch ich wieder vor diesem neuen Bogen, und ich kann es dem Leser sagen ganz voraussetzungslos, ganz vorurteilslos, ganz wie ein nur mit der Feder bewaffnetes Medium, das darauf wartet, wie es beeinflußt wird. Ganz willen- und absichtslos, alles von der guten Stunde, von einer günstigen Konstellation der Sterne erwartend. Die Planeten spielen gewiß ihre Rollen im Menschenleben, und es ist nicht einerlei, in welchen Häusern des Himmelszeltes sie sich befinden, wenn dies und jenes im Menschenleben sich zuträgt, für das wir meist nur den plumpen Namen Zufall zur Hand haben. So ist es gewiß nicht einerlei, ob Mars oder Jupiter mit Venus in Opposition oder Konjunktion steht, oder ob an Stelle des Mars der uralte Saturn tritt, wenn irgendwas seinen Ursprung nimmt.
So mögen denn die Wandelsterne über meinem Schreiben walten, sie bewegen und ändern sich fortwährend und unter ihrem Einfluß steht auch unser Tun.
Da ich bei meinen Schreibübungen nie einen vorgefaßten Plan habe, und wenn ich jemals einen habe, ich ihn nie bis zum Ende festhalten kann, sondern, wie gesagt, abwarten muß wie es kommt, so möchte ich aus diesem Grunde es aussprechen, daß meine Schriftstellerei gar wohl impressionistisch genannt werden müßte, so daß ich auch diese Weltanschauung, als welche den Impressionismus manche seiner Anhänger erklärt haben, wenn auch nicht in meiner Malerei, so doch in meiner Schreiberei mitmache.
Man wird wohl schon längst gemerkt haben, daß es mir an einer Weltanschauung fehlt, die mit mir durch dick und dünn geht; daher die vielen Widersprüche, in die ich mich verwickle. Wie oft muß ich etwas zurücknehmen, was ich früher gesagt habe. Das passiert einem[118] mit einer festen Weltanschauung behafteten Menschen nicht. Ein solcher zieht gerade Linien durch die bunten Schnörkel des Lebens, durch die wechselnden Gestalten der Geschichte und beweist, daß dieselben in seiner Anschauung zusammentreffen. Er beweist es, indem er solche geraden Linien sowohl vorwärts wie rückwärts ziehen kann, wo es dann immer stimmt.
Wie könnte ich jemals irgend etwas beweisen! Es läßt mir keine Ruhe, nämlich das Schreiben, obgleich ich gesagt habe, ich wolle es gewiß nicht wieder tun. Aber man kennt dies ja; wie oft von Kindheit an waren wir dazu gezwungen zu sagen: »Ich will es gewiß nicht wieder tun.« Und doch oft stellte es sich heraus, daß es getan werden mußte, und wenn am Ende ein Vorwand sich einstellt, so kann es als Pflicht erscheinen, das Gelübde: »Nicht wieder tun« umzustoßen. Es kommt mir fast vor, als ob ich der Öffentlichkeit noch etwas schuldig sein möchte, und da ein anständiger Mensch, bevor er abreist, soviel wie möglich seine Schulden abzahlt, und weil ich gerade ein wenig Sommerruhe genieße, so schreibe ich halt jetzt wieder.
Die Leser haben es wohl schon selber gemerkt, daß es mit dem Kurorte, von dem ich in den Süddeutschen Monatsheften einmal berichtete, wo unsre Unruhe und Hast sich in friedlich ruhig gelassenes Lächeln umwandeln könnte, nur eine Vorspiegelung war, die aus dem wohlgemeinten Wunsch hervorgegangen ist, ein Geflunker ist, welches man mir verzeihen möge, weil es nicht in böser Absicht geschehen ist; zumal sich eine Aktiengesellschaft für den neuen Kurort nicht gegründet hat, also niemand materiellen Schaden erlitten hat. Das Suchen nach Frieden, nach Glück ist ja jedem Menschen angeboren, jeder muß in eigner Weise nach ihm suchen, und dies Suchen nimmt oft recht merkwürdige Formen an, noch merkwürdigere als die, wie ich es ausgesprochen habe. Es versteigt sich oft bis zu einer Heftigkeit, in der es in den größten Unfrieden umschlägt, wo es dann für andre lebensgefährlich wird.
Man meint in menschlicher Kurzsichtigkeit oft, man wolle Gutes stiften, indem man einen in der Menschenseele lebenden Trieb, die Sehnsucht nach Frieden anspornen will, aber dies kann auch recht ins Gegenteil ausschlagen. Drum ist es besser, die Hände wegzulassen von[119] einem so komplizierten Räderwerk, das man doch nie so ganz übersieht und das wohl eigentlich nur der Uhrmacher regulieren kann, der auch den Lauf der Sterne geregelt hat und in ihrem Bestande erhält.
Inzwischen bin ich 72 Jahre alt geworden und muß die Erde bald verlassen, da kann ich sowieso nicht mehr viel dazu beitragen, daß die Zustände unter dem Menschenvolke friedlicher werden können, und so stelle ich mich gerne auf den Standpunkt: »Eines schickt sich nicht für alle.« »Sehe jeder, wie er's treibe, sehe jeder, wo er bleibe, und wer steht, daß er nicht falle.« Das klingt freilich für manche recht egoistisch, ist es aber doch nicht, denn wenn man es umwandelt in: »Eines schickt sich auch für alle.« »Sehe jeder, wie's der andre treibe, sehe jeder, wo der andre bleibe, und wer steht, daß der andre falle«, so ist das doch schlimmer, wenn es auch etwas teilnehmender klingt.
Für mich selber bleibt nicht viel mehr übrig, als daß ich auf der Ofenbank sitze und wohl noch zusehe, wie's die andern treiben, aber nur zusehe, ja nicht dreinrede. Fast will es mir scheinen, daß, wenn der Körper nicht mehr so weit kommt wie in den jungen Jahren, wenn das kleine Berglein schon ein Hindernis wird, das man sich nicht mehr zu nehmen traut, daß dann, bleibe ich einmal bei der Ofenbank, daß von dieser aus die Phantasie, belebt von der Erinnerung, weiter schweift als in den jungen Jahren, in denen man alles in plumper Wirklichkeit haben möchte. In der Einsamkeit, die das Alter im Gefolge hat, erscheinen nur noch die Bilder der Wirklichkeit, die Ideen, und diese sind leicht beweglich, und man treibt mit ihrer Buntheit ein ganz eigenartig Spiel. Die Phantasie fliegt; sie ist grenzenlos. Und da die Wirklichkeit mit ihren Bedingtheiten auch mit hineinspielt, so wird die ganze Sache traumhaft.
Es ist aber doch Wirklichkeit, daß ich in der Schweiz gereist bin und daß ich dort sogar noch ein wenig Bergsteigen konnte, und mit meinem Alpenstock kam ich in ein Tal, ganz weltabgeschlossen von ungeheuern Felsenwänden, auf denen noch Gemsen wohnen und die Adler horsten, der Gletscherbach fließt ruhig durch den ebenen Talboden und die Sturzbäche von den wolkenumgebenen Felsenhöhen beruhigen sich in ihm, es ist so menschenleer, und einsam ergriffen von seiner Großartigkeit dachte ich, ob nicht hier eine Kolonie Friedensuchender ihre Stätte[120] finden könnte. Als ich aber vernahm, daß in den wenigen Hütten nur Hirten den Sommer über wohnen können und der Lawinengefahr wegen das Tal im Winter verlassen müssen, so floh dieser Gedanke gleich weg. Aber ich möchte dies Tal jedem empfehlen, der auf ein paar Stunden Einsiedler- und Zarathustragefühle recht lebhaft empfinden möchte; wenn er genug hat, möge er dann heruntersteigen dort, wo der ruhige Gletscherbach den Ausweg durch die Klus gefunden und donnernd hinunterstürzt in ein tiefer gelegenes Tal. Man kann sich im freundlichen Wirtshaus zum Bären gut stärken und den Boden des gewohnten Stoffwechsels wieder betreten. Zum Öschinensee, der unter der Blümlisalp liegt, bin ich auch mit Agathe zu Fuß hinaus. Es war gar keine leichte Aufgabe bei der Hitze, aber es gelang, und dieser schöne Erdenwinkel war an dem stillen blauen Tag zauberhaft. Durch das Fernrohr war ein Rudel Gemsen gut zu sehen, die auf Fels und kleinern Schneeflecken über dem See ihr Wesen trieben. Bei aller Großartigkeit hat das Bild der ganzen Gegend etwas Zartes, Mildes, so daß mir der Name Blümlisalp sehr passend erschien.
Auf einem Gemmiwägelchen, ein zweiräderiger Sesselsitz mit einem Pferd davor, bin ich dann auf den Gemmipaß. 35 Kehren, Baedeker hat sie gezählt, führen den steilen Berg bei Kandersteg hinan. Man braucht fast zwei Stunden, bis man auf der Höhe ist, zuerst durch Wald und üppigen Wuchs schöner Alpenpflanzen, von denen mich besonders der fast geheimnisvolle gelbe Enzian interessiert hat. Diese schöne Blumenkerze blüht auch auf dem Feldberg, sonst nirgends im Schwarzwald, da scheint es ihr noch gerade hoch genug zu sein. Wie kam sie nur von den Alpen hier herüber? Leider wird sie auf dem Feldberg von den Sommergästen arg mitgenommen, da sie so auffallend ist. Man sollte schon in der Schule etwas mehr Gefühl für die lebende Pflanzenwelt zu erwecken suchen; man sollte solche Seltenheiten für unantastbar erklären und das Abreißen und Umhauen für sündhaft, denn der Geist des Gebirges wohnt in ihnen. Mir, dem zu einem gewissen Aberglauben hinneigenden Menschen, kommt diese Blume auf dem Feldberg vor wie ein Gruß, den ihm die Alpen hinübergeschickt haben.
An diesem schönen Tage zogen viele Wanderer zu Fuß und zu Roß[121] den steilen Kehrenpfad hinan. Wenn man die Höhe erreicht hat, liegt schauerlich tief unten das einsame Gasterental, ein seltsamer Grusel beschleicht einem, wenn man hinuntersieht, ein Gefühl des Fliegenmüssens, eine Vorahnung des Schwindels. Es war ein gar klarer wolkenloser Tag; die Schrecken der Felsenabstürze waren von keiner Nebelwolke verhüllt. Weiter geht es dann über die jetzt mit Steinen übersäte Spitalmatte, auf welche der fast tückisch versteckte Altels vor ein paar Jahren in der Nacht seine Gletscher herunterschleuderte, Herde und Hirten begrabend. Dann kommt der düstere erdig-gelbe Daubensee in einer Steinwüste, die zu Reue und Leid und Weltabkehr einladet, in der man sich den nach Rom zur Buße wandernden Tannhäuser gar wohl denken kann.
Oben auf der Gemmi ist die großartige Aussicht auf die Walliser Alpen; den Felsenpfad der ins Bad Leuk, auf dessen Dächer man hinuntersieht, führt, machte ich nicht, da auf ihm selbst Gemmiwägelchen ihr Recht verlieren.
Ein Hauptreiz des Hochgebirgs besteht wohl darin, daß da die Erde in so mannigfache Falten gelegt ist und dadurch ihre ganze Größe mehr vorgeführt wird als in flachern Gegenden, so kann der Genußmensch, wir alle sind dies ja, die Augen an gar erhabenen Bildern seiner hier enggefalteten lieben Erde vollsaugen.
»Wildstrubel« ist auch ein guter Name für das mutwillig wirre ineinandergeschobene Felsengebilde, das da oben herrscht. Im Gasthaus ruhten Roß und Wagen und wir stärkten uns zur Rückfahrt. Bei der Abfahrt durch die 35 Kehren ins Kandertal meinte der Rosselenker, man könne ganz gut sitzen bleiben, jedoch bei einigen der nächsten Kehren müsse er recht vorsichtig auf sein Roß aufpassen, und vielleicht sei es doch da sicherer, zu Fuß hinunter zu gehen. Ein solcher Wink leuchtet sehr ein, besonders auch, weil ein steiler Weg beim Heruntersteigen erst recht zeigt, wie entsetzlich steil er ist.
Die Schweiz ist ein gar schönes Land und jeder, der es kennt, stimmt in das Lob ein, das ihr seit alten Zeiten gesungen wird. Man möchte fast sagen, die Schöpfung und ihre Engel stimmen hier selber ihr Loblied an. Welche Perle ist der Vierwaldstätter See mit seinem Pilatus, Rigi, Stanserhorn usw. Schillers Geist umschwebt ihn und seine sich[122] ihrer Freiheit bewußten Bewohner. Ein Geist, dessen leibliches Auge ihn nie gesehen hat. Man kann demnach von der Ofenbank aus wohl noch recht vieles wahrnehmen. Feierlich wirkt die glänzende Jungfrau mit ihren ernsten Begleitern, und das Lauterbrunnertal liegt so lauter da, als ob es einem die Entstehungsgeschichte der Erdoberfläche vordemonstrieren wollte. Als Tribüne für wißbegierige Wanderer ist gerade im richtigen Abstand die Schynige Platte errichtet worden, damit man die ganze Herrlichkeit in aller Ruhe überschauen kann. Wie lieblich sind die Gelände um den Thuner See herum! Was ist nicht alles noch zu loben!
Manche befürchten, daß die Schönheit der Schweiz durch die vielen Hotels und Eisenbahnen ungünstig beeinflußt werden könnte, ich glaube das nicht; es bleibt vor dieser vielgestaltig ausgebreiteten Größe doch alles Menschenwerk wie Ameisengekrabbel, an dessen Fleiß man sich doch auch freuen kann. Wen könnte es auch genieren, daß so ein Bergbahnwurm, z.B. nach Mürren, sich hinaufwindet.
Ein Dichter hat die Schweiz als Brücke Europas besungen. Möge diese Brücke stets friedlichem Verkehr dienen, die Völker im Frieden verbindend. Daß die Schweiz, wenn es nottät, auch eine gute Brückenwache zu stellen wissen wird, daran zweifle ich nicht. Möchte es nie nötig werden!
In der Schweiz fühle ich mich immer recht heimisch, das liegt daran, daß, sobald ich dort bin, ich wieder im alemannischen Dialekt spreche und sogar denke, dessen eigenartige Feinheiten und auch Grobheiten ich gründlich verstehe; dann habe ich von Jugend auf beim Geißhüten und Heidelbeerpflücken auf den Schwarzwaldhöhen mit Sehnsucht nach der Alpenkette hinübergesehen. Jetzt sehe ich den gelben Enzian auf dem Feldberg so an, als ob ihm die Alpen eine anerkennende Dekoration hinübergeschickt hätten, so ist der Feldberg mit seinem goldnen Enzian im Knopfloch in seiner Höhe auch ohne Zahlenangabe sehr gut bezeichnet.
Da ich gerade von Blumen spreche und vom Dialekte, so kann ich nicht unterlassen, von einem gar schöngeformten bescheidenen Blümlein zusprechen, das ich auf Schweizerboden gefunden habe, auf Muttererde gewachsen, davon ist es so zart geworden aus der Muttersprache[123] gebildet, davon klingt es so lieblich. Ich will aber von meiner bildlichen Sprache abgehen, indem ich sage, daß ich mit diesem Schweizerblümlein ein kleines Bändchen Gedichte meine, betitelt: »Mis Chindli« von Sophie Hämmerli-Marti, im Aargauer Dialekt – und zeigen, wie mean ihrem Chindli ihn spricht.
Obgleich ich von der Verfasserin keine Erlaubnis dazu habe, die ich dieser Freibeuterei wegen um gütige Nachsicht bitte, setze ich ein paar Proben aus diesem Büchlein hierher, und ich denke, daß mancher Leser und noch mehr manche Leserin mir dankbar sein wird, daß ich ihnen etwas Schönes aus der Schweiz mitgebracht habe, das ich hier freilich am liebsten vorlesen möchte in der richtigen Aussprache.
Hier einige Proben:
Langi, schöni, liebi Gschichte
Tuet is eusers Chindli brichte,
's goht as wie am Rädli gspunne,
Dussen aber lachet d' Sunne,
Und sie dänkt: »Mi nimmts doch wunder,
Was die ghören a dem Plunder.
's isch nid dütsch und nid französisch,
Oder isch es ächt chinesisch?«
»Sunne heb dis Lachmul zue,
Mir verstöhnds, des isch jo gnue«
Chömed au und lueged gschwind
Eusers tusig wütters Chind,
Wie se si cha rode:
's Lintuch, d' Decki, alles furt
D' Windli, d' Strümpfli und de Gurt,
Alles lit am Bode.[124]
Und jetzt schlot das Lumpechind
Grad as wine Wirbelwind
Dri mit alle Viere,
Lacht und juchset frei darzue:
»So jetz isches aber gnue,
Tue di au scheniere.«
De Schulsack a Rügge,
En Apfel id' Hand,
Es frisch glättets Schaubeli,
En gsunde Verstand –
So reiset mis Chindli
Ganz lustig dervo
Und loht mi eleigge –
Wie wird's em ächt go?
Jetzt nur noch eins, in dem der Dialekt so eigenartig hübsch klingt, daß man es hören sollte:
»Inestäche, umeschlo,
Durezie und abelo.«
»Inestäche, umeschlo« –
Denket lisme chani scho
Han e große Kugel Wolle
Dörse go bim Krämer hole
Lisme drus im Titti Strümpf
Nodle hani au scho fünf
Tue no andri schöni Sache
Denn fürs Wienachtschindli mache,
Aber langsam gohts halt no:
»Durezie und abelo.«
Sind das nicht schöne Kinderbildchen?
Daß wir alle die Kinder lieben und daß, wenn der Wirrwarr des Lebens über unsern Köpfen zusammenschlagen will., wir die Sehnsucht[125] in uns fühlen, wieder zu werden wie die Kinder, ist eine alte Geschichte. Rückkehr zum Urstand unseres Seins, den wir in der Kinderseele ahnen, wort: »Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder« wird bestehen bleiben. Es sagt nicht, wenn ihr nicht seid oder bleibet wie die Kinder; denn das »Werden« ist ja das eigentliche Element des Lebens, das Suchen nach dem Kern der Seele führt uns zu dem Kinde. Das Werden im geistigen Leben ist immer ein Willensakt, und hier gilt es, nicht aus Schwäche, ein Kind werden.
Was für eine Sternkonstellation jetzt am Himmel sein wird, daß ich von Kindergeschichten nicht loskommen kann?
Der geneigte Leser möge sie geduldig und mit dem Behagen aufnehmen, wie er doch meistens auch Kinderbilder ansieht, die so oft gemalt werden.
Es gibt ja kein ästhetisches Gesetz und auch kein anderes, welches verbietet, von den Kindern zu erzählen, und dagegen kann auch keine unserer paar Weltanschauungen und so gar keine politische Partei, keine Religionsgesellschaft, keine Konfession Einspruch erheben.
Die Hilflosigkeit, die ein Menschenseelchen hat, das neu auf die Welt gekommen und so fremd auf ihr ist, zieht uns zu ihm hin. Wir müssen ihm ja helfen, denn es geht gar lang, bis es sich in der Realität der Welt zurechtfindet. Es muß gar viele Proben anstellen, um sich nur die allernötigsten Kenntnisse anzueignen, und schließlich muß es doch alles selber finden. Wir freuen uns, wenn das Kind uns fröhlich entgegenlacht, und freuen uns an seinem Gebaren, wenn wir merken, daß es sicherfrech die Welt als eine gegebene Tatsache auffaßt. Freilich sieht uns so ein Kinderauge meistens auch so fragend an wie ein Tierange, und wenn wir aufrichtig sind, so müssen wir auch beim Kinde sagen, es ist eigentlich ganz wenig, was wir dir sagen können; kannst du uns nichts sagen, du neues Seelchen, das ja so ganz kurz erst aus der Unendlichkeit zu uns gekommen ist. Weißt du nichts mehr? Aber wir müssen dich nun erziehen – hinauf oder hinunter? zu einem der Menschenwesen, wie wir sie auch sein müssen.
Aber ich will statt solcher Betrachtungen lieber ein lustig Kindergeschichtchen erzählen, wie Lisa mir eine Strafrede über Erziehung gehalten[126] hat von ihrem Kinderstühlchen aus, obgleich sie damals in ihren Reden nicht viel anderes ausdrücken konnte als den Unterschied zwischen Ja und Nein. Ich saß nämlich eines Tages neben ihm und hörte gern seinem Lallen zu, durch das es sich mit seinen Spielsachen unterhielt; da nahm es ein Hötzschäschen und ließ es auf den Boden fallen, ich hob es wieder auf, es wiederholte das Spiel, bis es mir verleidete. Da sagte ich: »Nein Lisa, nicht hinunterwerfen, nein!« Aber schon wieder hatte es sein Schäflein in der Hand, sah mich mit lächelndem Forscherblicke an und ließ es trotz meinem stärker betonten Nein wieder fallen und wieder und wieder. Schließlich wurde ich ungeduldig, ich machte mein ernsthaftestes Gesicht, sah sie scharf an, erhob drohend den Zeigefinger und sagte: »Pst! Lisa, nein, nein, nicht mehr herunterwerfen, pst! nein, nein!« Und ich nahm ihm das Schäflein weg. Das Kind sah mich stumm und traurig an.
Viele Tage später saßen Lisa und ich in ähnlicher Situation am Tisch; es herrschte tiefer Friede zwischen uns, da auf einmal ohne allen äußerlichen Grund fing das Kind an heftig zu weinen und mit dem Köpfchen zu schütteln, sah mich an und stieß heftig hervor: »Nein Mba nein pst nein, nein nein nein pst! Mba nein.« Es wollte mir sagen, daß ich nicht mehr Pst! zu ihm sagen solle. Es wollte sich gar nicht beruhigen lassen, so lebhaft war die Erinnerung an die Drohung, die ich mindestens acht Tage vorher gemacht hatte
Ich war wirklich beschämt; war es denn recht von mir, daß ich diesem harmlosen Spieltrieb gegenüber alle Waffen des Alters hervorholte, den drohenden Finger hob und das zischende Pst durch die Zähne stieß; ich schämte mich. Wußte ich denn, ob nicht Lisa durch dies Hinunterfallen lassen das Gesetz der Schwere ergründen wollte, oder sie nicht in vivisektorischer Art erproben wollte, was so ein Schäflein aushalten könne! Wie viele Proben muß auch schon ein Kind anstellen, bis es nur ein klein wenig über die harten Gesetze des Daseins orientiert ist. Und da schreit gleich ein Mba: »Pst nein nicht tun pst!« Ich werde nie mehr zu einem Kinde Pst! sagen. Es kommt mir jetzt vor wie eine Beschränkung der Freiheit wissenschaftlicher Forschung. Und wenn ein solches Geschöpfchen durch seine Forschungen auch auf den Gedanken kommt: »Es weiß alles«, so schadet es ja doch nichts. Das[127] Kind hatte schon früh einen merkwürdig guten Blick, auf Bildern alles zu erkennen, so daß wir uns höchlich verwundern mußten; besonders sein Papa wurde nicht müde, es zu examinieren und dann erstaunt auszurufen: »Es weiß alles!« An einem Sonntagnachmittag das, das da, hier das? Lisa wußte alles! Endlich verleidete es ihr, sie lief fort ins andere Zimmer zu ihren Spielsachen, und unter der Tür sagte sie selbstbewußt: »Es weiß alles!« damit ihr Weglaufen rechtfertigend.
Früher einmal, im »Herbst des Lebens«, habe ich geschrieben, daß ein ganz kleines Kindlein aus seinem Bettlein in die Unendlichkeit des blauen Himmels hinaufgeschaut hat und ich sein Lallen so etwa wie den Sang eines Seelchens an den unendlichen Raum aufgefaßt habe. Viele werden gedacht haben, das ist so eine Künstlerphantasterei. Es ist der reine Blödsinn, was so ein Wurm lallt und brüllt. Aber ich möchte mich nun doch ein wenig rechtfertigen, daß das, was ich damals gesagt habe, doch nicht nur so in den Tag hinein und nur aus meiner Vermutung heraus gemeint war. So will ich nun erzählen und zwar wortgetreu, denn Lisa war inzwischen zweieinhalb Jahre alt geworden und konnte schon recht viele Worte gebrauchen, wie Lisa die Nacht entdeckt hat, und wie sie in ihrem Bettlein im Dunkeln ein Nachtlied gedichtet hat.
Zu der Zeit, da die Sommertage anfangen kürzer zu werden, war sie länger auf. Das Licht brannte im Zimmer, die Tür, die direkt in den Garten geht, stand offen, da sah sie auf einmal in die Dunkelheit hinaus und sagte verwundert, fast fragend: »Nacht draußen! Isa sehen wie Nacht ist.« Damit watschelte sie zur Türe hinaus, kehrte gleich wieder um: »Draußen Nacht, im Garten Nacht, überall Nacht!« Sie trippelte wieder hinaus bis an das Gittertor des Gartens, zu sehen, ob vor dem Tor im Wald auch Nacht sei, sie kam wieder und verkündete uns: »Draußen überall Nacht, im Wald auch Nacht, was ist auch das? – ganz Nacht!« Sie wollte aber sehen, ob auf der andern Seite des Hauses auch Nacht sei, und ich nahm sie auf den Arm und trug sie durch das dunkle Gebüsch ins Gemüsegärtlein. Da war auch Nacht, aber sie sah den Himmel über sich und die Sterne so hoch[128] droben: »Da Sternlein, dort auch Sternlein, große Sternlein, kleine Sternlein,« sie entdeckte immer mehr, sie war voll Verwunderung und voll Staunens: »Nacht, überall Nacht! Was ist denn das? Viele Sternlein.«
Sie wurde zu Bett gebracht. Sie war ganz still. In der Nacht wachte sie auf und fing an zu sprechen, meine Schwester hörte ihr zu. Lisa fühlte sich aber ganz allein. Zuerst von ihrer Puppe, der Frieda, dann auf einmal:
»Nacht, überall Nacht –
Nacht – hier Nacht,
Draußen auch Nacht,
Im Garten Nacht,
Im Wald auch Nacht,
Überall Nacht,
Und Sternlein hoch oben am Himmel,
Große Sternlein, kleine Sternlein.
Alle schlafen,
Der Brunnen schlaft,
Die Bäume schlafen,
Der Wald schlaft,
Die Sternlein schlafen,
Der Mond schlaft,
Alle Leute schlafen,
Schlaft wohl!
Schlaf wohl, Wald!
Schlaf wohl, Garten!
Schlaf wohl, Nacht! –
Lieber Gott, mach mich fromm,
Daß ich zu Dir in Himmel komm!«
Ist das nicht, als ob man ein Quellchen rieseln hörte, von dem aus die Poesie ihren Ursprung nimmt? Jenseits von aller Literatur und ihren Vorratsbehältern? Ein Quellchen, aus dem auch die tosenden Sturzbäche und die stolz hinwandelnden Ströme der Poesie ihren Anfang nehmen. Die Verwunderung und das Staunen sind die lebendigen[129] Quellen der Poesie. Der Verstand freilich ist immer dahinter her, sich die Verwunderung abzugewöhnen. Es ist wohl seine Aufgabe, und ich will sie ihm nicht absprechen. Was ist ihm die Nacht! Da ist doch nichts zu verwundern. Das kommt, weil die Sonne auf der andern Seite der Erde steht. Von diesem Standpunkt aus wird freilich keiner ein Nachtlied singen oder ein Nachtlied verstehen.
Der Mond ist für alle Kinder, so auch für Isa, eine überaus wichtige Erscheinung. Die Sonne nehmen sie als eine gegebene Sache, die sie nichts weiter angeht. Dem Vollmond warf es Kußhändchen zu, und wenn er hinter eine Wolke ging, so machte er Guckguck. Später sah sie erschrocken den Halbmond und war sehr überrascht und sagte: »Mond kaputt, Axtmann wieder machen.« – Zu Axtmann hat sie das größte Vertrauen, denn er fährt den Sand auf die Gartenwege, er bepflanzt den Garten mit Erdbeeren und Obst, er holt die Kirschen vom hohen Baume, er kann machen, daß der Brunnen wieder läuft, was kaputt ist in Haus und Garten, Axtmann kann es wieder machen.
Das ist auch so schön, daß ein Kind die Axtmänner so in ihrem Werte anerkennt – es beruht doch so vieles vom Bestand der menschlichen Gesellschaft auf diesen Werkmännern und ihrem anspruchslosen Tun, und wir dürfen die Kindermeinung über sie schon annehmen – und sie höher bewerten, und wenn wir bemerken, daß es ihrer gar viele gibt, so wollen wir uns darüber freuen.
Möchte man die so fleißigen treuen Axtmänner, die Werkmänner, die so still genügsam ihre Pflicht tun, ja recht hoch schätzen, sie müssen gar manches wieder gutmachen, was menschliche Kurzsichtigkeit, manchmal auch Hochmut kaputt gemacht hat; dies stetige Menschenmaterial. Und wenn ein Kind glaubt, daß Axtmann den Mond wieder ganz machen kann, allzusehr wollen wir nicht darüber lachen. Wer weiß? Wir wissen doch noch gar nicht arg viel vom Zusammenhang der Menschenseele mit dem Sternenlauf. Jedenfalls der Sternenlauf beruht auf der größten Stetigkeit, und so könnte man gar leicht annehmen, daß Werkmänner, Axtmänner in ihrer stetig ruhigen Art auch den regelmäßigen Gang der Monderneuerung aufrechterhalten müssen. Ausgesprochene Herrennaturen, Übermenschen, möchten gar leicht auch den Mond aus seiner regelmäßigen Bahn verrenken wollen.[130] Aber die Axtmänner mit ihrer Schwere setzen derartigem ein unüberwindliches Nein entgegen.
Es ist wohl ein Fehler des Alters, daß man das Stetige mehr anerkennt, das still-beharrlich Schaffende, und das Sprunghafte nicht mehr so recht mag.
»Treuer Knecht« kann unter Umständen ein höherer menschlicher Ruhmestitel sein, als Herrennatur sich zu heißen; ein richtiger Herr muß aber auch dienen können, wenn er ganz auf seiner Höhe stehen will. Der Mensch steht jenseits der Gegensätze von Herr und Knecht. Es ist eine große Sache um einen treuen Knecht, freilich braucht aber der Knecht deshalb nicht hochmütig zu werden. Gar gerne spreche ich den einfachen, ruhig gefaßten Menschen das Wort – und ich möchte sagen: »O störet sie nicht! Laßt sie ruhig sein!« Unter all den Unkräutern, die der böse Feind nächtlich auf das Ackerfeld streut, ist wohl die Unzufriedenheit das zerstörendste, es ist ein giftig Kraut und nicht einmal schön, wie manch an der Kraut, das mit seinen Blumen doch noch den Acker schmücken kann, wenn es auch unnötig scheint. Ein Mensch kann ja wohl nie ruhig sein, solange sein Herz das Ticktack schlägt zu dem Marsche, mit dem er der Ewigkeit entgegengeht. Ertönt aber nicht aus dem einförmigen Marschtakte des Herzens manchmal eine liebliche Melodie, eine himmlische Weise, die wie ein Hauch aus der Heimat unsre Seele füllt, aus der wir die Ruhe, die wir ersehnen, herausahnen, so daß unsre müden Schritte leichter werden?
Wir wollen dankbar diesen Melodien lauschen und sie nicht überhören, nicht übertönen lassen von dem Tripptrapp unseres Ganges. Daß nun das, was ich hier ausgekramt, hauptsächlich von Sternen und Kindern handelt, daran ist sicher auch ein Stern schuld, nämlich der herannahende Weihnachtsstern.
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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
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