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[18] In meinem Gedenken an die Kinderzeit darf ich das Bäsle Katerina nicht vergessen. Sie war die Witwe des ältesten Bruders Felix meines[18] Vaters, eine herzensgute sanfte Frau; ich war soviel wie möglich bei ihr, sie hatte immer ein gutes Wort für mich, auch oft einen Leckerbissen, wenn er auch klein war. Ost saß ich bei ihr auf der Ofenbank oder auf ihrem Schoß und sie erzählte mir Geschichten, so erfuhr ich von ihr die Geschichte vom tapfern Schneiderlein, vom Schneewittchen und den Zwergen, vom Machandelbaum, natürlich in süddeutscher Benennung und Fassung. Ich möchte wohl wissen, wo sie die Märchen her hatte. Daß sie dieselben nicht im »Grimm« gelesen hat, weiß ich bestimmt, denn sie hatte keine Bücher. Auf der Ofenbank saßen wir und ich sah auch gleich die Bilder zu den merkwürdigen Geschichten, ich sah sie an der Wand, wo die teilweis abgeriebene Tünche allerlei Gestalten angenommen hatte, ich zeigte sie der Tante, die gutwillig mitsah und miterkannte.

Anschließend will ich hier auch ihres Sohnes, meines Vetters Aloisi Thoma gedenken, der war eine Natur, von deren Wesen Friede ausging, ohne daß er etwas sagen brauchte – seine Zufriedenheit war so groß, daß er in ihr glücklich sein konnte. Sein Arbeitsverdienst als Holzwarenverfertiger war sehr – gering, man könnte fast sagen ein Hungerlohn, aber er hatte eine kleine Landwirtschaft, d.h. ein paar Wiesen und Acker, er konnte eine Kuh und ein paar Ziegen halten, es war alles so klein, daß er es mit seiner Frau bewirtschaften konnte. Als seine Frau starb war er freilich, sie waren kinderlos, ein armer einsamer Mann. Als ihm Freunde von mir Bücher zum Lesen gaben, sagte er mir, er lese nicht gern, er habe aber so viel Gedanken im Kopfe, daß er damit viele Bücher füllen könnte, wenn er es aufschreiben könnte. Wenn ich in spätern Jahren Bernau besuchte, war ich immer gerne um ihn – so besuchte ich ihn einmal mit meiner Frau – er sah uns bedächtig mit seinen klugen, treuen Augen an und sagte: »Gelt, du bist jetzt an großer Herr, aber du hast gewiß auch viel Müh' – so daß ich glaub', mir ist viel wohler in mei'm klein Wesen – 's muß halt jeder sein Teil Sorgen durch das Leben tragen.« Dann sah er uns beide durchdringend innig an. »Ihr händ euch gesunde im Leben und in der Liebe. Ihr g'höret jetzt zusammen. Händ nur Friede mitanander. Dernoch ist alles gut.« Und dann spielte ein schalkhaftes Lächeln um seinen Mund als erforschend fragte: »Könnet Ihr 's Vaterunser au no?«[19]

Eine Schwester meines Vaters, Rosa, kann ich mir immer nur am Baumwollenspinnrad vorstellen und ich höre das Schnurren desselben. Es war noch die alte Baumwollhandspinnerei, ehe die Fabriken aufkamen, es war, wie auch die Weberei, eine Hausindustrie, die besonders in Todtmoos einen Hauptsitz hatte.

Eine andre Tante, Pauline, wohnte in den Kaiserhäusern, ich besuchte sie dann und wann – sie wurde hoch in die Neunzig alt.

Der Bruder meines Vaters, den ich gekannt habe, war der Michel. Ein rüstiger stattlicher Mann, der auch, was damals noch nicht so häufig war, eine Zeitlang Soldat war. Viel weiß ich nicht von ihm. Die Mutter hat von ihm erzählt, daß er gesagt habe, sein Abendgebet, wenn er müde sei, sei kurz, er sage nur: »Lieber Gott, du kennst dein Michel!« Dann lege er sich ruhig ins Bett.

Die Erinnerungen aus der Kinderzeit, die vor meinen Schuljahren liegen, sind mir sehr lebendig – mehr noch in einer Art von Stimmungen, die im Sehen liegen, als durch Geschehnisse. So erinnere ich mich wohl des fast schreckhaften Eindruckes, wie ich zum erstenmal bewußt den Vollmond hinter den schwarzen Tannen des Rechberges emporsteigen sah. Ich erinnere mich auch eines schweren Gewitters und der Wolkengebilde, die über dem Steppberge sich auftürmten. Darüber läßt sich wohl nicht viel schreiben, aber ich denke, etwas davon ist in mein Malen übergegangen, so daß mir später beim Malen mancher Bilder war, als ob unsichtbare Geister mir die Hand führten und die Farben mischten.

Durch die Vermittlung meiner Tante Marie in Basel kam ich im Jahr 1853 zu einem Lithographen dort in die Lehre. Das Lehrgeld, 820 Franken, sollte nach überstandener Probezeit von einem Basler Wohltäter bezahlt werden. Ich war ein paar Wochen dort und machte Schriftproben zur Zufriedenheit des Meisters Zemp. Aber ich muß bleich ausgesehen haben, und war sehr schmächtig und zart. Eines Tages stand ein fremder Lithograph neben meinem Arbeitstisch, lobte meine Schriftproben, fragte aber teilnehmend, ob ich mich wohl fühle, und als ich ihn fragend ansah: ob ich keine Schmerzen auf der Brust fühle, das Lithographieren mit dem Gebückt-über-dem-Stein-Sitzen sei eine ungesunde Arbeit, die mancher nicht aushalte. Von da an fühlte[20] ich allerlei Ziehen und Reißen in der Brust, das immer heftiger wurde, jemehr ich mich danach sehnte, wieder nach Bernau zu kommen. Ich war in einem Kosthaus untergebracht und schlief mit etwa einem Dutzend Fabrikbuben in einem großen Raum. Das war mir unangenehm, die Buben waren auch in einer Art Gehässigkeit gegen mich, weil ich mehr Freiheit hatte und nicht in die Fabrik mußte – aber das Essen schmeckte mir sehr gut. Die Schmerzen in der Brust nahmen zu. Ich sagte es dem Meister, der ein guter Mensch war, er schickte mich zu einem Arzte, der mich untersuchte und fand, daß ich nicht sehr kräftig sei, und daß ein anderer Beruf wohl besser für mich sein könnte. Daraufhin wurde ich von meinem Basler Gönner zu einem Architekten geschickt, ob der mich nicht brauchen könne, der lachte und meinte, da gehörten wohl andre Vorkenntnisse dazu, als ich sie habe.

Die Probezeit war indessen abgelaufen, es wurde mir aufgegeben, einen Lebenslauf zu schreiben, der dem unbekannten Wohltäter vorgelegt werden sollte. Das hat mich nun arg erschreckt – was konnte doch ich armer Bub, der kaum angefangen hatte zu laufen ins Leben hinein, da schreiben – ich wußte eigentlich nur, daß ich von Bernau hinunter nach Basel gekommen sei und jetzt gern wieder von Basel nach Bernau hinausgehen möchte.

An dem Berg des Lebenslaufschreibensollens scheiterte eigentlich die ganze Sache und ich packte auf und ging wieder heim.

Mein Vater war freilich recht unzufrieden, daß ich nicht ausgehalten hatte, doch daß ich nicht gesund sei, hatte schon eine Tante, die mich in Basel gesehen hatte, den Eltern erzählt und sie damit erschreckt, daß sie sagte, ich hätte schon einen ganz jenseitigen Blick. Nun mußte ich in Feld und Wald mitarbeiten, um unsern kleinen Karren vorwärts zu schieben; mein Vater und ich suchten Vogelbeer- und Ahornholz, welches wir zubereiteten für Onkel Ludwig, der Spulen daraus drehen konnte.

Die Verbindung mit Basel war aber doch noch nicht ganz gelöst und so ging ich mit der Mutter und mit meinem sechsjährigen Schwesterlein Agathe im Frühling 1854 wieder das Wiesental hinaus nach Basel; ich wurde als Lehrling eingestellt in das Maler- und Anstreichergeschäft Lichtenhan. Basel war zu der Zeit sozusagen die Hauptstadt eines großen Teils des oberen badischen Schwarzwaldes. Aller Augen[21] der armen Menschen, die etwas erwerben wollten, richteten ihre Blicke nach dem reichen Basel. Die Holzwaren der Bernauer gingen zur Basler Messe in hochgeladnen Wagen mit Gelten, Kübeln, Weinbütten, Milchgefäßen, Rübhobeln, Hackbrettern, Holztellern, Koch- und Schöpflöffeln u. dgl. Dort fand der Handel mit dem Elsaß statt – die gedörrten Heidelbeeren gelangten in Basler Handelshäuser. Nach Basel gingen die Maidli in Dienst und in die Fabriken.

Das Wiesental, durch Hebel poetisch verklärt, führt nach Basel. Von Bernau gelangt man ins Wiesental durch das so malerisch schöne Prägtal nach Schönau, aber auch über Todtmoos, Happach und das felsige Romattal. Gar manchmal zog ich mit der Mutter diese Wege und dann an der »Wiese« entlang nach Basel. Eine Schwester der Mutter, »Juliane«, wohnte mit ihrer Familie in Haagen, dort hatten wir ein Absteigequartier.

Nun war ich Maler- und Anstreicherlehrling. Obgleich in Armut aufgewachsen, war ich dennoch verwöhnt. Die Mutter war so besorgt um mich, ich war immer gut und reinlich gekleidet; auch kochte sie viel vernünftiger, also besser, als andre Frauen in gleichen Verhältnissen es oft tun, sie bereitete die Speisen schmackhaft zu und wußte Wechsel in die Nahrung zu bringen, da sie nicht nur am Kaffeetopf und Kartoffeln hing, sondern auch selbstgepflanztes Gemüse und Hülsenfrüchte auf den Tisch brachte. Auch der Vater war gut, nur sehr ernst und wortkarg, so daß ich eigentlich nie ein zutrauliches Verhältnis zu ihm hatte. Ein etwas verweichlichter, schüchterner Lehrbub zwischen sechs bis sieben Gesellen aus aller Herren Ländern, die allerlei Mutwillen bis zur Roheit an sich hatten – das war für mich auch nicht sehr nett. Das Heimweh drückte mich.

Mein Vater war den ganzen Winter über kränklich gewesen, da brachte im August eine Verwandte, die in einer Fabrik in Basel arbeitete, die Nachricht, daß mein Vater sehr krank sei, und daß ich heimkommen solle. Am 30. Juli 1855 machte ich mich auf den Weg und kam nach zwölfstündigem Marsch abends 6 Uhr heim – aber mein Vater war schon um 4 Uhr gestorben.

Ungern ging ich nach der Beerdigung fort von der Mutter, aber ich ging doch.[22]

In Basel war eine ziemlich heftige Choleraepidemie. Ich war in so düsterer Stimmung, daß ich mir den Tod wünschte, und ich verstehe seitdem den Zustand aller Lehrbuben, die davonlaufen.

Es wurde Herbst, da hielt ich es nicht mehr aus – eines Tages beim Mittagessen sagte ich es meinem Meister, daß ich wieder heim wolle. Er nahm es nicht so tragisch, wie ich es mir vorgestellt hatte, und fragte: was ich denn anfangen wolle. In Verlegenheit wußte ich nichts zu sagen, als daß ich so ein Maler werden wolle, wie die, von denen die schönen Bilder im Basler Museum gemalt seien. Da lachte der Meister und meinte, da kannst du lang warten – er ließ mich aber gern ziehen, denn er fand daß ich doch nicht recht zum Anstreicher tauge. Wie froh war ich, daß alles so glatt abgelaufen war. Gleich packte ich meinen Malkittel und Schürze zusammen und ging zur Schlafstelle, mein Kistlein zu packen. Reisegeld hatte ich freilich keines, aber das machte mir wenig Sorge, es ging ja der Heimat zu. Wie ich mit meinem Bündel unter dem Arm nach der Herberge gehe, kommt ein Jude zu mir und fragt: »Hast du was zu handeln?« und da ich ihm sagte, was in dem Bündel sei, gingen wir in einen Torbogen hinein und er gab mir für alles einen Franken. Nun hatte ich auch noch Geld. Als ich am andern Morgen mein Kofferle einem Wälderfuhrmann mitgegeben hatte, war ich aller Sorgen frei und kaufte mir noch zum Reiseproviant ein halbes Pfund Zucker. Ich wußte nichts Besseres als Zucker, auch war der Zucker in Basel billiger als im Badischen.

Mit dem Zucker in der Tasche zog ich zum zweitenmal von Basel ab der Heimat zu, es war an einem nebeligen Herbstmorgen. Da, es war in der Nähe von Lörrach, was kommt da auf der Straße daher – ein klein Weiblein, wahrhaftig meine Mutter – war das eine Freude. Sie kam, um ihren Johannes der Cholera aus den Händen zu reißen, sie hatte auch einen großen Pack gedörrter Heidelbeeren bei sich – als Abwehrmittel. Sie war bei den Verwandten in Haagen übernachtet – deshalb war sie auch am Morgen schon in der Nähe von Basel. Wir kehrten wieder bei den Verwandten ein und gingen erst den andern Tag nach Bernau. So neben der Mutter her war der Weg durch das Wiesental gar schön und ich fühlte mich sicherer, als wenn ich allein den Weg gehen müßte. Ich will es nur gestehen, ich hatte eine besondere[23] Angst vor den Hunden, besonders einer schien es sehr auf mich abgesehen zu haben, ich ging immer sehr vorsichtig am Haus vorbei.

Quelle:
Thoma, Hans: Im Winter des Lebens. Aus acht Jahrzehnten gesammelte Erinnerungen, Jena 1919, S. 18-24.
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