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[27] Im Jahre 1859 schickte Oberamtmann Sachs meine heimlichen Naturstudien und anderes nach Karlsruhe. Direktor Wilh. Schirmer sprach sich sehr entschieden dafür aus, daß ich Maler werden und in die Kunstschule eintreten solle. Der Großherzog sagte Unterstützung zu, und einige Gönner in St. Blasien und Bernau ermöglichten es mir, daß ich, für die ersten zwei Monate gesichert, im Oktober 1859 in die Kunstschule eintreten konnte. Ich war 20 Jahre alt. Ungern ging ich von der Mutter und Agathe weg, von der armen Heimat. Erwartungsvoll der Zukunft entgegen.

Es gibt ein im Volkston sprechendes Bild, welches ich früher in manchen Bauernhäusern gesehen habe. In Form einer an- und absteigenden Treppe ist der Lebenslauf des Menschen dargestellt. Auf den Stufen stehen sie geordnet vom 5. bis zum 100. Lebensjahr; folgende Sprüche begleiten sie:


5 Jahre ein Kind – 10 Jahr ein Knabe

20 Jahr ein Jüngling – 30 Jahr ein Mann

40 Jahr wohlgetan – 50 Jahr Stillstand

60 Jahr gehts Alter an – 70 Jahr ein Greis

80 Jahr, nicht mehr weis – 90 Jahr Kinderspott

100 Jahr Gnad von Gott.[27]


Es ist ein Spruch, der knapp und sicher den Lebenslauf bezeichnet, derb und kräftig, so daß er für alle Menschen paßt. So könnte ich mich zu einer übersichtlichen Gliederung dessen was ich schreiben will, ganz wohl an dies Schema halten und aus ihm eine Kapiteleinteilung machen. Ich habe doch jetzt, so nahe am 80. Jahre, die Reihe durchlebt. Dies starre Gefüge paßt für meinen Lebenslauf so wie für alle Menschen. Es ist so unwiderleglich deutlich. Das, was ich bis jetzt geschrieben habe, ließe sich mit Kind und Knabe, die Übergänge von 5 bis 10 und bis 20 zum Jüngling bezeichnen. Die Karlsruher Zeit, von der ich jetzt berichten will, fällt in dies Alter bis gegen das Mannesalter. Der 30jährige, der mit den Lebensmächten sich tapfer auseinandersetzen mußte. Der Kämpfer mit seinen Sorgen und Pflichten, mit Siegen und Niederlagen, wie der Kampf es bringt. 40 Jahr wohlgetan, über 50 Jahr Stillstand, sind für mich die Jahre in Frankfurt, die Tage ruhiger Arbeit, stillen Glückes an der Seite der Lebensgenossin – die Jahre, denen man Stillstand gebieten möchte. Ruhiges Dasein, Sicherheit umgibt uns auf dieser am höchsten in der Mitte stehenden Lebensstufe.

Nun aber es gibt keinen Stillstand, es geht abwärts, mit 60 Jahr gehts Alter an. Schmerzliche Verluste mahnen an die Vergänglichkeit alles irdischen Daseins; der Tod hat die Gattin von der Seite gerissen und einsam, ein Greis, geht's ins 70. Jahr hinüber. Das ist die zweite Karlsruher Zeit, die eine Art von Heimkehr bedeutet, eine Art von Schicksalserfüllung, die man mit den Resten der im Leben gewonnenen Arbeitskraft gewissenhaft zu gestalten sucht. Man meint oft noch das Alter abwehren zu können, das schreitet aber sicher daher. Immer hinfälliger werdend erreicht man im 80. Jahr die Stufe der Vergessenheit, wo man auch seiner Weisheit nicht mehr traut. Wo man nichts mehr wissen will, sich nach dem Ruhen der Vergänglichkeit oder, wenn man lieber sagen will, nach der Ruhe der Ewigkeit sehnt. Bei diesem Kapitel meines Lebens stehe ich jetzt und könnte meinen schriftlichen Lebenslauf schließen. Denn ich möchte doch lieber nicht dem 90. entgegen das Versinken in eine zweite hilflose Kindheit erleben, wo der Kinder Scherz und Spott das erlöschende Leben umflattert. Möge mir der Schluß: 100 Jahr Gnad von Gott – er wirkt wie ein[28] sanfter Lichtstrahl aus den ewigen Gefilden – ohne die letzten Prüfungen im Leben beschieden sein.

Diese bäuerlichen Lebenslaufregeln könnten wohl der Schluß sein von meiner Lebensbeschreibung. Aber nun sind sie mir auch eine Aufmunterung, weiter zu erzählen zur Bekräftigung dieses Spruches. Ich bin doch erst am 20. Jahre und wenn ich so ausführlich weiterschreibe durch die Stufen hindurch, so wird dies ein dickes Buch. Ich bin aber selber neugierig wie weit ich damit noch komme. Denn neugierig ist der Mensch bis ins höchste Alter, weil alle Zukunft ihm verhüllt ist.

Quelle:
Thoma, Hans: Im Winter des Lebens. Aus acht Jahrzehnten gesammelte Erinnerungen, Jena 1919, S. 27-29.
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