Bei Lavater in der Schweiz

[160] Mit großem Verlangen, die Schweiz zu sehen, fuhr ich mit meinem Freunde Waagen diesem Gebirgslande entgegen. Es war gegen die Mitte des Aprils, als wir aus Rom abfuhren. Je näher wir den Gebirgen kamen, desto mehr Regen hatten wir; das Wasser schoß von den Anhöhen in die Hohlwege, so daß wir oft mehr in einem reißenden Strome fuhren als auf einem Fahrwege. Am schlimmsten erging es uns in der Nähe von Como. Ein herabstürzender Bergstrom durchschnitt den Weg; das Vorderpferd fing schon an zu schwimmen, und der Wagen schwankte, doch bald hatten die Pferde wieder Grund, und es ging bergan. Kaum aber waren wir aus dem Wasser, da brach ein Hinterrad, und der Wagen stürzte auf die Seite; wäre es einige Minuten früher gebrochen, so waren wir verloren. Wir befestigten nun Bäume unter dem Wagen und ließen uns fortschleifen. So kamen wir in Mendrisio an, wo die gutmütigen Wirtsleute ein großes Feuer anzündeten, um uns und unsere Sachen daran zu trocknen, und alles taten, um uns wieder in den Stand zu setzen, daß wir den anderen Morgen weiterreisen konnten. Von diesem Orte bis an den Luganer See hat man nicht weit zu fahren. Der See gewährt mit seinem Ufer einen sonderbaren Anblick, er erscheint wie Wasser, das in einem großen Becken steht. Die hohen Berge umher bilden den Rand; am Fuße der Gebirge liegen Dörfer, welche mit ihren Häusern wie Miniaturgemälde aussehen. Die Linienperspektive ist es,[161] welche sie klein macht; denn da die Luftperspektive fehlt und der Himmel hier eine reinere Klarheit ohne Dunst besitzt, so rücken die Gegenstände näher heran, als es wirklich ist. Wir fuhren an dem einen Ufer des Sees und sahen die Gegenstände an dem anderen mit der größten Deutlichkeit. Dies erschien uns um so merkwürdiger, da wir eben erst aus Italien kamen, wo die Ferne fast immer in duftigem Nebel liegt, welcher einem nahen Gegenstande das Ansehen einer weiten Entfernung gibt. Hier war es nun umgekehrt, die Ferne schien nahe, aber in dieser Nähe wunderbar klein.

Von Lugano aus nahmen wir Pferde zum Reiten und für unser Gepäck und setzten den anderen Tag unsere Reise durch das Livinertal und über den Gotthard fort. Nahe an der Brücke des Engen Zolls stürzte von den Bergen ein Felsenstück in den Weg, den wir eben gekommen waren, so daß unser Pferdeführer, der etwas zurückgeblieben war, kaum hinüber konnte und weit später ankam als wir. Auf diesem Wege hat man nicht Augen genug, um die wundersamen Schönheiten der Natur zu genießen, welche sich hier in der herrlichsten Mannigfaltigkeit darbieten – Höhen, Täler, dunkle Waldungen, Abgründe, steile Bergspitzen, Ströme und Berggewässer, die von den Höhen herunterschäumen! Wir übernachteten am Fuße des Gotthards, stiegen am folgenden Morgen bergan und frühstückten bei dem fröhlichen Einsiedler, der uns trefflich bewirtete und mit gutem Weine stärkte. Es war gerade der 1. Mai des Jahres 1781, und die Sonne wirkte so kräftig, wie sie es lange Zeit nicht getan hatte. Der schöne Tag erwärmte den ganzen Luftkreis und verursachte, daß sich der Schnee von den abhängigen Bergen löste und in Lawinen herunterfiel. Wir hatten das Vergnügen, wiewohl mit einiger Angst, von allen Seiten der Berge ungeheure Schneelasten herunterstäuben zu sehen. Durch die laue Luft nämlich fängt der Schnee über dem erwärmten Boden an einzusinken. Nun kann die geringste[162] Ursache, ein Ton, ein leichtes Geräusch, oft nur der Flügelschlag eines Vogels, die locker hängende Masse auf einmal in Bewegung setzen. Sie rollt nicht, sie schiebt, gleitet und fährt herunter, während der schwer herabhangende Schnee von oben in die Tiefe drängt, mit sich fortreißend, was er in seiner Bahn antrifft, dicke Baumstämme, Felsen, Häuser, Dörfer. Die Luft umher erschallt, und unten im Tale gibt es ein dumpfes Getöse, und wie ein Dampf steigt es in die Höhe über dem Sturze.

Auf dem Wege über den Gotthard kommt man durch die Felsengrotte an die Teufelsbrücke, die sich von einem Felsen zum anderen in einem Bogen hinübersprengt. Man blickt mit Schauder auf den tiefen, dunklen Abgrund, in welchem das Wasser von Fels zu Fels zu Schaume gepeitscht wird! Gewöhnlich preßt sich hier ein starker Wind zwischen den hohen Felsenwänden hindurch, dessen gewaltiger Andrang den Wanderer von der Brücke hinabzustürzen droht. Wir stiegen auch ab und ließen unsere Pferde hinüberführen. Man reitet von hier nun immer an der Felsenwand hin. Große Massen haben sich hin und wieder losgerissen, und kleinere sind beim Hinunterstürzen nachgerollt, so daß oft eine Schlucht tief in den Berg hineingerissen ist, wo die gerollten Steine wie der Strom eines Wasserfalls hinunterliegen. Abends kamen wir in ein Wirtshaus, wo Bauern und Bauernmädchen, die ihre Kühe auf die Alpen brachten, übernachten wollten. Sie füllten beinahe das Haus von unten bis oben. Die meisten waren gerade mit dem Abendbrot beschäftigt. Einer hatte einen ziemlich großen Kessel mit Milch angefüllt und einen Laib Brot unter dem Arme. Er pflanzte sich vor den Milchkessel, brockte sein Brot hinein, und mit seinem krummen, hölzernen Löffel verzehrte er seine Milch mit der innigsten Behaglichkeit. Nachher bezahlte ich den Branntwein für sie und sagte, ich möchte sie gern einmal tanzen sehen. Die Mädchen waren gleich dazu bereit; sie machten aber mit[163] ihren schweren, hölzernen Schuhen ein so heilloses Geklapper, daß ich froh war, als sie wieder aufhörten. Dann sangen sie den Kuhreigen. Nachher kamen wir durch ein Dorf, wo viele Knaben versammelt waren, die nach Schweizer Volkssitte mit Armbrüsten nach der Scheibe schossen.

In Uri gingen wir zu Schiffe, um uns nach Schwyz bringen zu lassen. Das Schiff war voll von Reisenden aus verschiedenen Ländern und Gegenden. Die Unterhaltung war lebhaft, besonders von den Fahrten über diesen See, welche durch die verschiedenen Schlagwinde oft sehr gefährlich werden. Diese streichen aus den Schluchten der Berge hervor, bald in dieser Richtung, bald in jener, stoßen heftig gegeneinander, rühren das Gewässer im Sturme auf und werfen die Schiffe oft an Felsenwände, wo es unmöglich ist, auszusteigen. So erzählte ein Pilgrim, daß bei einer früheren Pilgerreise aus Italien auf diesem See sein Schiff nahe dabei gewesen, im heftigen Sturme unterzugehen. Bei dem ungestümen Toben hätten sie nirgends einen Platz zum Landen finden können; endlich aber wären sie in die flache Vertiefung eines Felsens geflüchtet, wo sie aber fast noch mehr von der Kälte als vom Hunger gelitten hätten, so daß aus Mangel an Holz ein Reisender sogar sein spanisches Rohr verbrannt habe, um sich nur auf eine kümmerliche Weise zu erwärmen. Durch den Wind sei unaufhörlich Regen und Schneegestöber in die Höhle getrieben, und nur die Güte der Vorsehung habe sie endlich aus einem sichtlich nahen Tode errettet. »Das«, sagte er, »war meine erste Reise nach Italien, nun komme ich von meiner zweiten zurück, und kein Mensch soll mich bereden, die dritte zu machen! Unsägliche Leiden hab ich erduldet, unbeschreibliches Elend der Menschen mit ertragen und viele Pilgrime jämmerlich umkommen sehen.« Der Mensch war aus Brabant und hatte für einen anderen die Reise nach Loretto und nach Rom zur Santa Porta gemacht. Er verwünschte den Pilgerstand als das elendeste Leben auf der Welt.[164]

Während der Fahrt zeigte man uns die berühmte Stelle, wo Wilhelm Tell aus dem Schiffe gesprungen und der Gefangenschaft des Landvogts entgangen war; dann auch den Quell im Rütli, wo die drei Lande sich den Eid schwuren, das Vaterland zu retten. In Brunnen stiegen wir aus und setzten unseren Weg über Schwyz fort nach Zürich. Mein guter Freund Waagen, der mich bis jetzt auf meiner Reise aus Italien begleitet hatte, trennte sich nun von mir; ich blieb in Zürich, und er ging nach Kassel zurück. Ich begleitete ihn eine gute Strecke zu Fuß, und als ich umkehren mußte, umarmten wir uns noch einmal recht herzlich zum traurigen Abschiede. Lange blieb ich noch stehen und sah ihm nach, dem edlen Cherusker, wie er ernsthaft von mir abgewandt dahinschritt. Sein gesenktes Haupt zeigte die Betrübnis seiner Seele. Und als er dahinging den Hügel hinunter, welcher ihn immer mehr meinem Auge entzog, so daß ich nur noch Schultern und Haupt erblickte, endlich der Erdhügel ihn ganz deckte und mir der Gedanke kam, wie er so da vertieft in die Erde hinein und immer mehr und mehr verschwindet, bis ihn die Erde ganz verschlingt, da überfiel mich – so den Freund allmählich und endlich ganz verlieren zu müssen – eine Wehmut, die ich damals kaum zu ertragen vermochte und jetzt nicht mit Worten beschreiben kann.

Kaum hatte ich mich umgekleidet, so ging ich zu Lavater. Dieser Menschenfreund empfing mich sehr liebreich; von dem ersten Augenblick an waren wir Freunde und einander zugetan. Sein heller Geist leuchtete sprechend aus ihm hervor und ebenso sein gutes Herz, welches er jedem offen entgegentrug. Auf seiner Stirn glaubte ich den Ausdruck seines Gemütes zu lesen: Ich bin dein, wenn du mich unverletzt heilig hältst und mir deine Achtung widmest; sonst ziehe ich mich in die feste Burg meines Inneren zurück. Er bezeigte seine Freude, daß ihn ein Maler besuchte, bedauerte aber zugleich, daß er jetzt keinen Augenblick Zeit[165] habe, mit mir zu sprechen, denn es habe schon in die Kirche geläutet und er müsse auf die Kanzel, gleich nach der Kirche aber wolle er zu mir kommen. Dies geschah denn. Er besah einige Zeichnungen bei mir, und als er hörte, daß ich Porträts malte, freute er sich und bat mich, einige seiner Freunde zu malen. Ich erwiderte, dies sei auch mein Wunsch, und besonders, es unter seiner, eines so großen Menschenkenners Leitung zu tun. Über meine Zeichnungen nach Raffael und nach Antiken hatte er eine außerordentliche Freude, und er schätzte diesen Genuß als eine Gunst des Himmels. »Ja«, sagte er, »ich habe dergleichen Zeichnungen nach Statuen und Raffaels Köpfen nie so gesehen und mir lange einen Maler gewünscht, der für meine Ideen empfänglich wäre.«

Mit dem Vorsatze, ihm zu folgen, fing ich auch meine ersten Porträts an. Man konnte ihm nicht treu und wahr genug zeichnen, er sah alles genauer und schärfer als andere. Meistenteils stimmten wir überein; denn auch ich war und bin der Meinung, ein Porträt soll durchaus dem Urbilde genau nachgezeichnet werden, ohne malerische Wirkung zu beabsichtigen. Es war eine Freude, mit ihm die vielen Porträts zu besehen, die er von den merkwürdigsten Menschen besaß. Man weiß, wie Lavater solche Porträts zu seinen physiognomischen Forschungen benutzte. Über Physiognomie und Charakter kann man sich unmöglich mit Worten deutlich ausdrücken; denn diese sind nicht hinreichend, das zu bestimmen, was man sagen will, und der Leser oder Zuhörer denkt sich es leicht anders, als es der Autor meint. Darum wurde Lavater so mißverstanden, und La Porta ist noch unverständlicher. Hierzu gehört notwendig Zeichnen und Malen, und der Autor muß selbst zeichnen können, denn läßt er es von einem andern zeichnen, so wird es selten das, was er meint. Auch muß sich niemand einfallen lassen, daß er über Menschencharaktere nach dem Äußerlichen urteilen könne, wenn er nicht ein langes und[166] gründliches Studium darüber gemacht hat. Es ist sehr schwer, zu dieser Kenntnis zu gelangen, und man irrt sich leicht, wie die Erfahrung lehrt. Ich habe oft Leute gesehen, die einen Hasenkopf für einen schrecklichen Löwen ansahen!

Lavater hatte mir neben seinem eigenen Hause bei seinem Freunde Pfenninger eine Wohnung bereitet. Am Abend, als ich ins Schlafzimmer geführt wurde, blieben bei dem Kerzenlichte die Fenster von mir unbeachtet. Kaum war ich eingeschlafen, so erwachte ich wieder, denn Lavaters lebhafter Geist regte mich auf. Beim Abendessen war viel von den alten Freiheitsmännern der Schweizer gesprochen, und kurz vorher hatte ich Tells Kapelle und die Stelle besucht, wo einst die Helden den Bund beschworen. So war meine Phantasie voll von dem Heldensinne und der Kraft dieses merkwürdigen Gebirgsvolkes. Wie man nun gewöhnlich, wenn man im Bette liegt, ohne schlafen zu können, die Augen nach dem Hellen wendet, so blickte auch ich nach den Fenstern, in denen ich menschliche Figuren zu sehen glaubte. Ich dachte, meine erhitzte Phantasie spiegele mir diese Bilder in dem Dunkel vor. Nach und nach aber begann der Tag zu grauen, und ich sah auf den Fensterscheiben die Schweizer Heldentaten gemalt, die mir zum Teil bekannt waren. In diesem Hause waren vordem die Bürgergilden zusammengekommen, und aus der Zeit stammten die Fenster. Diese Bilder paßten auch sehr gut in ein Zimmer, wo der Bürgerrat sich versammelte, indem so die edlen Taten der Voreltern immer vor Augen waren. Die Familienwappen der edlen Geschlechter waren an den Fenstern eines anderen Zimmers.

Lavater war von dem schönen Gefühle beseelt, die Menschen durch Liebe zu vereinen. Mit rastlosem Streben und unermüdeter Tätigkeit arbeitete er soviel er konnte, sich und andere nach der Vorschrift des versöhnenden Menschenbeglückers zu bilden, der das Heil auf die Erde[167] brachte, der die Menschen die Wahrheit lehrte, daß ein jeder, auch der Niedrigste, einen Himmel in sich habe, der mehr sei als Gold und Silber und die Schätze der Welt. Stets war er für andere bemüht; er suchte jedem Notleidenden zu helfen, jedem Armen etwas zu geben, suchte jeden zu erfreuen und war unerschöpflich, Geschenke zu ersinnen und sie auf eine passende Art auszuteilen. Dem einen gab er Geld, dem anderen Speise, seinen eigenen Rock einem Dritten, oder ein Buch, einen Spruch, eine Lehre, einen guten Rat; niemanden entließ er ohne ein Geschenk, bestand es auch nur in einer freundlichen, liebreichen Aufnahme, in wenigen belehrenden, tröstenden Worten, wo er nicht anders helfen konnte. Es war eine Freude, diesen regsamen Geist zu beobachten; kein Augenblick ging ihm unbenutzt verloren! Schon seine Pfarrstelle gab ihm viel zu tun; aber das war das wenigste, denn aus der ganzen Stadt und der umliegenden Gegend legte jeder die Geheimnisse seines Herzens und seine häuslichen Angelegenheiten in Lavaters Hände. Er war der Beruhiger der Gewissen, der Vereiniger entzweiter Familien, der Beglücker, der friedenbringende Tröster vieler Leidenden.

Es ist nicht zu begreifen, wo der Mann nur die Summen hernahm, um seinen unzähligen Patchen etwas zu geben. Er schenkte ihnen nicht nur bei der Taufe, sondern sie wurden auch von Zeit zu Zeit zu ihm gebracht und nie ohne ein kleines Geschenk entlassen. Wenn er über die Straße ging, wurde er von Menschen aus allen Ständen als Gevatter begrüßt und auch wohl mit wunderlichen Bitten angegangen, wie denn einst ein geringer Mann zu ihm sagte: »Herr Gevatter Lavater, seid doch so gut und macht mir ein Gedichtchen auf die Hochzeit meiner Tochter; die am Sonntage ist; es muß aber so sein, daß es gesungen werden und ich am Schlusse ein Feuerrohr dabei abschießen kann.« – Seine Bekanntschaft war über die ganze gebildete Welt ausgebreitet, und es läßt sich denken, wie sehr er bei[168] seiner menschenfreundlichen Gesinnung und Handlungsweise mit Ansuchen und Begehren, mit Bitten und Empfehlungsschreiben überhäuft wurde. Schon die Beantwortung der Briefe, die in ganzen Paketen an ihn kamen, erforderte sehr viele Zeit. Dazu rechne man noch die täglichen Besuche von Menschen aus allen Ständen, aus den fernsten Ländern; Kaiser, Könige, Fürsten, Grafen und Handwerksburschen kamen zu ihm. Jeden empfing er mit Freundlichkeit.

Als er in Bremen einzog, wo er zum Prediger gewählt werden sollte, fragte der wachthabende Offizier seinen Reisegefährten, der neben ihm saß, nach Stand und Namen, zu ihm aber sagte er: »Sie kenne ich an der langen Nase, Sie sind Lavater, fahren Sie nur weiter!« Man hatte allenthalben Lavaters Porträt. Von da aus verbreitete sich die Nachricht, daß Lavater angekommen sei, und in kurzer Zeit versammelten sich so viele Menschen auf den Straßen, um ihn zu sehen, daß der Wagen nicht durchkommen konnte. Als er dort predigte, war der Zudrang der Menschen so groß, daß die Kirche sie nicht alle fassen konnte und viele ihr Ohr draußen an die Mauer der Kirche legten, um nur seine Stimme zu hören. Da er in Bremen durchaus keine Geschenke annehmen wollte, so schickte man ihm von dort aus ein silbernes Teeservice für seine Frau, welches er aber zurücksandte bis auf ein einziges Stück, welches er zum Andenken behielt. – Ein Freund Lavaters hörte einst, daß dieser von ihm gesagt habe, er hätte keinen Charakter. Um nun Lavater wieder herunterzusetzen, sagte er: »Lavater ist ein christlicher Prediger; ich will nicht so unbarmherzig sein und ihm einen Charakter absprechen, sondern ihm noch lieber einige zugeben und sagen, er hat tausend Charaktere.« Hierdurch glaubte er, ihn sehr heruntergesetzt zu haben; denn ein Mensch, der tausend Charaktere hat, ist charakterlos. Aber hierin eben hat er ihn recht getroffen. Denn Lavater hatte das Vermögen, wenn er auch mit tausend Menschen sprach, den Charakter jedes einzelnen[169] schnell zu erkennen, auf die feinste Art den fremden Sinn mit dem seinigen in Einklang zu versetzen und durch die Überlegenheit seines edlen, freien Geistes auch den Niedrigen zu höheren Ideen und Ansichten zu erheben. Ein solcher Mensch, der den Kleinen mit dem Großen verbindet, den Armen an den Reichen knüpft, den angehenden Künstler, den geschickten Handwerker erkennt und achtet, ihm Raum und Gelegenheit gibt, wo er seinen Wert äußern, seine Brauchbarkeit entwickeln kann, ein solcher Mann ist der menschlichen Gesellschaft von großem Werte. Besonders kräftig aber ist sein Einfluß auf seine näheren Umgebungen, denn wo ein Geist sich zu solcher Reinheit und Freiheit erhebt, da scheut sich der Böse, seinen feindlichen Willen zu äußern, und manches Unheil unterbleibt schon, weil man wenigstens einen guten Schein zu erhalten sucht. Dennoch vergaß dieser große Menschenkenner, vor dessen Blicke das Göttliche und Teuflische in jedem Menschen offen lag, daß in Zeiten, wo alle zügellosen Leidenschaften aufgeregt sind, der Freche, Schamlose ohne Scheu seinen Willen ausführt und den für nichts hält, der andere schützt. Denn bei der Einnahme von Zürich drängte ihn Menschenliebe aus seinem Hause, um zu sehen, ob er irgendwo helfen oder die aufgeregte Masse besänftigen könne. Aber ein französischer Soldat, der sein Hemd verlangte, versetzte ihm den tödlichen Stich.

Sehr angenehm war es auch, die vielen Freunde kennenzulernen, welche Lavater besuchten. Ich fand, indem er mich mit allen bekannt machte, unter ihnen ausgezeichnete und vortreffliche Menschen, deren Umgang vorteilhaft und unterrichtend auf mich wirkte. Von Lavater eingeführt, ward man angesehen, als ob man mit zur Familie gehörte. Auf diese Weise ward ich in vielen Häusern, bei Vornehmen und Geringen sehr freundlich aufgenommen und lernte da in kurzer Zeit den Volkscharakter, den Biedersinn der Schweizer und ihr häusliches Leben kennen, welches[170] nach altem Brauch die würdige Einfalt der Vätersitte treu bewahrte. Ihre Häuser und Zimmer waren bequem und wohnlich; gepolsterte Ruhebänke und Tapeten sah man da nicht, sondern hölzerne Bänke gingen an den Wänden und um die großen Tische herum. Die ganze Lebensart schien mir patriarchalisch. Die Großeltern wurden als die würdigen Oberhäupter der Familie verehrt und nahmen die obersten Plätze ein; dann folgten der Sohn des Hauses und die Schwiegertochter, seine Gattin, dann dessen ältester Sohn und so die Kinder nach der Reihe. Denn auch diesen war ihr Rang eingeräumt, und die Knaben wurden »Herr« genannt. Diener und Mägde rechnete man mit zum Hause, und bei vielen aßen sie mit am Tische der Herrschaft. Wenigstens mußten sie zugegen sein, wenn vor und nach dem Essen gebetet wurde. Der Großvater hub das Gebet an, dann die Großmutter, darauf der Sohn, die junge Frau, das älteste Kind und so die Reihe hinunter bis zu den Knechten und Mägden. Die Köchin, welche zuletzt hereingerufen ward, wenn alle schon um den Tisch standen, war gewöhnlich mit ihrem Gebete am ersten fertig, als ob sie fürchtete, daß während des Betens der Topf überlaufen oder die Katze ihr etwas entwenden möchte. Die Vornehmeren und Gebildeten aber beobachteten diese alten Gebräuche nicht so streng und waren mehr von den Dienstboten gesondert. Sie hatten in ihrem Hauswesen zwar eine einfache, aber edle und gefällige Einrichtung, und ihr Betragen war offen, freundschaftlich, bieder, frei und gerade. Mit gutmütigem Handschlag und Willkommen ward ich überall empfangen, und ich war ebenso gern bei den Geringen wie bei den Reichen.

Strenge wurde auch auf Sitte und Recht gehalten. In einem Dorfe am Züricher See war einst ein Mädchen nach dreiwöchiger Krankheit zum ersten Male wieder in die Kirche gegangen. Im Herausgehen sagte ein Weib zu einem anderen: »Unserer gepriesenen keuschen Jungfrau sitzt die[171] Krankheit noch auf dem blassen Gesichte. Man kann es doch nicht verstecken, wenn man auch noch so heimlich ein liederliches Leben treibt!« Das Mädchen kam weinend nach Hause und saß da im stillen Kummer. Als die Eltern aber in sie drangen und die Ursache erfuhren, verklagten sie die Verleumderin in Zürich. Diese wurde, nachdem Zeugen die Aussage bestätigt hatten, am anderen Sonntage vor der Kirche an einen Schandpfahl gebunden, es wurde ihr ein Papier auf die Brust geheftet, worauf ihre Lüge geschrieben stand, und außerdem mußte sie noch der Jungfrau und deren Eltern Abbitte tun.

Vorzüglich viel Freude und Freundschaft genoß ich bei dem Herrn Bürgermeister Kilschberger auf seinem Landgute, dem schönsten Gartenhause am Züricher See. Hier kehrte auch meine Gesundheit zurück, und ich war vollkommen wieder derselbe, der ich vor meinem Eintritt in Italien gewesen war. Die warme Freundschaft, deren mich diese gutherzigen Menschen würdigten, belebte meinen Geist, mein Blut floß wieder fröhlicher; auch der beständige Husten, woran ich allein noch litt, verlor sich durch den Gebrauch des Brunnens, den sie mir regelmäßig selbst einschenkten. So verließ mich endlich ganz der Trübsinn, welcher meinen Geist in Rom so schwer niederdrückte, so daß ich mich sogar heiter und lebenslustig fühlte. – Ernst und Scherz wohnten in Kilschbergers Hause lieblich beisammen. Oft erfreuten wir uns der lustigsten Spiele, wobei Laune und Witz in Bewegung gesetzt wurden. Zeit und Gedanken tötendes Kartenspiel war aufs strengste verbannt. – Der ehrwürdige Hausvater und der geistige Lavater nahmen oft teil an diesen Unterhaltungen, und sosehr auch der letztere in der Erfindung witziger Gedanken und in den feinen Wendungen ausgesuchter Wortspiele Meister war, so gewann er doch einigen den Vorrang nicht ab. Es waren wahrhaft selige Tage. Zuweilen wurden auch nach Schweizersitte Leibesübungen vorgenommen. Sowenig ich darin[172] geübt war, so fühlte ich mich doch gereizt, einige Versuche zu machen, und ward inne, daß ich mehr Stärke besaß, als ich geglaubt hatte; ich konnte zwar nicht bezwingen, ward aber auch nicht bezwungen.

Eines Tages ward ich in Zürich zu einem Mittagsmahle der Schützengesellschaft in dem Gildenhause eingeladen, eine Auszeichnung, die nur selten einem Fremden widerfährt. Auch hatte ich die Ehre, in eine ihrer Gilden aufgenommen zu werden: ich wurde den Malern zugesellt. Werkmiller war Obmann der Malergilde und der Idyllendichter Geßner Obmann der Schustergilde. Sie füllten einen großen silbernen, vergoldeten Becher mit Wein, der von Hand zu Hand die Tafel herumging. Als die Reihe an mich kam, überreichten sie mir ein Diplom, unterzeichnet und besiegelt vom Obmann und der löblichen Gesellschaft der Maler in Zürich, welche sich »einhellig dahin verstanden, daß man ohne Rücksicht auf die wohlhergebrachten Privilegien und Freiheiten der löblichen Gesellschaft den gedachten Herrn ... in Betrachtung seiner vortrefflichen Kunst und seines liebenswürdigen Charakters wohl gestatten möge, von dato an gerechnet, auf seinen geäußerten Wunsch ein Jahr seine Kunst frei und für sich selbst zu treiben und zu benutzen«. Auch die Bauern hatten nach einem alten Rechte den Zutritt zu dieser Schützengesellschaft, weil einer von ihnen durch seine Tapferkeit einst viel dazu beigetragen hatte, daß eine Schlacht gewonnen war. Sein Schwert ist noch im Besitz seiner Nachkommen und wird bei dieser Gelegenheit mitgebracht; sie hängen es an die Wand, wo ihr Sitz ist, und legen dann ihre Oberkleider ab, um bequem essen und trinken zu können. Nach dem Mahle wurden verschiedene Spiele vorgenommen. Auch ließen die Schweizer von jeher gern geachtete Fremde an ihren Landesgebräuchen und Übungen teilnehmen. So ward einst ein Graf zum Armbrustschießen von ihnen eingeladen, um ihm zu zeigen, daß man mit einer Armbrust ebensoweit schießen[173] könne als mit der Kugelbüchse. Der Graf bezeigte sein Wohlgefallen an dieser Art zu schießen. Man reichte ihm eine Armbrust; sie war bereits gespannt, was durch eine Winde geschieht, und der Bolzen war vorgelegt. Der Graf, gewohnt, mit einer Kugelbüchse zu schießen, nahm sich nicht in acht und legte die Hand vor die Schnur, die den Bolzen ausschnellte, und so wurde ihm der Daumen und alle Sehnen aus dem Arme gerissen. Noch jetzt sprachen sie von diesem unglücklichen Vorfalle mit vieler Teilnahme.

Anfangs glaubte ich nicht, so lange in Zürich zu bleiben. Außer Lavater war mein Lieblingsumgang mit Bodmer. Die Art unserer Bekanntschaft war sonderbar. Als ich Lavaters Porträt und einige andere angefangen hatte, sagte Lavater zu mir: »Sie müssen mir den Gefallen tun und den alten Bodmer malen.« – »Wer ist das?« fragte ich. »Man nennt ihn«, sagte Lavater, »den Altvater der deutschen Gelehrten und Dichter; er ist von ganz Zürich geehrt und geschätzt, und man würde es mir übelnehmen, wenn ich mich malen ließe, und Bodmers Porträt würde nicht von Ihnen gemalt.« – »Was ist denn sein Hauptverdienst?« fragte ich. »Gelehrte Kritik«, sagte er. Dies Wort verwechselte ich mit dem Worte »bekritteln«. – »Nein«, erwiderte ich, »den Menschen verlange ich nicht einmal zu sehen, viel weniger zu malen! Denn ich hasse die Menschen, welche anderer Fehler aufsuchen und dann öffentlich zur Schau aufstellen.« Ich hatte auch schon gehört von einer Klasse Gelehrter in Zürich, welche Lavaters Gegner wären, und glaubte, jener Bodmer sei der Hauptanführer, und Lavater habe seine Bitte nur deshalb geäußert, um seine Beleidiger dadurch zu beschämen. Ich schlug es also rund ab. Er aber bestand darauf, brachte mir eine richtigere Meinung von dem Manne bei, und ich war schon um so bereitwilliger, ihn zu besuchen, da ich hörte, daß er ein Freund von Homer sei, den er sogar in deutsche Verse übersetzt habe. »Sie müssen ihn aber während des Gesprächs malen, ohne ihn zu belästigen«,[174] fuhr Lavater fort, »denn zum Sitzen wird er sich nicht bequemen, und wenn er die Zurüstung von Staffelei und Malkasten sähe, so würde er es nicht einmal erlauben.« Ich wandte ihm dagegen ein, daß ich nur Tadel verdienen würde, wenn ich das Porträt eines Mannes so im Fluge und gleichsam auf den Raub malen wollte. »Sie brauchen ihn nur zu sehen«, versetzte Lavater, »er hat ein sehr bedeutsames Gesicht und ist so leicht zu treffen, daß ich selbst, obgleich ich nur wenig zeichnen kann, ihn dennoch mit den Händen auf dem Rücken und mit geschlossenen Augen ähnlich machen wollte.« – »Nun«, erwiderte ich, »das tun Sie, damit ich sehe, wie leicht es ist.« – »Ja, das will ich«, sagte Lavater, ergriff ein Buch, legte ein Blatt Papier darauf, hielt das Buch mit dem Papier auf den Rücken und zeichnete und sagte dann: »Da sehen Sie! So sieht er aus!« Ich erkannte in der Zeichnung wirklich einen alten, bedeutenden Kopf und willigte dann endlich ein. – Den folgenden Tag, nachmittags, gingen wir zu Bodmer. Wir stiegen den Berg hinauf zu seiner Wohnung und ließen den Diener, welcher die Leinwand und den Farbenkasten trug, auf dem Hausflur warten.

Ich hatte mir den Bodmer vorgestellt als einen dicken, satirischen Mann. Als wir nun die ausgetretenen Stufen hinauf waren und die Tür aufging, sah ich einen würdigen Greis mit langen weißen Augenwimpern, unter denen blitzende Augen hervorleuchteten, in der Mitte des Zimmers stehen. Er empfing Lavater mit vieler Freundlichkeit, und als dieser mich als einen jungen Maler aus Rom vorstellte, der sein Porträt zu haben wünsche, so erwiderte er: »Ja, mit Freuden will ich dazu sitzen; so muß denn von dem Tiber her ein Maler an die Ufer der Limmat kommen, um den alten, bald hinscheidenden Bodmer zu malen, damit sein Bild den Freunden zum Angedenken bleibe! Ich will recht gern dazu sitzen, Sie können nur den Tag bestimmen.« Lavater sagte, wenn es anginge, so wünschten wir es jetzt; auch sei[175] schon alles dazu vorbereitet. »Nun, auch das, wenn Sie wollen«, antwortete Bodmer, »wie und wo soll ich mich denn setzen?« Die Farben und Leinwand wurden mir hereingegeben; ich stellte ihm einen Stuhl, so wie das Licht vorteilhaft zu fallen schien, setzte mich auf eine Bank unter dem Fenster, nahm die Leinwand auf die Knie, hielt sie mit der Hand, worin ich die Palette hatte, und fing nun an zu malen und während des Malens von Homer zu sprechen. Wie er hörte, daß ich die schönen Stellen so gut hersagen konnte, wurde der Alte ganz lebhaft und sein Auge voll Feuer. Ich suchte die lebhaften Züge zu erhaschen, indem ich nun auch anfing, malerische Stellen zu rezitieren. Während dieser Unterhaltung brachte ein Bedienter ein Journal. Lavater, der sich Bodmer gegenübergesetzt hatte und mit ihm redete, damit dieser ihn ansähe und den Kopf so hielte, wie ich es bedurfte, griff nach dem Journal, blätterte es durch und sagte: »Hier sind Briefe von einem jungen Maler aus Rom; da wir doch eben auch beim Malen sind, so paßt es wohl, wenn ich etwas daraus vorlese.« Er fing an; beim dritten Brief unterbrach ich ihn: »Das ist nichts Neues, ich habe es schon gelesen.« Sie erwiderten aber beide, das könne nicht sein, denn die Blätter kämen eben erst aus der Presse, und Bodmer sei gewiß der erste in Zürich, der dieses Exemplar erhalte. Als ich nun erwiderte, die Briefe wären mir so bekannt, daß ich sie durchaus müßte gelesen haben, meinten sie, ich irre. Lavater las weiter, und fast jedes Wort kam mir erinnerlich vor. Ich bat ihn, den ersten Brief noch einmal anzufangen. Er tat es, und da kam die Anrede: »Mein lieber Jakob!« Nun erst ward ich inne, daß dies meine eigenen Briefe waren, die ich von Rom aus an meinen Bruder Jakob in Kassel geschrieben hatte. Späterhin erfuhr ich, daß der Kriegsrat Merck in Darmstadt selbige bei meinem Bruder gefunden und sie im »Teutschen Merkur« hatte abdrucken lassen. Wir wunderten uns alle drei über dieses sonderbare Zusammentreffen,[176] ich aber am meisten, da ich die Briefe loben hörte, obgleich ich mich nicht einmal ohne Fehler in der Rechtschreibung ausdrücken konnte. Als ich mich hierüber beklagte, sagten beide: »Das tut gar nichts! Die Ausdrücke sind sehr gut; man sieht, daß Ihnen die Sache klar ist, und versteht deutlich, was Sie sagen wollen, und darauf kommt es beim Schreiben an.« Nun stand ich auf und sagte: »Ich bin fertig.« Drei Viertelstunden hatte ich zum Malen gebraucht. Beide waren im höchsten Grade verwundert, und Lavater sagte, es müsse weiter an dem Bilde kein Strich gemacht werden; denn diese genialisch aufgefaßte Darstellung, wozu mich der alte Dichter begeistert habe, würde nur dadurch verlieren. Bodmer gewann mich von dem Augenblicke an lieb und ich ihn über alle Maßen! Er ging in sein Arbeitszimmer, holte seine aus dem Griechischen übersetzten Werke und schenkte sie mir zum Andenken dieses Tages. Unter diesen war auch der Apollonius Rhodius. Von der Urschrift sprach er viel und äußerte unter anderem, der Apollonius sei ihm viel lieber als der Virgil. Am anderen Morgen schickte er mir noch ein Gedicht, worin er wiederholt seine Freude zu erkennen gab; es war geschrieben am 17. September 1781.

Ich besuchte ihn nun sehr oft, saß bei ihm auf der Bank und sah aus dem Fenster über den Züricher See hin, auf die pfeilschnell fließende Limmat und die hohen Gebirge, aus eben dem Fenster, vor welchem Kleist, Wieland, Klopstock, Goethe und Stolberg gesessen hatten und die schöne Gegend gesehen. Schon der Gedanke begeisterte, und dazu kam nun noch der alte begeisterte Dichter, der mit einem jugendlichen Feuer von den homerischen Göttern und Helden sprach, so daß man unter ihnen zu wandeln glaubte. Er schenkte mir auch ein Werk, welches er über die Vergleiche und Bilder des Homer geschrieben hatte, und dies war die Hauptveranlassung, daß ich die homerischen Vergleiche und vorzüglichsten Begebenheiten seiner Gesänge[177] zeichnete. Diese Entwürfe machten dem alten Bodmer viel Freude, weit mehr aber noch ein Bild vom »Götz von Berlichingen, wie er den Weislingen gefangen hat«. Ich hatte dasselbe für den Herzog von Weimar bestimmt. Als Bodmer dieses Bild sah, rief er: »Du stellst mir ihn vor die Augen, den alten treuherzigen, ehrenfesten Berlichingen, wie ich ihn noch nie gesehen, und Thuiskons Söhne schweben vor meiner Seele! Lange habe ich Germaniens Dichter ermahnt, die Taten ihrer Helden zu singen, den gewaltigen Kaiser Karl, den Löwen von Braunschweig, den Helden Bernhard von Weimar; aber sie haben meinen Aufruf nicht befolgt!« Er sprach viel und mit Eifer darüber, man solle der Nation die Taten edler und großer deutscher Männer in Werken der Dichter und Maler als Heiligtümer aufstellen; dies bilde den Charakter des Volkes, erwecke und nähre die Vaterlandsliebe und errege den Geist und die Kraft zu edler Nacheiferung, und er nannte bei dieser Gelegenheit viele, welche es verdienten, von talentvollen deutschen Künstlern in würdigen Darstellungen verewigt zu werden. Bald nachher beehrte er mich mit einem Gedichte, worin er diese Gedanken über meinen Götz von Berlichingen ausführlicher darstellte, es war im Juli 1782, und das Gedicht selbst fand ich bald nachher abgedruckt in Joh. Bürklis »Schweizerischer Blumenlese«, im 3. Teile, Zürich 1783. – Ich machte in dieser Zeit, eben dadurch ermuntert, viel skizzierte Entwürfe zu dergleichen Bildern aus der schweizerischen Geschichte und aus der deutschen, unter anderen den »Konradin von Schwaben«.

Mein Bruder Jakob bereitete mir die Freude, mich in Zürich zu besuchen und mir bei meinen Arbeiten zu helfen. Er blieb aber nicht lange. Nachdem er einige Porträts und Köpfe zu seinem Studium gemacht hatte, reiste er zu seinem Freunde Burkhard nach Basel, wo er verschiedene Porträts malte. Ich besuchte ihn dort auch und sah bei der Gelegenheit Holbeins Gemälde auf dem dortigen Rathause.[178]

Um diese Zeit bekam ich einen Brief von meinem Bruder, dem Aufseher der Gemäldesammlung in Kassel, mit einem anderen vom Kriegsrat Merck in Darmstadt, der mir schrieb, wenn ich vom Herzog von Gotha einen Gehalt zum weiteren Studieren annehmen wolle, so habe der Dichter Goethe mir diesen ausgewirkt, und falls ich ihn annähme, sei es des Herzogs Wille, daß ich nach Rom zurückkehre, um mich da zu vervollkommnen. Wer war froher als ich bei dieser Nachricht! Es war eben die Zeit der Ausstellung auf der Kasseler Akademie. Auch ich schickte dahin einige Porträts von Lavater, Bodmer, Füßli, auch einige von Damen. Meinen Bruder und mich hatte ich in ganzen Figuren ins Kleine gemalt, wir saßen in einem Zimmer, an der Wand hingen die Porträts der besten Männer von Zürich, Lavater, Geßner, Bodmer, Füßli, Hirzel usw., und auf der Staffelei stand ein Bild: »Diogenes, wie er mit einer Laterne am hellen Tage im Gewühle Menschen sucht.« Diese Bilder waren von Kassel aus dem Herzog von Gotha zugeschickt. Zwei davon behielt er, Bodmers Porträt und einen »Krieger im Helm, den Kopf auf die Hand gestützt«, ein Bild, das ich zu meiner Übung gemacht hatte. Die anderen Bilder erhielt ich zurück, bekam auch Reisegeld nach Rom und machte nun alle meine Sachen fertig, um so schnell wie möglich abzureisen.

Quelle:
Tischbein, Heinrich Wilhelm: Aus meinem Leben. Berlin 1956, S. 160-179.
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